Das Café am Amselweg
Von Anja Marina
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Über dieses E-Book
Autorin Anja Marina beschreibt in ihrem Debütroman die Lebenssituation ihrer verschiedenen Figuren genau, liebevoll, mit einer herrlichen Prise «Wahnsinn» und beleuchtet, wie sie sich der Unberechenbarkeit des Alltags stellen.
Anja Marina
Anja Marina ist Geschichtenerzählerin. Nicht jeden Tag und nicht Vollzeit, aber leidenschaftlich. Sie könnte sich ein Leben ohne Geschichten nicht vorstellen. 1986 geboren, lebt sie ländlich im Kanton Bern. Beruflich beschäftigt sie sich als Dozentin für Krisenstäbe mit dem Schutz der Bevölkerung während Katastrophen und Notlagen. Ihre Laufbahn ergab sich recht unerwartet, denn ursprünglich war sie Lehrerin für die Sekundarstufe I. »Das Café am Amselweg« ist das erste veröffentlichte Buch der Autorin. Es beleuchtet das Innenleben von verschiedenen Figuren und beschreibt, wie sie auf unterschiedliche Weise versuchen, sich der Unberechenbarkeit des Alltags zu stellen.
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Buchvorschau
Das Café am Amselweg - Anja Marina
1.
Bevor sie den Vogel ins Freie gelassen hatte, ließen sie Gedanken an das eingesperrte Tier kaum schlafen. Jeder Blick in Richtung Käfig spaltete ihr Herz und ihr zerzaustes Kopfhaar wurde noch wirrer. Dabei hatte sie den bunten Vogel gar nicht gewollt. Vor gut zwei Monaten entdeckte sie den Vogelkäfig zufällig vor einem leerstehenden Haus. Trotz aller Vorbehalte hatte das todgeweihte Tier Zita Brunners innere Stimme geweckt. Sie machte eine hundertprozentige Angelegenheit daraus und nahm den Vogel samt Käfig mit.
»Nur für eine Nacht, hast du verstanden!«, sagte sie mit mahnend erhobenem Zeigefinger zum bedauernswerten Tier und nahm sich dabei fest vor, den Kleinen am nächsten Tag in einem Tierheim unterzubringen.
Am folgenden Morgen schaute das Vögelchen sie dann aber mit dermaßen traurigen Knopfaugen an, dass sie weinen musste und dem Tier in einem Anfall sentimentaler Schwäche versprach, es könne noch eine weitere Nacht bleiben. Das ging genau so lange weiter, bis der bunte Vogel anfing, Ansprüche zu stellen und Zita allmählich zu verstehen begann, weshalb die früheren Besitzer den Knirps verraten hatten. Bald war sie der festen Überzeugung, der Vogel empfinde es als asozial, wenn sie, wie gewohnt, mit sich selbst sprach, statt ihn als gleichwertigen Gesprächspartner zu adressieren. Nachts konnte sie nicht mehr richtig schlafen, weil der gefiederte Genosse schnarchte. Im Halbschlaf plagten sie wirre Vogelgedanken.
»Was, wenn Bruno, Reto und Godi davon erfahren und eifersüchtig werden?«, fragte sie sich besorgt. Es war schon so eine Kunst, bei einem Treffen mit einem der drei Lebensabschnittspartner zu verbergen, dass sie noch zwei weitere Beziehungen führte.
Zita glaubte auch, der Vogel missgönne ihr die Kerne, welche sie zum Frühstück ins Müsli streute. Überhaupt war der Federzwerg gemein zu ihr. Er lachte nie, wenn sie einen Witz erzählte, kaum stieß sie aber irgendwo ihre kräftigen Zehen an, was täglich mindestens ein Dutzend Mal geschah, kicherte der fiese Vogel unverhohlen. Natürlich, sein Kichern war nur sehr schwer vom normalen Gezwitscher zu unterscheiden, das Tier war gewieft und wusste seine Bosheiten zu tarnen. Aber Zita war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hörte ganz genau, wenn das Pfeifen bissig wurde. Sprach sie den Vogel darauf an, wechselte er einfach in das übliche Vogel-Blabla und tat so, als wäre nichts gewesen. Und wenn Zita etwas nicht ausstehen konnte, dann war es, wenn sich Mitmenschen (oder in diesem Fall Mit-Tiere) ihr gegenüber unangebracht verhielten und dann so taten, als wäre nichts gewesen. Das machte sie rasend. Beim Staubsaugen sang sie deshalb in letzter Zeit nicht mehr, sondern sie fluchte. »Du verdammtes Huren-Küken! Du undankbares, dreckiges Daune-Schwein! Flieg zur Hölle, du Scheiß-Mini-Poulet!«
Im Nachhinein taten ihr diese Ausbrüche fürchterlich leid. Zur Versöhnung sammelte sie für das Tier frisches Moos oder bereitete ihm irgendeine Beeren-Speise zu.
Zita Brunner fand schließlich – nach langen und gründlichen Überlegungen – sieben Gründe, das Federvieh freizulassen: Erstens war es durchaus möglich, dass es sich beim Vogel um einen Geheimagenten handelte, den man ihr hatte zukommen lassen, um an ihre vorzüglichen, streng geheimen Rezepte zu kommen. Eine Veröffentlichung derselben hätte ihr florierendes Café am Amselweg in Bern möglicherweise zu einem mittelmäßigen Bistro verhunzt. Zweitens hätte sich die depressive Stimmung des gefiederten Wirbeltieres langfristig eindeutig ungünstig auf die neue Bettwäsche ausgewirkt. Sie hatte den edlen Bezug erst kürzlich im Ausverkauf zum halben Preis erstanden und sich unheimlich darüber gefreut. Seit aber dieser elende Vogelkäfig in Schlafzimmernähe stand, wurde sie den Eindruck nicht los, der schwach glänzende Stoff habe an Geschmeidigkeit verloren. Drittens stand es ihr nicht zu, grundlos einen Gefangenen zu halten. Ihr wäre es wichtig gewesen, über die Umstände der Verwahrung des Tieres in Kenntnis zu sein. Wie konnte sie ohne dieses Wissen sicher sein, dass die Gefangenhaltung des Vogels überhaupt gerechtfertigt war? Und sie war im fachgerechten Umgang mit gefiederten Häftlingen ja auch nicht geschult. Es fiel ihr schwer, einen überzeugenden Grund zu finden, sich dahingehend weiterzubilden, auch wenn lebenslanges Lernen heutzutage überall großgeschrieben wird. Viertens befand sie sich seit der Ankunft des Vogels mit seinem Gezwitscher ununterbrochen in einem lästigen Wettkampf, den sie zu ihrem Unmut ausnahmslos verlor, obwohl sie ausgesprochen gut pfeifen konnte. Fünftens war ihr der administrative Aufwand, der eine Anpassung des aktuellen Mietvertrages bedeutet hätte, wenn sie den Vogel statt als Gefangener als WG-Partner behalten wollte, zu mühselig. Sechstens war ihr die Vorstellung, der Vogel könnte erwarten, dass sie künftig ihre Sonnenblumen- und Pinienkerne mit ihm teile, einfach unerträglich. Und siebtens erweckte das armselige Plustern des eingesperrten Vogels ein ungeheuerliches Mitleid in ihr und der mitunter traurige Vogelgesang berührte sie dermaßen, dass ihr über den Zeitraum von zwei Wochen im Café kein einziges Schokoladen-Soufflé mehr gelungen war.
Das ging natürlich gar nicht. Kurzum: Der Vogel musste fort!
Zuerst kam für sie eindeutig nur in Frage, den Vogel samt Käfig einfach wieder da hinzustellen, wo sie ihn gefunden hatte. Aber die innere Stimme schalt sie herzlos. Also spann sie den ursprünglichen Tierheim-Plan weiter. Heimlich wollte sie den Vogel an einer entsprechenden Adresse absetzen.
Die Idee gefiel ihr so sehr, dass sie sogar eine Nachricht verfasste:
Geschätzte Vieh-Liebhaber.
Nach einer sachlichen Bestandsaufnahme, in der mir bewusst wurde, wie wichtig es ist, bei einem Gespräch mit einem Vogel auf seine Füße zu achten (weil diese am ehrlichsten seine Gefühle zum Ausdruck bringen), habe ich eingesehen, wie ungeeignet ich als Vogel-Hirtin bin. Die Tatsache, dass mein gefiederter Kollege in letzter Zeit immer häufiger die Flügel schützend vor dem Rumpf verschränkt, bestätigt mich in dieser Annahme. Ich möchte Sie daher herzlich bitten, sich des bunten Vögelchens anzunehmen. Mögen Sie alle Vogel-Schutzheiligen bei Ihrer Suche nach einer geeigneten Anschlusslösung an Ihrer Seite haben und möge sich einer Ihrer Angestellten die Zeit nehmen, um die hässlichen grauen Gitterstäbe des Vogelkäfigs grün oder hellgelb (oder meinetwegen hellblau) zu streichen.
Freundliche Grüße, Z.B.
Auf den Brief war Zita ungemein stolz. Gerade als sie ihn aber mit einer schnuckeligen Schleife an den Käfig binden wollte, kamen ihr auch über diesen Plan Zweifel.
»Die kennen das Vögelchen nicht, sie werden keine geeignete Unterkunft finden«, sorgte sie sich.
Diese leise Ahnung krabbelte vom Kopf über die Wirbelsäule runter in den Magen und vergällte dort die ohnehin schon sauren Magensäfte. Übles Aufstoßen war die Folge. Beiläufig stellte sie in diesem Zusammenhang fest, dass sie den Vogel eigentlich auch kaum kannte. Tatsächlich kannte sie nicht einmal seinen Namen. Er hatte ihn ihr nie mitgeteilt, obwohl sie sich ihm mehr als einmal ausführlich vorgestellt hatte. Auch hatte sie einfach beschlossen, den Vogel als männlichen Zeitgenossen zu betrachten. Dabei hatte sie weder das Geschlecht des Tieres noch seine sexuelle Gesinnung je überprüft. Was wenn es sich bei dem Vogel um ein Weibchen handelte? Oder um ein Weibchen, das im Körper eines Männchens geboren worden war? Oder um ein schwules Männchen? Oder um ein Weibchen, das lieber ein schwules Männchen hätte sein wollen? Sie fand, dass es jedem Geschöpf freistehen sollte, über die eigene Lebensweise selbst zu entscheiden.
Es gab nur eine Möglichkeit, dem Vogel eine Chance auf Selbstbestimmung zu geben: Er musste raus! Raus in die freie Wildbahn.
Kaum war ihr diese Erkenntnis gekommen, verflogen die vorherigen Bedenken wie Seifenblasen. Nur über die Art und Weise der Freilassung war sie sich nicht sofort im Klaren. Sie wollte den Vogel nicht zwingen, in die Freiheit zu fliegen.
»Wenn er das Leben in Gefangenschaft vorzieht, sollte er im Käfig bleiben dürfen«, überlegte sie.
Kurzerhand lief sie zum Balkon und öffnete die Tür. Dann wandte sie sich dem bunten Vogel zu.
»Heute ist der erste Tag deines selbstbestimmten Lebens«, verkündete sie feierlich, »und mit dieser Handlung stelle ich dich vor deine erste Wahl.«
Zita öffnete den Käfig.
»Dein Habitat erwartet dich«, sagte sie und war außerordentlich stolz darüber, sich des gebildeten Begriffs Habitat bedient zu haben. Sie nahm sich vor, das am nächsten Tag Enzo unter die Nase zu reiben, dem etwas ungepflegten Philosophiestudenten, der für sie im Café arbeitete. Gerade wollte Zita noch einige sentimentale Abschiedsworte an den Vogel richten, als dieser nur ganz knapp an ihrer Nasenspitze vorbeischoss und durch die Balkontür in der Ferne verschwand. Der freche Kerl hatte nicht mal gezögert.
Zita war beleidigt. Sie knallte die Balkontür zu und ballte die Faust.
»Undankbarer Dreckskauz, du!«
Dann setzte sie sich an den Küchentisch, pickte gekränkt ein paar Pinienkerne und trank ein Glas Milch. Die stürmische Abreise des Tiers hatte sie nicht nur beleidigt, vielmehr gab ihr seine unüberlegte Vorgehensweise zu denken. Sie wollte sich ablenken, lief zu ihrer Yogamatte im Büro und machte den Kopfstand. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, sie fühlte ihre Halsschlagader pulsieren.
»Ist das Kerlchen noch gar nicht mündig«, fragte sie sich, in der relativ anstrengenden Pose verharrend, »ist es am Ende vielleicht sogar einfältig oder psychisch labil?«
Die Wahrscheinlichkeit war klein, natürlich, aber sie bestand. Jedenfalls brachten sie diese Gedankengänge ins Wanken. Mental und körperlich. Zu schnell ging sie aus dem Kopfstand in eine aufrechte Haltung über. Von Schwindel ergriffen, stieß sie mit dem Kopf heftig an den Türrahmen.
»Verdammter Vogel«, fauchte sie, »alles nur deinetwegen!«
Fluchend legte sie sich hin und brütete. Während ihr vor diesem Tag Gedanken an den eingesperrten Vogel den Schlaf geraubt hatten, verbrachte sie fortan schlaflose Nächte in Sorge um das freigelassene Tier. Eines Nachts steigerte sie sich dermaßen in Verzweiflung, dass sie sich mit ihren langen, gelb lackierten Fingernägeln blutig kratzte. Wie ein mechanisches Metronom bewegte sie ihre Augen in der Dunkelheit des nächtlichen Zimmers von links nach rechts und wieder zurück.
»Ich habe ihn im Stich gelassen! Er ist da draußen ganz allein, friert und hat Hunger«, dachte sie betrübt.
Nur knapp konnte sie das Weinen unterdrücken. In dieser Nacht traf Zita eine folgenschwere Entscheidung.
»Ich hole ihn zurück!«
Augenblicklich kamen ihre nervösen Augenbewegungen zum Stehen und sie verfiel in einen unverschämt sorglosen Schlaf.
2.
Werner rückte seine Hornbrille zurecht, so wie er das immer zu tun pflegte, bevor er ein Gebäude betrat. Als er vor ungefähr zwanzig Jahren seine Anwalts- und Notariatskanzlei an der Fabrikstraße eröffnet hatte, war ihm sofort durch das gekippte Fenster der köstliche Geruch von Zitas unkonventionellen Backwaren in die Nase gestiegen. Seither nahm er sowohl den Znüni- als auch den Zvieri-Kaffee im Café am Amselweg und unterhielt sich beim Genuss irgendeiner Leckerei mit der kleinen, üppigen Cafébesitzerin. Es faszinierte ihn, wie anziehend diese Frau auf die Männerwelt wirkte. Nebst der Zubereitung vorzüglichen Feingebäcks beherrschte sie auch das Schäkern meisterhaft. Dauernd machten ihr zahlreiche Verehrer die Aufwartung, was erstaunte, denn Zita Brunner war eine ungewöhnliche Frau. Die Gespräche mit ihr verliefen selten erwartungsgemäß und Werner hatte das Café schon einige Male verwirrt oder eingeschnappt verlassen. Aber der Besuch bei ihr erfrischte ihn trotzdem meistens und stellte zum anspruchsvollen Arbeitsalltag eine willkommene Abwechslung dar. Zita war das pure Gegenteil seiner Ehepartnerin Carolina und wenn er unter der Dusche ausnahmsweise mal an sich rumfingerte, kam es daher nicht selten vor, dass die dicke, kleine Zita in seinen erotischen Fantasien aufkreuzte, obwohl er seit über dreißig Jahren treu und ergeben verheiratet war. Besonders Zitas blaue Augen hatten es ihm angetan, obwohl er die Art und Weise, wie sie diese mit schwarzem Kajal umrandete, für eine Frau ihres Alters unangebracht fand. Auch Zitas graues, stets zerzaustes Haar erweckte in Werner ein Verlangen, dass er sich nur schlecht erklären konnte. Im Gegensatz zu Carolina hatte Zita etwas Draufgängerisches an sich und das gefiel ihm. Sich aber tatsächlich mit ihr einzulassen, wäre für Werner nie in Frage gekommen. Während er Zita gelegentlich anhimmelte und körperlich begehrte, liebte er seine Frau bedingungslos, auch wenn diese in letzter Zeit eine mittlere Krise zu durchlaufen schien. Werner vermutete die Gründe in Carolinas Unfruchtbarkeit. Obwohl sie inzwischen sowieso zu alt für Kinder war, schien sie dieses Thema immer wieder einzuholen. Erst vergangene Woche sprach Werner sie darauf an, aber sie stritt vehement ab, in irgendeiner Weise unmutig zu sein, also beließ er es dabei.
Werner setzte sich an einen kleinen Tisch in der Ecke des überschaubaren Cafés und rückte den Anzug, den Carolina ihm geschneidert hatte, zurecht. Etwas missmutig stellte er fest, dass ihn die Hose einengte.
»Ich muss diesem Speckbauch endlich an den Kragen«, dachte er, obwohl er insgeheim glaubte, diesen Vorsatz nicht in die Tat umsetzen zu können.
Ohne seine Bestellung abzuwarten, brachte Zita Werner eine große Tasse Milchkaffee und stellte einen Teller mit einer Madeleine vor seine Nase.
Zitas Madeleines waren im ganzen Quartier bekannt und die einzige Backware, die gar nichts Exotisches an sich hatte. Um wenigstens den Eindruck zu erwecken, es handle sich auch hier um etwas Besonderes, hatte Zita sie von Madeleines in Heinzlis umgetauft.
»Egal wie sie die nennt«, dachte Werner kauend, »sie sind einfach vorzüglich.«
Weil gerade alle Gäste zufrieden und niemand zu bedienen war, setzte sich Zita mit einem Glas warmer Milch an Werners Tisch. Nach einem ausgiebigen Schluck hatte sich über ihrer Oberlippe ein Milchschnauz gebildet. Werner bemühte sich,