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Alte Mädchen
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eBook253 Seiten4 Stunden

Alte Mädchen

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Über dieses E-Book

Es sind immer die Töchter, die fragen! Die drei ›Mädchen aus Ostpreußen‹, Anni, Else und Hannelore, sollen für eine Imagekampagne ihrer Seniorenresidenz Modell stehen. Während ›Germany's Next Topmodel‹ läuft, verhandeln die drei Mittneunzigerinnen, was sie über ihr Leben erzählen wollen – und was nicht.
Im Auto unterwegs nach Polen schickt Gudrun eine Sprachnachricht. Ihre Nichte soll vom Tod der Großmutter erfahren. Doch Gudrun schweift ab, erzählt von der Flucht bei Kriegsende, ihrer Kindheit in den 1950ern. Plötzlich wird klar: Sie muss etwas gestehen.
Undine, Jenny und Thao verbringen ein Wochenende in Berlin, bevor Jenny ihr erstes Kind bekommt. Neben den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in den 1980ern und 1990ern treten auch die sozialen Unterschiede wieder ans Licht. Während sie ihre Lebensentscheidungen neu bewerten, setzen die Wehen ein.
In drei Teilen, »Marjellchen«, »Neue Heimat, altes Haus« und »MILF«, porträtiert Julia Wolf drei Frauengenerationen, indem sie den Wunden, Werten und Erfahrungen der Kriegszeit nachspürt. Mit Alte Mädchen ergänzt Julia Wolf die deutsche Nachkriegsgeschichte um eine wichtige Erzählung weiblicher Subjektivität, die uns die Augen öffnet: dafür, woher wir kommen, wohin wir gehen, was wir mitnehmen und was wir loslassen sollten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Sept. 2022
ISBN9783627023072
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    Buchvorschau

    Alte Mädchen - Julia Wolf

    Buchcover

    Es sind immer die Töchter, die fragen! Die drei ›Mädchen aus Ostpreußen‹, Anni, Else und Hannelore, sollen für eine Imagekampagne ihrer Seniorenresidenz Modell stehen. Während ›Germany’s Next Topmodel‹ läuft, verhandeln die drei Mittneunzigerinnen, was sie über ihr Leben erzählen wollen – und was nicht.

    Im Auto unterwegs nach Polen schickt Gudrun eine Sprachnachricht. Ihre Nichte soll vom Tod der Großmutter erfahren. Doch Gudrun schweift ab, erzählt von der Flucht bei Kriegsende, ihrer Kindheit in den 1950ern. Plötzlich wird klar: Sie muss etwas gestehen.

    Undine, Jenny und Thao verbringen ein Wochenende in Berlin, bevor Jenny ihr erstes Kind bekommt. Neben den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in den 1980ern und 1990ern treten auch die sozialen Unterschiede wieder ans Licht. Während sie ihre Lebensentscheidungen neu bewerten, setzen die Wehen ein.

    In drei Teilen, »Marjellchen«, »Neue Heimat, altes Haus« und »MILF«, porträtiert Julia Wolf drei Frauengenerationen, indem sie den Wunden, Werten und Erfahrungen der Kriegszeit nachspürt. Mit Alte Mädchen ergänzt Julia Wolf die deutsche Nachkriegsgeschichte um eine wichtige Erzählung weiblicher Subjektivität, die uns die Augen öffnet: dafür, woher wir kommen, wohin wir gehen, was wir mitnehmen und was wir loslassen sollten.

    Julia Wolf: Alte MädchenVerlagslogo

    Inhalt

    I

    Marjellchen

    II

    Neue Heimat, altes Haus

    III

    MILF

    I

    MARJELLCHEN

    Steht in der Tür, ist die Tochter von jemand. Immer die Töchter, die fragen. Das Mädchen lächelt verlegen, klopf klopf. Sie wünschen? Steht wie ein Fragezeichen mitten im Raum. Mit ihrer Tasche, der Brille. Dem fahlen Haar. Knetet die Finger: Ihre Großmutter habe uns vielleicht schon erzählt –

    Deine Oma, ja ja. Tochter der Tochter von jemand. Wir hängen nicht an ihren Lippen, hören nicht zu. Uns interessieren nur die Zähne! Wir sehen das Töchterlein reden und denken: Nicht schlecht. Sind ziemlich weiß. Sind gerade, einigermaßen, nur unten steht einer leicht schief. Wir lassen sie quatschen, wir warten. Im rechten Moment, Else kneift Anni. Triumph der Dritten, wir grinsen: Unsere Zähne sind schöner!

    Äh, das Mädchen versteht’s nicht, es ist verwirrt: Heißt das, ich darf Sie fotografieren?

    Erst später, wir dämmern vorm Bildschirm, wir schlummern, da Moment mal!, schreckt eine hoch. Was war das? Und wer? Im Fernsehen Bräute, wir reagieren nicht gleich. So viel Spitze und Seide, Tränen, Tamtam. Gab’s alles nicht zu unserer Zeit. Falsche Wimpern. Doch so einfach lässt Hannelore nicht locker. Hallo? Sie dreht den Ton leiser. Die Stimmen der Bräute weichen aus unserem Kopf, ihr Juchzen und Ja. Machen Platz für andre Gedanken. Unser Nicken. Wir entsinnen uns. Das war recht verbindlich.

    Die kommt morgen wieder, sagt Hannelore.

    Erbarmung!, ruft Anni. Was haben wir uns da eingebrockt?

    Wir müssen doch bloß, setzt Else an.

    Nuscht müssen wir nicht, unterbricht Hannelore. Das ist das Gute! Wir können uns tot stellen, oder schlafend. Wir können so tun, als wären wir taub.

    Aber, sagt Else.

    Wie aufs Stichwort, Aber, aber, die Damen!, stiefelt auch schon die Nächste herein. Schlappt. Schleppt einen Ball, einen großen. Biggi, wie heißt die, immer im Jogging? Die Fiffi. Scheucht uns durchs Haus. Auf, auf!, flötet die Fiffi, sie trillert es, auf ihrer Pfeife. Knackend und knirschend brechen wir auf. Die Dompteuse treibt uns in den Turnraum. Wir kennen den Weg. Der lange Flur. Wie ein Tunnel. Und die Fiffi immer schon da, Fiffi immer schon am anderen Ende. Hält uns die Tür auf. Prächtige Türen. Flügel in eine andere Welt. Früher war das ein Ballsaal. In besseren Zeiten. Als das Heim noch ein Kurhotel war. Den Kronleuchter haben sie hängen gelassen. Der hängt noch und ziept, wenn wir hereinkommen, immer ein klein wenig an Elses Herz. Was hat Else getanzt als junge Frau! Wenn wir den Ballsaal betreten, juckt’s Else jedes Mal in den Beinen. Doch wir kennen den Drill. Wir versuchen zu stehen. Frei. In Reihe, in Glied. Wer kann, breitbeinig. Die Damen! Der Ball wird durch die Beine nach hinten gereicht. Über die Köpfe nach vorn. Wir schließen die Augen. Sind wieder Mädels. Einen Moment lang. So viele Arme und Beine. Fächern sich auf. Einen Moment lang knackt nichts und knirscht nichts. Anmut. Aber auch Kraft. Und Bälle. So viele Bälle. Immer im Kreis. Ein riesiger Kreisel aus Armen und Beinen und Bällen sind wir. Unsere Kleider wie Fähnchen. Weiß, vor grauem Himmel. Damals natürlich blau. Das wissen wir noch. Der Himmel war blau und das Gras grün. Jedes Mädel kann schön sein, selbst Hannelore. Wenn es sich bemüht. Wenn es an sich arbeitet. Doch da pfeift Fiffi. Und etwas zerplatzt. Zurück ins Schwarzweiß. Das war anders, wann anders. Das ist lange her. Anmut. Ertüchtigung. Heute dauert das. Bis der Ball hinten ankommt. Doch Fiffi kennt keine Gnade. Wir müssen die Augen aufschlagen. Wir müssen uns strecken und bücken. Und eins, und zwei! Ein halber Hampelmann ist besser als kein Hampelmann, findet Fiffi.

    Zurück zum Brocken, sagt Else bei Tisch. Wir stochern im Frikassee, denken an Suppe. Wer löffelt die aus? Hätten wir nicht so schöne Zähne, wäre das nicht passiert. Ohne Gebiss hätten wir nicht gegrinst. Nicht genickt. Unsere Zähne sind uns zum Verhängnis geworden.

    Versprochen ist nun mal verspro–, versucht es Else erneut. Doch da sagt Anni: Das war doch die Tochter von Amelie! und blickt dabei auf. Ihre Augen. Immer wenn wir in Annis Augen schauen, fällt uns etwas ein. So blau. Annis Augen so weit wie der Himmel über Masuren. Uns fällt etwas ein, wir segeln dahin, in Annis Blick. Und haben’s gleich wieder vergessen.

    Und wenn schon, sagt Hannelore. Auch für die mach ich nicht den Affen, ich spiel doch für die nicht den Clown! Und überhaupt. Immer die Töchter!

    Da hat sie recht. Wir sehen sie ja. Sonntags, wir sitzen am Fenster, sehen die Schwiegersöhne und Enkel vorbeiziehen. Dolle Kerle. Von denen kommt keiner zu uns. Fragt, ob wir mitmachen wollen. Eine Schande. Allerdings zupft uns von denen auch keiner das Barthaar. Das eine, das pikt. Elses Tochter mit ihrer Pinzette. Wenn die ihre Lesebrille aufsetzt, unseren Kopf zum Licht dreht. Entgeht der kein Härchen.

    Härchen, dass ich nicht lache!, sagt Else. Ne richtige Borste war das!

    Da muss Anni prusten. Eine Erbse springt aus ihrer Nase direkt auf den Tisch. Wir sehen ihr nach, wie sie kullert, über das Tischtuch, zwischen den Gläsern hindurch. Auf die Kante zu. Soll sie ruhig fallen. Anni mag keine Erbsen. Das haben wir nun wirklich oft genug angemerkt!

    Erbse hin oder her, versprochen ist nun mal versprochen. Darauf besteht Else. Später, als alle im Bett sind. Nur wir sind noch wach. Wir sitzen im Aufenthaltsraum. Zwischen Topfpflanzen, Brettspielen. Unter der tickenden Uhr. Im Fernsehen die Gänse. Ein Geschnatter ist das. Ständig wird da gewinkt, ständig hüpfen die rum. Das schauen wir gern. Verpassen wir nie. Am Ende ist eine die Schönste, die bekommt den Vertrag. Und ein Auto! Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Ein Steg. Den muss man laufen können. Nämlich so. Auf und ab. Wie die Giraffen. Die Kamera gleitet die Beine hinauf. Meine Mädels, das sind ihre Girls. Die Kamera gleitet durch Häuserschluchten. Hotel unter Palmen, aber dass eins gleich mal klar ist: Die Girls sind nicht zum Relaxen hier! Diese Woche ist wichtig, schnattert die Gans, das ist die Chefin: Meine Mädels müssen lernen, mit der Öffentlichkeit umzugehen. Und Else ruft: Ha! Da habt ihr’s! Die Mädels! Das sind doch wir!

    Wir drehen die Köpfe, so weit wir können. Sehen Else da sitzen. Wann hat die denn ihren Mantel geholt? Else sitzt im Nerz überm Nachthemd, ganz Dame. Rouge hat sie auch aufgelegt. Längst hat sie beschlossen: Wenn wir nicht wollen, sie will. Sie wird! Else mit ihren fettigen Fingern. Schwört auf Nivea. Cremt sich mehrmals am Tag damit ein. Wir haben das Nachsehen, an den Schränken und Klinken, überall Fettflecken. Die Illustrierten versaut. Doch wir schimpfen nicht mehr mit unserer Freundin. Die Ärzte geben ihr nur noch sechs Wochen. Und Else will halt bis zum Ende gut aussehen. Also cremt sie, und nicht erst seit gestern. Wir waren skeptisch zunächst. Doch wenn wir ehrlich sind, es hat sich gelohnt. Else ist schön, wie sie da sitzt. Schaurig schön, vom Tode gezeichnet. Leider riecht sie auch so. Wir drehen die Köpfe noch ein Stück weiter und schnuppern an ihr. Nicht mehr ganz frisch, riecht etwas nach Keller.

    Lavendel!, sagt Else und reckt das schmierige Kinn. Gegen die Motten!

    Aha, murmeln wir. Stinkt wirklich bestialisch. Aber Hauptsache, Else hält sich die Motten vom Leib. Und damit uns. Das ist alles, was zählt. Alles was zählt, ist ein Foto. Und wir wollen wissen, wer heute keines bekommt. Wer fliegt heute raus? Langsam drehen wir uns wieder dem Fernseher zu. Im Gerät Heidi, schnattert mit Elses Stimme. Stellt euch mal vor!, schnattert sie. Unser Gesicht auf einem Plakat! Unser Gesicht auf der Broschüre! Auf einem Bus, der durchs ganze Land fährt, was sag ich, durch ganz Europa! Auf dem Bildschirm ein weinendes Mädchen. Und wir müssen sagen, vielleicht klingt das verlockend. Vielleicht klang das ein wenig verlockend, wie die Tochter von Amelie das gesagt hat, vorhin, mit riesigen Augen: SO SCHÖN KANN DAS ALTER SEIN! Denn das wäre der Spruch. Zu unseren Gesichtern. Der Spruch unter und über und neben unseren Köpfen. Auf dem Plakat. Der Broschüre. Auf dem Bus. Durch ganz Europa. Ob das ein Spanier versteht? Der Italiener. Und wer war noch mal Amelie? So ist das mit Annis Augen. Die vergessen immer gleich alles. Die sehen nur: Das Mädchen im Fernsehen weint. Vor Freude! Tränen, Zeitlupe, dann kommt die Werbung. Plötzlich sind überall Haare. Schwarz, Rot, Blond. Ein einziges Strahlen und Wippen. Zweimal mehr Volumen und Sprungkraft. Offene Münder. Was so ein Shampoo vermag. MEIN HAAR, MEINE STÄRKE, auch das ist ein Spruch. Aus der Werbung. Wir fühlen uns fluffig. So schön ist das Alter. Was die Mädels im Fernsehen können. Können wir schon lange. Wir müssen nur den Kopf richtig schwingen.

    Und als wir uns umdrehen. Steht Else auf ihrem Stuhl. Wie ist sie da raufgekommen? Wir haben keinen blassen Schimmer. Unsere Freundin hat schon immer die große Geste geschätzt. So groß, Else breitet die Arme aus, und plötzlich ist es, als wär sie schon Engel. Schwarz und pelzig, ihre Stimme belegt: Ich frage euch, was haben wir zu verlieren?

    Da hat sie recht. Wir gehen stracks auf die Hundert zu. Immerzu zwickt es und beißt es. Ei! Mitunter sind die Finger so schwach, dass sie die Tasse kaum halten. Und dann die Verkalkung, Tumore. Schwelendes Zeug.

    Ein letztes Mal glänzen, wir nicken.

    Noch einmal wer sein, das wollen wir auch.

    Eben noch waren wir uns einig. Und im nächsten Moment. Lässt der Engel die Flügel hängen. Weicht aller Glanz, und unsere Freundin schaut kläglich. Wie komm ich hier nur wieder runter?, klagt sie. Hannelore, Frau der Tat, springt ihr zur Seite. Packt sie beim Ärmel, Hüpfen musst du!, zerrt Hannelore. Else soll sich nicht anstellen. Ist ja nicht hoch! Doch da kippelt der Stuhl, und wir erschrecken. Ein Wort steht im Raum: Oberschenkelhalsbruch. Herrjechen. Das fehlte uns noch. Das braucht wirklich keine. Was machen wir nun? Alleine und heil schafft Else das nicht. Und uns fehlt der Schwung. Von einem Gedanken zum nächsten. Engel. Else. Fehlt nur noch. Der Esel! Und wer reitet ihn? Über die Brücke? Die Sissi. Mit Krönchen! Mit Krönung. Ein Tässchen Kaffee? Das ist die Fiffi. Die fragt: Wie wär’s mit einem Schluck Wasser? Die schimpft: Sie müssen mehr trinken! Sonst vertrocknet Ihr Hirn! Das ist doch die Fiffi? Rosine. In rosa Uniform? Wir können uns die Namen nicht merken. Eine von denen hat uns zusammengeschoben. Das ist eine Weile her. Vorher war immer jede für sich. In ihrem Zimmer, vorm Fernseher. In ihrem eigenen Kopf. Und eine von denen hat sich gedacht: Wäre doch schöner zusammen. Drei Mädchen aus Ostpreußen. Welche war das? Die Trixi. Hat behauptet, sie hätte uns gleich erkannt. Die Körbe an unseren Wagen. Sind immer so voll. Quellen über!, sagt Trixi. Wir haben halt immer alles dabei. Weil man nie weiß. Wann’s losgeht. Äpfel, Klopapier, Handschuhe. Auch Kuchenstücke und Stullen, in Servietten gewickelt, fahren wir mit uns herum. Weiter unten im Korb dann die Schatullen und Schachteln, der Schmuck. Ohne unsere Wertsachen gehen wir nirgendwohin.

    Verdammich!

    Was da wackelt und klappert, ist nicht der Stuhl. Das sind Elses Knie. Runter heißt rauf, wir blicken auf. Und sehen: Oh je. Else sitzt in der Patsche. Steht immer noch oben. Ihr Gesicht ganz verzerrt. Wir wollen sie beruhigen. Mit einem Spiel. Was ist das Gegenteil von Angst, Else?

    Aber Else plärrt nur: Verdammich! Verdammich!

    Nein, das Gegenteil von Angst heißt nicht verdammich. Das Gegenteil von Angst ist ein Pfeifen im Wald. Wir spitzen die Ohren. Ein Pfeifen im Flur. Kommt immer näher. Wir lauschen und ahnen es schon. So klingt die Rettung. Die Nachtschicht. So klingt unser Prinz. Dann geht die Tür auf, und richtig: blauschwarzes Haar. Ein Kopf erscheint, die Stimme dazu hören wir gern:

    Na, wen haben wir denn hier? Meine drei Grazien!

    Hilfe!, quiekt Else, statt einer Antwort. Schon ist er bei ihr. Hebt sie herunter. Stellt sie auf ihre Füße. Sanft, so unendlich sanft. Wir erröten. Wir richten uns auf in unserem Stuhl. So ist der Prinz. Will immer wissen, ob uns was wehtut. Was wo wehtut. Was wo wie seit wann wehtut. Darf ich, soll ich, ist es so gut? Wer würde da nicht. Wir sind ja auch nur Menschen. Sind nur Frauen aus Fleisch und Blut. Frauen mit Armen und Beinen aus Gummi. Gliedmaßen aus Holz, steif und brüchig, wir kommen nicht hoch. Kommen nicht runter. Ganz gleich, welche Richtung, der Prinz hilft uns. Das sind Augenblicke, wie Märchen. Wir seufzen: Würde er nie. Uns berühren auf eine Art, die nicht professionell ist. Da können seine Hände noch so warm sein. Und wir. Nur manchmal, ganz selten, fassen wir in sein Haar. Sein blauschwarzes Prinzenhaar, wenn er uns anzieht.

    Sollten Sie nicht längst im Bett sein?, fragt er und schenkt uns ein Lächeln. Wir schütteln den Kopf, noch läuft unsere Show. Wir wollen unbedingt in die nächste Runde! Wir deuten auf den Fernseher, und der Prinz nickt: Heidi, verstehe. Aber wenn das vorbei ist, schalten Sie aus? Dabei geht er schon rückwärts. Er hat so viel zu tun. Nächtelang hören wir ihn flitzen. Mit Bettpfannen, Schlafmitteln über den Flur. Flitzen und pfeifen, unser Prinz hat keine Angst. Er lächelt, dann fällt die Tür hinter ihm zu. Und wir. Nur Frauen, aus Gummi. Sacken in uns zusammen. Spüren in unserer Brust. Ein Kneifen. Kommt ja nicht oft vor. Kommt viel zu selten vor. Dass uns ein Mann. Und dann auch noch so einer. Die Kerle. Ackern wie blöde, halten nicht durch. Bleiben im Krieg. Und die, die leben, verstummen. Schier unmöglich, mit dem Hans einen Schnack anzufangen. Oder dem Hermann. Von denen kommt höchstens ein Grunzen. Und der Heinz. Geht ja mit Clara. Den Flur rauf und wieder runter gehen die. Der Herbert sägt und hämmert, feilt und bemalt. Jedem Piepmatz ein Heim. Im Park hängt Herbert die Häuschen auf, und im Garten. Wo bleibt da die Würde? Gilt auch für den Georg mit seinen Videokassetten. Denkt wohl, er wäre diskret. Aber wir sehen ihn ja klopfen. Wir sehen sie grinsen, Trixi und Co, wenn sie die Kassetten aushändigen. Wir hören sie lachen hinter der Tür.

    Die eine: Der alte Lustmolch, steht auf Stewardessen!

    Die andere: Solang er die Finger von mir lässt!

    Pfui Deiwel, nein. Mit so einem würden wir nie! Wir strecken das Kinn. Im Fernsehen tritt eine vor den Spiegel und schreit. Der wurden die Haare gefärbt. Von Maus auf Tomate. Sie schlägt die Hände vor den schreienden Mund. Und das soll schön sein? Dann blitzt’s hinüber zur Werbung. Und unser Blick schweift. Über Topfpflanzen, Porzellankätzchen. An der Wand hängt ein Kalender. Da steht ein Kreuz. An einem Tag, mitten im Monat. Irgendwas war an dem Tag. Aber was? Wir lassen den Blick schweifen und erblicken das Nest. An Annis Hinterkopf liegt das Haar platt. Wenn die Tochter von Amelie kommt. Morgen. Wird sich aber gekämmt, Ruschelinchen! Wir sehen Amelies Tochter vor uns stehen, mit ihrer riesigen Tasche. Da ist die Kamera drin. Ob ein Kamm reicht? Ein Schwups Wasser? Wann waren wir das letzte Mal beim Frisör? Hat uns Marcel mit seinen breiten Fingern den Kopf durchgeknetet? Wir erinnern uns dunkel an das Gefühl. Wenn die Gedanken in Wallung kommen. Das muss lange her sein. Zu lange vielleicht? Wallung und Welle, Vanille. Noch einmal wer sein. Das Prinzengefühl. Prinzessin. Noch einmal ein Kavalier. Durchs Spalier. Da gab’s noch mal einen. Kam zwischen den Tischen entlang. Wie war das? Wir saßen im Speisesaal. Das ist noch nicht lange her. Wir saßen bei Tisch, es gab Rouladen. Nein. Wir sitzen bei Tisch und lächeln wie blöde. Nein. Wir senken den Blick. Stippen die Krümel vom Teller. Wir sitzen bei Tisch, und irgendwer schmatzt. Wir sitzen bei Tisch und. Wir brauchen mehr Schwung! Wir sitzen bei Tisch, als die Tür auffliegt. Ja! Wir sitzen bei. Anni! Wir sitzen bei Tisch, und Anni fragt: Gehen wir jetzt?

    Wir sagen: Nein, Anni, nein. Wir gehen nirgendwohin.

    Aber wenn ihr geht, nehmt ihr mich mit?

    Aber Anni, nie würden wir ohne dich gehen.

    Versprochen?

    Versprochen. Wir sitzen bei Tisch und nicken. Immer der gleiche Tisch mitten im Raum. Unsere Gehhilfen stehen am Eingang. Die Trixis führen uns an unseren Platz. Rücken und ruckeln so lange an unseren Stühlen, bis. Wir sitzen. Wir sitzen mit roten Wangen bei Tisch. Wir sitzen bei Tisch, das Tischtuch hat Flecken. Rücken und ruckeln, wie war das? Wir sitzen bei Tisch. Wie viel Uhr? Mittag. Wir sitzen bei Tisch und fummeln am Salzstreuer. Fast Mitternacht. Wir sitzen bei Tisch und haben unsere Zähne vergessen. Ja. Wir sitzen bei Tisch, zum Glück gibt es Kuchen. Zerfällt im Mund. Aber bitte mit Sahne!, pfeift Trixi, die Flitzi, von Tisch zu Tisch. Sahne wie Sand in unseren Mündern. Wir kauen, wir kauen. Genau! Als die Tür auffliegt.

    Hoppla und huch, schluckt Hannelore.

    Und auch wir, ei kiek dem, ein Fremder!, wenden den Kopf. Der schwänzelt herein, seine Sohlen wie Zungen auf dem Parkett. Seine Hosenbeine wippen im Takt. Wir sehen sofort: Die Falte sitzt. Der hat keine Flecken. Nicht im Schritt, nicht auf dem Wanst. Hat keinen Wanst! Eine gewisse Straffheit über dem Gürtel, die Streifen sehr gerade auf seinem Hemd. Und über dem Hemd. Kein Barthaar sprießt aus der Reihe. Rasiert, mit scharfer Klinge. Seine Haut blitzt. Sehen wir gleich und sind uns ei, ei, einig. Wie ein Knopf sieht der aus. Wie ein Knöpfchen, poliert. Keine von uns guckt ihn an. Wo kämen wir hin? Wenn jeder dahergelaufene, nur wegen der Schuhe? Hatten halt lang keinen Mann ohne Schlorren gesehen. Und was tut der Kerl? Lüftet den Hut! Scharwenzelnderweise, in unsere Richtung. Der Schäker, schlawinert. Im Vorbeigehen. Keines Blickes, aber das sehen wir doch. Geknickst hat keine, vielleicht genickt. Vielleicht hat Elses Kinn kurz gezuckt. Und Anni. Streckt die Hände aus, will das Wölkchen einfangen, das sein Hut freigesetzt hat. Pomade, vanillig, schwebt hinter ihm her. Darf ich vorstellen?, brüllt da die Flitzi, und Anni haucht: Ja!

    Doch ehe wir versinken können in diesem Gefühl. Entzücken. Haut Hannelore mit der Faust auf den Tisch:

    Alles olle Kamellen, wen interessiert denn das?

    Was heißt hier oll, das sehen wir anders: Unsere neueste Kamelle ist das. Wir spitzen die Münder und lutschen, kein süßer Bonbon. Eher bitter. Wir legen den Kopf schief. Betrachten den Tisch. Darauf ein Deckchen, mit Vase. Schöne Blumen, die haben Sie mitgebracht? Wie reizend. Aber das wäre wirklich nicht nötig –

    Morgen kommt die Tochter von Amelie. Mit ihrer Kamera. Was ziehen wir an? Wir sollten schlafen. Wir sollten ins Bett gehen und tun es nicht. Die Melodie hält uns auf. In unserem Kopf tobt ein Tänzchen. Ein putziger Mann. Bedeiwelt hat der uns. Mit seinem Ciao, seinem Schuh. Seinem Dudeludelu. Was haben wir gesummt! Und gesurrt. Schlimme Kamelle. Bella bella bella Marie. Hinter verschlossenen Türen. Haben wir einen Schritt gewagt, oder zwei. Eine jede von uns in ihrem Zimmer. Hat sich vorgestellt, wie es wäre. Wie was wäre? Verschiedene Bilder, in allen der Mann. Ein Seufzen ging durch den Flur: Ach, Salvatore!

    Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer hat das schönste Zimmer? Nun ja. Darüber ließe sie streiten. Das größte Zimmer hat Hannelore. Hängt voller Bilder. Bilder von Bildern, Gemälden. Freundin Hannelore hat Ahnung von Kunst. Meint sie zumindest. Nur weil ihr langweilig war. Aus reiner Langeweile hat sich Hannelore ins Museum gestellt. Eine Frage der Ehre. Frage der Zeit, davon hatte sie plötzlich sehr viel. Als es hieß: Rente. Als es auf einmal nicht mehr gereicht hat, Steno zu können. Plötzlich hat’s nicht mehr gereicht, die Schnellste zu sein. So viel Ehre, bezahlt wurde sie nicht, im Museum. Hannelore als Wärterin, hat eine Menge gelernt. Vom vielen Stehen und Schauen. Seerosen, Sonnenblumen. Krähen überm Weizenfeld. Die Wände in ihrem Zimmer hängen voll von solchen Motiven. Und wäre das nicht das

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