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Europa. Ein Gesang
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eBook316 Seiten3 Stunden

Europa. Ein Gesang

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach einem verlorenen Europa segeln vier moderne Argonauten über das Mittelmeer, der Hoffnung entgegen.

Europa hat seine Ursprünge aus den Augen verloren. Um sie wiederzufinden, machen sich vier Gefährten mit einem alten Segelboot auf den Weg in Richtung Orient, dem Duft von Ginster und Senfblüten folgend. Doch bedrohlich lastet der Himmel über dem Mittelmeer, dem nassen Grab für Migranten. Im Hafen von Tyros flüchtet sich ein syrisches Mädchen an Bord, traumatisiert von Zwangsheirat, Krieg, Vergewaltigung. Ihr Name ist Evropa. Ihre Anwesenheit verbindet die Gegenwart mit der fernen Epoche der Mythen, als Zeus selbst in Gestalt eines Stiers die Königstochter über das offene Meer entführte.

Paolo Rumiz' großes modernes Epos über einen Kontinent, der dabei ist, seine Menschlichkeit zu verlieren. Geschrieben im Rhythmus der Wellen, im Gleichklang mit dem Rauschen des Meeres.

"Sturmwind brist auf und die Wellen wachsen, laut fangen die Segel an zu klagen, sich blähen im Wind, während das Bugspriet sich aufbäumt und wieder absinkt in seiner unnachahmlichen Trägheit im Spiel der Wellen."
SpracheDeutsch
HerausgeberFolio Verlag
Erscheinungsdatum26. Sept. 2023
ISBN9783990371435
Europa. Ein Gesang
Autor

Rumiz Paolo

Paolo Rumiz, geboren 1947, lebt in Triest und im slowenischen Karst. Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bucher. Korrespondent aus Krisenregionen, schreibt er seit 1998 Reportagen von seinen Radtouren nach Istanbul, den Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas oder in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte drei Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer.

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    Buchvorschau

    Europa. Ein Gesang - Rumiz Paolo

    PROLOG

    Am Anfang war das Meer

    Lebris war Kapitän der Surprise, die unter französischer Flagge segelte, und er sah in einer glasklaren Oktobernacht ein ziegelsteinrotes Segel, das in der weiten Bucht von Palermo das Meer in zwei Teile schnitt und stark krängend in nordöstlicher Richtung fuhr, dicht am Wind gebrasst.

    Er justierte das Fernglas. Auf der Jacht war niemand zu sehen, stolz und träge glitt sie auf zinkfarbenen Wellen mit zwanzig Knoten bei Gregale dahin im Gegenlicht, schneeweiße Möwenflügel krönten den türkisblauen Himmel.

    Wunderbar weiß war ihre Bugwelle, makelloser Bierschaum auf dem Schnurrbart eines pensionierten preußischen Grenadiers. Ein Segler vom Nordmeer war sie, aus Holz gezimmert vor einem Jahrhundert, wie die Trieren im Seegefecht von Salamis hatte sie auf dem Bug beidseitig ein Auge aufgemalt.

    Gewaltig wirkte das Gaffelsegel dieser prächtigen Jacht, an ihrem Rumpf unter dem Bugspriet waren eigenartige Hörner angebracht.

    An der Saling sah man eine zerfetzte Bluse, gesetzt in Piratenschwarz, achtern eine Flagge mit goldenem Sternenkranz auf blauem Grund.

    Neugierig korrigierte der Franzose seinen Kurs und steuerte das Boot gegen die Wucht der Wellen, sodass er den Wind raumschots hatte und die Fata Morgana kreuzte. Fast wäre es zur Kollision gekommen, doch er schaffte es, einen kurzen Blick auf den Mann mit Hakennase zu werfen, er war in ein Plaid gepackt, seine Haare vom Salz verkrustet, er schien zu schlafen, dann glitt er zügig an ihm vorbei. Er segelte unerschrocken weiter in der Zeit, ohne sich ablenken zu lassen, es schien, als habe die Jacht die Führung übernommen.

    „Weder Meridiane noch Breitengrade zählten noch, nur ein Abgrund, sagte der Franzose, den anderen Booten zugewandt, „ein Verschwinden durch Hinabgleiten in untermeerische Grotten.

    Rasch verlor das Segel, das Kurs auf Neapel hielt, an Umfang, langsam verschwand es im Dunst am Horizont.

    Seitdem wurde das Boot von vielen gesichtet, kurz nur, wie es im Wind lag: in der Nähe von Kreta oder Mallorca, im Ionischen Meer oder vor Marseille.

    Das alte Boot hatte ein verschlanktes abgerundetes Heck, es hinterließ keine Gischt. Nur die gut sichtbare Schleimspur einer Schnecke, einen schlingernden Streifen mondfarbener Bläschen oder die Fährte eines Delfins, wenn es finster war.

    Boote kreuzten ihren Kurs, riefen der Moya einen Gruß zu, und die Namen, auf die sie getauft waren, doch die alte Dame segelte wortlos weiter, den Routen rätselhafter Seekarten aus vergangenen Zeiten folgend.

    Am Anfang war das Meer. Dann wurde das Segelboot erschaffen, um es zu durchfahren.

    Moya, ihr Name war Moya. Von Stapel gegangen in Britanniens See, vor mehr als einem Jahrhundert.

    Ein Heulen kam von den Orkney-Inseln her, als unser Auriga Petros von Weitem sah, wie sie im Nebel die grauen Wellen pflügte. Mit dem Kaufvertrag in der Tasche hat er ihr ein großes Augenpaar auf den Schnabel gemalt nach Art der Griechen, als Abwehr gegen den bösen Blick und die Ungeheuer, die lauern am Meeresgrund.

    Wohlig warm war diese Wiege und einladend dazu, eine Bronzetafel war am äußersten Ende des Baums angebracht, darauf stand ihr Name, eine Mutter war sie, die Schutz bot, sie half Petros den Kurs auszuloten auf dem Meer des Lebens, sie war sein Tor zur Welt der Mythen.

    Alle Manöver an Bord wurden von Hand ausgeführt, ohne Winsch, spartanisch waren die Kojen, da war keine Reling, kein Kühlschrank, nur eine Kombüse. Kein gewöhnlicher Segler war das, er hatte das Dreifache an Fall- und Schotleinen.

    An Bord verdunstete die Zeit, schwerelos, sie löste sich auf und verflüchtigte sich dorthin, wo seit Jahrhunderten alles geschrieben steht, wo die vierte Dimension beginnt.

    Nie war die Moya in einem Hafen aufgetaucht. Ihr Steuermann ankerte in abgelegenen Buchten, weitab von Zollbeamten, Bürokraten und dem ganzen Papierkram. Es war allen ein Rätsel, wo er seinen Proviant fasste: Man hat ihn auf dem offenen Meer fischen gesehen oder Kräuter sammeln an Küsten ferner Inseln bei Nacht.

    Er war Einhandsegler. Damit das Boot nicht luvgierig wurde, befestigte er die Pinne mit einer ihm eigenen Technik an einem Sielbord-Schäkel, wenn er schlief.

    Der Mann wurde schnell zur Legende, dieser Ruhelose mit dem grimmigen Blick.

    Angeblich wurde die gehörnte Jacht das letzte Mal auf Knidos gesichtet, an einer morschen Mole, wo von Schwalbengeschrei geplagt die verlassene Stadt auf einem Felsen thront und Venus seit Jahrhunderten die Vermählung ausrichtet zwischen Asien und Europa.

    Dort habe er ohne Frau Milonga oder Tango getanzt, und mit unglaublicher Leichtigkeit die Schritte gesetzt, sagen die Leute, die Arme um sich selbst geschlungen.

    Diesen Mann kannte ich gut.

    Ich habe mit ihm die Meere durchfahren, bis er allein sein wollte. Mitten in der Nacht löste er die Taue in Kefalonia, daran erinnere ich mich noch lebhaft. Mir kamen die Tränen, er lächelte, der Wind schrieb Worte in sein Haar.

    Petros, Admiral der Seelen, ein jedes deiner Werke war ein Lobgesang! Als du überglücklich das Steuer übernommen hast, glitten die Trieren der Pelasger und Liburner an dir vorüber, sie sangen wohlklingende Lieder für dich.

    Boreas hat tiefe Schneisen gezogen durch mein Herz, damals, das einzige Mal in meinem Leben.

    An den Mond

    Und nun segne diesen Gesang

    Mond des Orients, Mond aus Pappmaché

    Lockvogel in die Abseiten dunkler Hafengassen.

    Erhelle die Passage bis Finis Terrae

    dem Vorgebirge über dem Ozean

    wo das Firmament sich versenkt

    hilf mir, mich an die Stürme zu erinnern

    an die Nächte im Brautkleid, das funkelt

    an die rauchenden Vulkane

    an die Klippen und Felseninseln

    an die Schneefelder auf dem Parnass

    und an meine Zykladen

    aus kosmischer Materie erstandene Inseln

    Herden von Färsen auf Wanderschaft

    unter dem Blick des Stiers, der galoppiert.

    Dies ist eine Geschichte aus Gold und Saphiren

    duftend nach Frauen und nach Jasmin

    Abenteuer, von denen ich erzählen will

    vergessen will ich Trauer und Wehmut

    auslöschen die Sterne Griechenlands

    die stete Sucht nach so viel Schönheit

    die nach Jahren noch mich aufwühlt.

    Pavet haec litusque ablata relictum

    Respicit et dextra cornum tenet, altera dorso

    Imposita est; tremulae sinuantur flamine vestes.

    Ovid, Metamorphosen, 2. Buch, XIX. Kap.

    „Sie zagt; und zurück zum verlassenen Ufer

    Schauet sie. Rechts ein Horn in der Hand, und

    die Linke dem Rücken

    Aufgelehnt; und es flattern, gewölbt vom Winde,

    die Kleider."

    Johann Heinrich Voß: Metamorphosen

    (Verwandlungen), 1798

    BUCH DER BEGEGNUNG

    1.

    Die Seekarten

    Die Nacht war eine Kanaille. Eine jener Nächte ohne einen Hauch von Wind, die mit ihrer Grabesruhe den Schlaf vertreiben, nicht einmal ein Plätschern war da, wenn du dich dabei ertappst, dass du das unaufhörliche Mahlgeräusch der Rankenfüßer unter dem Kielraum hörst. Petros der Grieche hockte im Verschlag, wo der Kartenschrank war, dort schrieb er Seite um Seite voll.

    Er hatte die Petroleumlampe angemacht. Ihr Schein fiel etwas verloren auf das weiße Blatt des Logbuchs, es lag aufgeschlagen vor ihm in dieser frostigen Nacht. Er notierte: „Leuchtturm von Gazipaşa geortet Schlag drei Uhr nachts. Mit dem Schleppnetz einen Langflossenthun gefangen, ein Kilogramm schwer. Route zwei vier null mit Kurs auf Alanya. Zuerst Libeccio mit gewaltigen Böen. Dann Flaute."

    Unter der Laterne sah man seinen riesigen Schattenriss. Sonne, Salz und Wind hatten sein Gesicht zu einer Ikone gemacht, schwarz und faltig. Boreas und Scirocco hatten ihn durch und durch glatt geschliffen, er war schon im Zustand der Erleuchtung. Sein Haar war ein Gestrüpp und die Augen groß, fast wie in Hypnose erstarrt. Gedankenverloren trommelte er mit den Fingern in regelmäßigen Rhythmen auf den Tisch aus Ebenholz; es roch nach Mastixstrauch, weil er Mastix aus Chios kaute, denselben Geruch hatte ich in der Nase als Kind in der Stadt der Winde, wo ich zur Welt kam.

    Dieser harzige Duft hat meine Liebe zum Segeln entflammt. Auf dem Meer habe ich gelernt, die Sterne zu bestimmen und ein Logbuch zu führen voll mit planetarischen Perspektiven.

    Ein Metronom gab es im Weltall, ein kaum vernehmbares Ticken der Sterne, nachts trat es in meinem Quartheft Sturmwinde los, Verse, gefiederte Worte.

    Zu viert waren wir, alle aus einem Grenzland, vier Conquistadores des Unnützen.

    Wir waren ein verschworener Haufen – we few, we happy few, we band of brothers – und ziemlich gute Freunde, die dicht am Wind segelten.

    Zwei Tage lang hatten wir stürmischen Wind, wir lagen erschöpft in den Kojen und atmeten schwer.

    Gruppenbild. Neben dem Kapitän steht Sam, der Franzose, seit einem üblen Unfall hinkt er stark; neben ihm ein Gigant, Ulvi, der Türke, und der hier zu euch spricht.

    Ich war der Älteste dieser seltsamen ans Boot geketteten Mannschaft, ich war der Einzige mit schlohweißem Haar und Bart.

    Grübeleien suchten uns heim in der Nacht, wer genau hinhörte, konnte unsere Seufzer hören.

    Synchron zum Rollen und Stampfen des Boots hatte unser Türke und Paterfamilias sein väterlich-beruhigendes Schnarchen justiert, einen Takt, der einem Trommeln glich, es mischte sich mit dem heiseren Geflüster des Franzosen, webte so einen perfekten Kontrapunkt zu den Seufzern der Bootsbeplankung.

    Unordnung herrschte überall: ein Tontopf mit Basilikum, eine Wassermelone, Flaschen, Schlafsäcke, Bootsfender, Konservendosen, Pullover, Handtücher.

    Ein Gecko verzehrte in aller Stille Stechmücken und orakelte Offenbarungen in Richtung Bullauge.

    Mitte März waren wir mittendrin in den gewaltigen Stürmen der Tagundnachtgleiche. War es windstill, lastete ein finsterer Himmel feindselig über dem Mittelmeer, angsteinflößend und unheimlich. Die Nacht entblößte dunkle Welten, tektonische Verschiebungen, Auftrieb, und der Pelagus brachte eine seiner Nänien zur Aufführung, voller Geheul, Klagen, Anrufungen.

    Das Azurblau Griechenlands dehnte sich über unseren Köpfen ein paar Tage lang, dann verblasste es. Die Prognosen verlautbarten das Unvermeidliche: Zwischen Island und den Azoren begann die Atmosphäre zu bersten und der Ozean nahm die Befestigungen des Westens unter Beschuss und zermahlte sie zu Schutt.

    Die Sonne hatte den Verstand verloren, spielte verrückt:

    Noch nie hätten sie so etwas erlebt, sagten die Leute, dass die Regentropfen zischten, es war wie beim Butterschmelzen, Sonnenuntergänge sah man feuerrot zu Mittag, amaranthfarbene und veilchenblaue Wolken, geformt wie Kolben, Turbane oder Cremeschnitten übereinandergelegt.

    War ich der Herr der Himmelskarten und dort auf geheimen Routen unterwegs zwischen Steinbock, Widder und Zwillingen, dann war der Grieche Hüter der Breiten- und Längengrade zu Wasser und zu Lande.

    Auf dem Tisch fixierte er die Landkarten wie Fischernetze mit einem alten Bleilot.

    Unter dem gelben Licht der Lampe entdeckte man auf dem Pergament verstreut uralte Flecken von Brandy und Kaffee, so tauchten neue Archipele auf und legten sich auf die schon dagewesenen. Anderswo-Orte der Fantasie, alle noch unberührt und zu entdecken. Mit seiner Adlernase überflog der Grieche die Ägäis direkt auf den Wassern und mit einer Bleistiftmine zog er Krallenspuren vom Libanon zum Golf von Syrte.

    Buchten, Kurven, Vulvae, Busen.

    Seit Urzeiten erzeugt die Abstinenz bei Bootsbesatzungen Kartografien der Fleischeslust. Der Grieche liebte es, Landkarten zu liebkosen wie eine Frau, mit demselben Fieber in den Fingern.

    Die Atlanten des al-Ma’mūn hatten es ihm angetan, und das geheimnisvolle „Isolario", eine illustrierte Anleitung für Segler, ihre rätselhafte Topografie voller Sinnlichkeit und Magie, erregte ihn.

    Das Wort „Planet" stieß ihn ab. Die Erde war – bei Gott – nicht wie Mars, versunken in versteinerter Stille. Die Erde war eine Mutter. Das stand außer Diskussion.

    Die kurvigen Formen der Küsten in den Lotsenbüchern konnten verführen wie eine Bauchtänzerin. Er wusste, dass die Geografen der arabischen Welt den Kosmos lasen wie den Körper einer Frau, den Schoß als einen Garten der Köstlichkeiten und die Gebirge von den Alpen bis hin zu den Gipfeln des Karakorum als funkelnden Gürtel, mit dem Himalaja als Spange für den Schleier, der das Paradies verhüllt, den Lohn für die Helden, die reinen Herzens sind.

    Nicht einen Gott, nein, eine Göttin suchten wir, Nachkommen sollte sie tapfer gebären.

    Zu groß war unsere Abscheu vor bärtigen Stammvätern, vor Fahnenappellen, Vaterländern und Helden.

    Im Orient wollten wir auf die Suche gehen, dort, wo der Sonnenwagen am Horizont langsam aufsteigt mit zwei Ochsen im Joch.

    „Asien", das war der Psalmen-Sermon bei Prozessionen, das Murmeln der Torah-Rezitatoren, das Knistern der Weihrauchbrenner, Vergils Verse erzählten von der Gründung Roms, seinem jahrtausendealten Mythos, und genau das nährte die Sehnsucht nach der verlorenen Gerstenmutter, der Göttin der Garben und der Früchte der Äcker.

    Keiner von uns hatte geahnt, dass unserer Fahrt ausgerechnet auf dem Weg Richtung Orient eine unerwartete Kursänderung bevorstand, die uns in die Gegenrichtung führen sollte.

    2.

    Die Frau

    Es war Ende März. Der aufgehende Mond reckte seinen Buckel nach Levante, zum schneebedeckten Libanongebirge hin, überall war Senfblütenduft, und satt vom Segeln gingen wir zu Tisch im schönen Tyros mit seinen mächtigen Festungsmauern.

    Unsere Köpfe überragte ein weißer Grat, ein riesengroßer Walrücken. Auf einer Seite sah man von dort aus das violette Meer, Segelboote unter steifem Wind, und auf der anderen ockergelbe Steinhalden unter der glühenden Sonne des Ostens.

    Der Himmel hatte herrlich aufgeklart nach vielen Stürmen. Phönizien war eine steil abfallende Loggia über dem sich neigenden Tag, es stellte seine fünfzig Jahrhunderte Geschichte aus mit einer Nonchalance, die einem den Atem raubte.

    Dass Tausende von Meilen westwärts nichts existierte, was älter war als ihr großartiges Land, wussten dort sogar die Fischer.

    Ein Teller Falafel oder Hummus barg ein ganzes Jahrtausend in sich. Doch nach Jahrzehnten Bürgerkrieg hatten die Menschen nur Lust auf Gegenwart.

    Eingehüllt in ein Tauwerk von Lichterketten, strahlte die Pergola über dem kleinen Hafen die Aura eines Sehnsuchtsorts am Ende der Welt aus.

    Der Reiz des Verbotenen machte bitterer noch das Aroma des Raki, aus einer Karaffe mit Eisperlen schenkte ihn der Kellner ein, den Kalifaten und denen, die keinen Tropfen anrührten, zum Trotz.

    Wir fragten uns schon lange, warum sich unsere unwirtliche Estremadura, geplagt von den Wellen des Atlantiks, „Kontinent mit langer Geschichte hatte nennen dürfen, „vor Menschengedenken entstanden.

    Zugegeben, wir hatten eine lange Geschichte, wir waren alt, aber nur weil man überall Alte sah, bestens verankert im System, das an der Macht war.

    Bloß kolonialistische Angeberei steckte in diesem Gerede. Uns allen war bewusst, dass die mit Vegetation bedeckten gebirgigen Ausläufer des Okzidents den Endpunkt Asiens bildeten, genau genommen waren sie der Endpunkt von allem. Sie waren ebenjener Abgrund, wo die andere Seite anfängt. Sogar der Name war uns entfallen.

    Da hörte man auf den Kieseln der Ottomanen- und Kreuzzüglerfestung zwischen dem fernen Grollen der Brandung, dem Blubbern der Wasserpfeifen und dem Gekrächze der Fernsehnachrichten vom Olivenhain her das Knirschen von Sandalen und den Klang einer Schelle, sie gab die Tempi vor.

    Petros grinste, wir verstanden nicht, was er flüsterte, dann kippte er übermütig die Eiswürfel aus seinem Glas auf den Tisch, sog laut die Luft ein, um zu schnuppern, unser Seewolf, ohne Zweifel, da war salzige Luft, da war der Duft einer Frau, Petros drehte das alte Komboloi zwischen Mittelfinger und Daumen, wieder grinste er, stieß dann einen kurzen Schrei aus wie ein Raubvogel, wenn er zum Gleitflug ansetzt über der Küste.

    Das Mädchen kam die Steinstufen herab, es war schattig dort, es hielt auf ein Feld mit weißen Asphodelien zu, am Knöchel des rechten Fußes baumelte eine kleine Schelle, um das rabenschwarze Haar, das palisanderholzfarben schimmerte, hatte sie ein dunkles Tuch gebunden.

    Achtern die prächtige britische Flagge gesetzt, das ziegelsteinrote Segel gestrichen, lag unser Boot im Hafen und wartete auf das Mädchen.

    Die Hafenwanzen verdrückten sich: Ganz vorsichtig, wie Flüchtlinge sich bewegen, bahnte sich die Tochter des Fruchtbaren Halbmonds ihren Weg durch eine Gruppe phönizischer Fischer und schritt kerzengerade auf uns zu wie Röhricht am Flussufer, das sich nicht beugt.

    Unterm knöchellangen schwarzen Gewand – ziemlich verschlissen um die Knie – bemerkte ich ihre klassischen griechischen Füße, sie waren auffallend schmal, zwischen Ferse und kleiner Zehe spannte sich ein sanfter Bogen, die Seele einer jeden Brücke im Orient.

    Sie hatte große Augen, einen selbstsicheren Blick, in dem sich viel verbarg, er war unergründlicher als die Nacht, der Mund war süßer als Lokum aus Smyrna.

    Dass das Mädchen von Adel war, verrieten die scharf geschnittene Nase und das lange Haar, eine Strähne teilte ihr Gesicht in zwei Hälften.

    Als wir näher kamen, sah sie uns an mit einem Blick, der von weit her kam, nicht messbar mit menschlichem Maß.

    Die Sonne ging unter, ihr vergehendes Licht fiel auf eines dieser verletzlichen, leidgeprüften Gesichter, die man so nur im Mittleren Osten sieht.

    Ihrem Blick konnte man Wüsten ablesen, dahinter verborgen neue Wüsten, Karawanen, Sandstürme, mit ewigem Eis und Schnee bedeckte Kordilleren und die jahrhundertealten Routen der Gewürzstraßen.

    Die Frau roch nach immergrünem Helichrysum italicum und nach tausend Schrecken, wir waren verwundert, wie beherrscht sie auftrat und wie sie ihre Ängste bezwang.

    Wir stellten uns auf im Kreis um sie herum. Ihren Namen wollten wir wissen und was sie vorhatte so ganz allein.

    Sie schwieg. Bärtigen Männern wollte sie keine Auskunft geben. Mit einem Finger zeigte sie bloß in die Ferne.

    Diese Geste war keine Bitte.

    Es war eine Order.

    Petros zuckte zusammen. Dick aufgetragene Wimperntusche, wie man es bei Flittchen sieht, verheerte ihr zartes, nobles Gesicht. Ihre Mandelaugen fixierten uns mit einer Härte, die uns verunsicherte.

    Sie hatte kein Geld und keine Papiere. Nur einen grünen Smaragdring am linken Zeigefinger, und ein Stück Papier, in arabesken Buchstaben stand darauf das Wort „Evropa". Keiner verstand, ob das ihr Ziel war oder ihr Name. Das Wort, ein Klumpen aus drei Silben, war uns unbekannt, und doch weckte er etwas in uns, das wiederaufzutauchen verlangte aus dem unendlich weiten Himmel, dem Zodiakus.

    „Nennt sie doch so", riet uns das Meer. Und mahnte uns zu gehorchen.

    Was kümmerte uns, woher diese Frau kam. Das war Nebensache, Kleinkram für die Einwohnermeldeämter.

    Kam sie aus einem Bordell in Sidon? Aus den Flüchtlingslagern von Bekaa? Eine Frau auf der Flucht? Eine Waise? Das alles interessierte uns nicht.

    Wir spürten insgeheim, Evropa war ohne ihren Namen ein Nichts. Die drei Silben waren ihre Selbstermächtigung, sie machten sie zur Göttin, wiederauferstanden aus Leid und Schmerz.

    Rein war sie. Ohne Makel. Wir nahmen sie mit an Bord, ohne Vorbehalte, ohne zu zögern, die Tochter eines Königs, eine Sans-Papiers.

    Man erzählt sich, dass sie in dem Augenblick, als sie ihre Sandalen auszog und barfuß über die Gangway ins Boot stieg, mit ihren Fesseln einen Gott verführte, und es war nicht irgendein Gott.

    Aber keiner hatte gemerkt, wie dieser Gott sich schon bereitgemacht hatte, die ahnungslose Frucht zu pflücken, die schöne Fremde.

    Genau in diesem Moment fixierte Sam den Ausdruck in den Augen der Frau, ihm reichte ein Augenblick, er erkannte darin Flüchtlingsströme, ganze Völkerschaften und traurige Soldatengesänge aus heiseren Kehlen.

    Sam mahnte den Kapitän zur Vorsicht. „Pass auf, sagte er, „diese Augen flößen einem Angst ein, da regiert das Schicksal. Das ganze dumme Zeug der Griechen, deiner Vorfahren, es wird uns allen Unheil bringen.

    Der Türke fuhr ihm ins Wort. „Evropa, sagte er, „hat einen herrlichen Klang, das Wort wird uns Glück bringen, und löste die Taue vom Liegeplatz.

    Die Moya entfernte sich langsam von der Mole, ihr Motor lief im niedrigsten Drehzahlbereich.

    Die magerste aller Mondsicheln kroch hinter dem Berg hervor, sie badete im Nebel. Es hagelte Meteoritenschwärme, sie rieselten vom Berg Hermon auf das taubedeckte Bekaa-Tal und das Meer von Sidon herab.

    3.

    Die Galionsfigur

    Rot flatterte unser Schmetterling, das Gaffelsegel, als wir es setzten, den Bug in den Wind gedreht, in einem Arpeggio aus Windstößen vom Festland her, der Himmel rotierte, bis das Segel voll stand. Wir nahmen Fahrt auf.

    Die Petroleumlampe knarzte und flackerte am Gewindering, und über den Rahen und der Saling glitzerten die Sterne wie Edelsteine und zeichneten hell funkelnde Sternbilder.

    Mesopotamien, Zehntausende Meilen Wüste, alles hatten wir hinter uns gelassen, die See war stürmisch,

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