Zeitschrift Polizei & Wissenschaft: Ausgabe 3/2023
Von Clemens Lorei
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Über dieses E-Book
Die Zeitschrift Polizei & Wissenschaft bietet die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Kommunikation polizeirelevanter Themenbereiche. Sie versteht sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Polizei. Durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung werden unterschiedlichste wissenschaftliche und praktische Perspektiven miteinander vernetzt. Dazu zählen insbesondere die Bereiche Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Medizin, Arbeitswissenschaft und Sportwissenschaft. Aber natürlich wird auch polizeirelevantes Wissen der Disziplinen genutzt, die nicht klassisch mit dem Begriff Polizei verknüpft sind, wie z.B. Wirtschaftswissenschaften, Sprachwissenschaften, Informatik, Elektrotechnik und ähnliche.
Polizei & Wissenschaft regt als breit angelegtes Informationsmedium zur Diskussion an und verknüpft Themenbereiche. Sie erscheint vierteljährlich und geht mit ihrer interdisziplinären Interaktivität über einen einseitigen und fachlich eingeschränkten Informationsfluss hinaus. Dazu nutzt sie die Möglichkeiten des Internets und fördert durch die Organisation von Veranstaltungen auch eine direkte Kommunikation.
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Buchvorschau
Zeitschrift Polizei & Wissenschaft - Clemens Lorei
Schießen auf bewegte Ziele
Clemens Lorei, Bernd Grünbaum & Artur Gerlich
1 Einleitung
Nach § 1 Abs. 3 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) zielt Ausbildung ab auf die Vermittlung der notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt. Dabei soll nach §1 Abs. 4 BBiG die Fortbildung es ermöglichen, die berufliche Handlungsfähigkeit durch eine Anpassungsfortbildung zu erhalten und anzupassen oder zu erweitern und beruflich aufzusteigen. Dementsprechend können auch polizeiliche Aus- und Fortbildung im Bereich Schießen verstanden werden. Hier soll das Schießtraining eines/r Polizist*in es ermöglichen, in einer Einsatzsituation rechtlich korrekt und effektiv die Dienstwaffe einzusetzen. Ob die klassische Schießaus- und -fortbildung entsprechend auf ein reales Feuergefecht vorbereitet und eine hohe Trefferwahrscheinlichkeit eines/r Polizist*in gewährleisten kann, wird mitunter angezweifelt (Morrison & Vila, 1998). Dies ist vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass die Trefferquoten, welche beim polizeilichen Schusswaffengebrauch anzutreffen sind, mitunter negativ überraschen.
Zusammenfassung
Die Trefferquoten von Polizeibeamt*innen im Einsatz sind deutlich niedriger als in vielen Schießtrainings. Als eine der dabei herangezogenen Gründe wird die Dynamik der Einsatzsituation genannt. Dabei bewegen sich in realen Feuergefechten die Personen oft, die Polizeibeamte angreifen. Entsprechend schießen Polizeibeamt*innen dann auf ein sich bewegendes Ziel, während im klassischen Schießtraining sehr häufig auf statische Ziele geschossen wird. Die Studie untersucht, wie sich die Schießleistung ändert, wenn sich Ziele auf verschiedene Arten bewegen. Es zeigt sich, dass Geschwindigkeit und Berechenbarkeit der Zielbewegung zentral für die Trefferquote sind. Dabei beeinflusst die gewählte Schießtaktik das Ergebnis nicht. Es ist zu schlussfolgern, dass die Bewegung des Ziels sehr bedeutsam in Feuergefechten ist und damit zwingend in Aus- und Fortbildung berücksichtigt werden muss.
Schusswaffengebrauch, Polizei, Aus- und Fortbildung, Schießen, Bewegung.
Abstract
Hit rates of police officers in ongoing operations are significantly lower than in many shooting trainings. One of the reasons cited for this is the dynamic nature of the operational situation. In actual shootings, people who attack police officers often move. Accordingly, police officers then shoot at a moving target, whereas in classical firearms training, they often shoot at static targets. This study investigates how shooting performance changes when targets move in different ways. It is shown that speed and predictability of target movement are central to hit rates. In this context, the chosen shooting tactic does not influence the result. Therefore, it can be concluded that target movement is very significant in shootings and, thus, mandatory to be considered in training and education.
Use of firearm, police, education and training, shooting, movement.
2 Theoretischer Hintergrund
Laut der Statistiken der Innenministerkonferenz (IMK) schießen die insgesamt ca. 250.000 Polizeibeamt*innen in Deutschland jährlich ca. 10.000 bis 18.000-mal im Einsatz. Fast 99 % dieser Schusswaffengebräuche zielen auf das Töten von gefährlichen, kranken oder verletzten Tieren ab. 2021 war dies 17.378-mal der Fall. 27 - 75-mal pro Jahr schießt die deutsche Polizei aber auf Personen. Dabei findet die weit überwiegende Mehrheit dieser polizeilichen Schusswaffengebräuche in Situationen statt, in denen eine Leibes- oder Lebensgefahr für die Beamt*innen oder andere mit dem Schuss abgewehrt werden soll. Ähnlich häufig wird ein Warnschuss abgegeben. Vereinzelt wird auch auf Personen geschossen, um deren Flucht zu stoppen oder um ein Verbrechen zu verhindern. Durch die Schüsse auf polizeiliche Gegenüber werden ungefähr jede zweite beschossene Person verletzt und circa jede fünfte getötet. In ungefähr einem Viertel der Schusswaffengebräuche, bei denen auf ein polizeiliches Gegenüber geschossen wird, wird dieses nicht getroffen. Eine Analyse eines Teils der deutschen Schusswaffengebräuche aus den Jahren 2013 - 2018 (Lorei & Balaneskovic, 2020) fand, dass im absoluten Nahbereich (maximal 1,5 Meter Distanz zwischen Schützen und Beschossenen) eine 100-prozentige Trefferleistung bestand. Bei einer Distanz von 1,5 bis zu drei Metern trafen ca. drei Viertel der Schüsse. Bei über drei Metern wurden die Trefferquoten deutlich geringer. Hier traf nur jeder zweite (bei 6 - 15 Metern) oder dritte Schuss (bei drei bis sechs Metern). Mithin sind die Trefferquoten natürlich abhängig davon, wie geschossen wurde (Deutschuss, Schnell-Präzision oder Präzision) und wohin gezielt wurde (Beine, Torso etc.) (Lorei & Balaneskovic, 2020). In internationalen Studien finden sich durchaus geringere Trefferquoten bei Polizeibeamten. Aveni (2004) stellte in der Statistik des New York Police Department (NYPD) für die Jahre 1988 bis 2001 im Mittel Trefferquoten um 22 % (min. 16 %, max. 57 %) fest. Fünf Jahre später gab das NYPD eine Trefferquote von 23 - 43 % an (Police Academy - Firearms and Tactics Section, 2006). Für das Dallas Police Department wird für 2003 - 2017 bei 149 Schusswaffengebräuchen eine Trefferquote von 54 % berichtet (Donner & Popovich, 2019). White (2006) fasst umfangreiche Analysen zu Trefferquoten in den USA zusammen und kommt insgesamt zum Schluss, dass diese typischerweise unter 50 % liegen. Dabei liegt die Distanz zwischen Schützen und Beschossenen in diesen Feuergefechten meist zwischen zwei und sechs Metern (Aveni, 2004; Police Academy - Firearms and Tactics Section, 2006; White, 2006).
Insgesamt ist festzustellen, dass reale Feuergefechte der Polizei überwiegend in sehr nahen Distanzen (bis maximal sechs Meter) stattfinden und dabei doch häufig nicht oder nur zu einem Teil das Ziel getroffen wird. Damit entspricht die Trefferleistung in Einsatzlagen kaum der Rate beim Übungsschießen. Dabei beinhaltet die Schießaus- und -fortbildung häufig das Schießen auf ein statisches Ziel, was gute Voraussetzungen für eine hohe Trefferquote darstellt. Werden die Trainings jedoch wesentlich einsatzbezogener und realistischer, so fallen auch die Trefferraten deutlich geringer aus (Taverniers & De Boeck, 2014; Lorei, Stiegler & Bäuerle, 2014; Lorei & Stiegler, 2014a; Lorei & Stiegler, 2014b; Lorei & Heimann, 2017). Für die im Einsatz im Vergleich zum schulmäßigen Schießen niedrigeren Trefferquoten werden vor allem folgende Aspekte als Gründe oder Einflussfaktoren genannt (vgl. Lorei & Balaneskovic, 2020):
Dynamik der Situation (Bewegung des Schützen und/oder des Ziels)
ungewohntes Schießen (einhändig, Schießen mit der nicht-dominanten Hand, schnelleres Schießen)
unterschiedliches Gefahrenausmaß
allgemeiner Stress der Situation
biologische Grenzen
biomechanische und physiologische Aspekte der Ausrüstung
Die Dynamik in realen Einsätzen zeigt sich u. a. darin, dass sich das polizeiliche Gegenüber (=Ziel des Schusswaffengebrauchs) mehr oder minder schnell bewegt. 86,4 % der Befragten bei Lorei und Balaneskovic (2020) gaben an, dass die von ihnen beschossene Person sich bewegte. Damit kann das Schießen auf statische Ziele schon als Ausnahme angesehen werden. Dyer (2016) fand entsprechend für das Militär heraus, dass nach Angaben von fast 1636 Vorgesetzten aus verschiedenen Bereichen der US-Army, welche über umfangreiche Einsatzerfahrung verfügten, dort einer besonderen Treffgenauigkeit beim Schießen auf bewegte Ziele eine hohe Priorität zugesprochen wird, die aber noch zu wenig geübt werde.
Mit einer Bewegung des Ziels kann sich aber auch der Schießvorgang verändern. So kann es erforderlich sein, nicht eine statische Zielhaltung einzunehmen, sondern sich dem Ziel entsprechend zu bewegen. In diesem Zusammenhang ist eine der beiden wesentlichen Taktiken zum Schießen auf bewegte Objekte, welche beim jagdlichen, sportlichen und militärischen Schießen eingesetzt werden, das „Tracking, d. h. Verfolgen des Ziels bzw. das „Mitziehen
/„Mitfahren mit der Bewegung des Ziels (Schendel & Johnston, 1983; Simon, 2007; Uhl, Bink, James & Jackson, 2017). Die zweite mögliche Schießtaktik ist das „Trapping
, d. h. das Einnehmen eines antizipierten Punktes der Bewegung des Ziels (Schendel & Johnston, 1983; Simon, 2007; Uhl, Bink, James & Jackson, 2017). Dort wird bis zu dem Zeitpunkt gewartet, an dem das Ziel diesen Punkt erreicht, und dann geschossen.¹ Beide Taktiken erfordern also eine Bewegung der Waffe und damit eine gewisse Instabilität beim Zielen. Dabei ist die Stabilität des Zielens beim stehenden Schießen aber ganz entscheidend für das Treffen (Hoffman, Gilson, Westenburg, & Spencer, 1992; Goonetilleke, Hoffmann & Lau, 2008; Mononen, Konttinen, Viitasalo & Era, 2007; Hawkins & Sefton, 2011; Sattlecker, Buchecker, Gressenbauer, Müller & Lindinger, 2017; Laaksonen, Finkenzeller, Holmberg & Sattlecker, 2018).
Aufgrund der oben beschriebenen Einsatzanalysen und Forschungsergebnisse zum sportlichen Schießen kann erwogen werden, dass eine Bewegung des Ziels sich auf die Trefferrate auswirkt. Die diesem Artikel als Grundlage dienende Studie versucht deshalb, dies empirisch für polizeiliches Schießen zu prüfen. Dabei soll der Einfluss verschiedener Bewegungsrichtungen und Bewegungsgeschwindigkeiten betrachtet werden. Es wird dabei aufgrund der oben genannten Ausführungen davon ausgegangen, dass ein sich bewegendes Ziel signifikant seltener getroffen wird als ein statisches Ziel. Dabei hat die Bewegungsrichtung wie auch die Bewegungsgeschwindigkeit einen Einfluss auf die Stärke der Beeinträchtigung der Schießleistung.
3 Methode
Als freiwillige Versuchspersonen dienten Studierende einer Hochschule der Polizei aus unterschiedlichen Studienabschnitten. Dabei waren 80 % der Versuchspersonen sogenannte Direkteinsteiger*innen, also Berufsanfänger*innen mit keiner oder nur sehr wenig Einsatzerfahrung, aber mit vorhandener Schießausbildung, und ca. 20 % sogenannte Aufsteiger*innen, also vollausgebildete Polizeibeamt*innen mit einer mehrjährigen Berufserfahrung. Für jede zu untersuchende Komponente der Bewegung wurden unterschiedliche Personen verwendet.
Zunächst schossen alle Versuchspersonen jeweils zwei Übungen zur grundlegenden Schießfertigkeit. Hier waren aus zehn Metern Entfernung vier Präzisionsschüsse und vier grob visierte Schüsse jeweils aus der aufmerksamen Sicherungshaltung (Waffe im Holster, Hand umfasst Griffstück der Waffe) auf eine statische 24er-Ringscheibe abzugeben. Jede Schussabgabe erfolgte auf Kommando. Für die Untersuchung des Einflusses von Bewegung des Ziels schossen die Versuchspersonen auf eine Kreisfläche mit Durchmesser 26 cm aus einer Entfernung von vier Metern (siehe Abbildung 1). Dabei schoss jede Versuchsperson als Vergleichsbasis eine Serie von drei Schuss auf ein statisches Ziel sowie eine Serie von drei Schuss auf ein sich bewegendes Ziel. Die Vergleiche der Trefferleistungen als Einfluss einer Bewegung des Ziels erfolgten also intraindividuell (Baseline vs. experimentelle Bedingung). Um einen Reihenfolgeeffekt zu prüfen und zu kontrollieren, wurde die Abfolge Basisübung und zu untersuchende Version abgewechselt und ein Reihenfolgeeffekt statistisch geprüft. In keinen Fall erwies sich die Reihenfolge als statistisch signifikant. Als Bewegungsrichtungen des Ziels wurden horizontal, diagonal und zufällig gewählt (siehe Abbildung 1). Dabei wurde die Bewegungsgeschwindigkeit in horizontaler Richtung in schnell (0,8 m/s) bei und langsam (0,5 m/s) variiert.
Die Trefferaufnahme erfolgte durch die Schießanlage. Diese zeichnete die