Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Akten zur Verteidigung Caspar Hausers: Zeugnisse eines Engagements
Akten zur Verteidigung Caspar Hausers: Zeugnisse eines Engagements
Akten zur Verteidigung Caspar Hausers: Zeugnisse eines Engagements
eBook114 Seiten1 Stunde

Akten zur Verteidigung Caspar Hausers: Zeugnisse eines Engagements

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Leben Jakob Wassermanns (1873–1934) ist der 1908 erschienene Roman ›Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens‹ ein Schlüsselwerk. Mit keinem anderen Stoff hat er sich so eingehend und anhaltend beschäftigt, weit über die Vollendung des Romans hinaus. Im »heimatlichen Mythos« des geheimnisvollen Außenseiters, dem Unverständnis und Misstrauen entgegenschlägt und der schließlich eines gewaltsamen Todes stirbt, fand der unter dem Antisemitismus seiner Umwelt leidende deutsche Jude ein Bild der eigenen Existenz. Und er war fest überzeugt davon, dass Kaspar Hauser tatsächlich der badische Erbprinz war. All dies belegen eindrücklich die hier versammelten Studien und Selbstzeugnisse sowie der Briefwechsel mit Hermann Pies (1888–1983), der durch Wassermanns Roman zu seinen bahnbrechenden Kaspar-Hauser-Forschungen angeregt wurde.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Feb. 2023
ISBN9783772545603
Akten zur Verteidigung Caspar Hausers: Zeugnisse eines Engagements
Autor

Jakob Wassermann

Jakob Wassermann, geboren am 10. März 1873 in Fürth, war einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Werk zeichnet sich durch gründliche historische Recherchen, psychologische Subtilität und eine klare moralische Haltung aus. Neben "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" (1908) ist heute vor allem noch der Justizroman "Der Fall Maurizius" (1928) bekannt, mit seinen Nachfolgebänden "Etzel Andergast" (1931) und "Joseph Kerkhovens dritte Existenz" (1934). Als erschütterndes Zeitbild und Selbstzeugnis ist auch "Mein Weg als Deutscher und Jude" (1921) unvermindert relevant. Von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben, starb Jakob Wassermann, verarmt und seelisch gebrochen, am 1. Januar 1934 im österreichischen Altaussee.

Mehr von Jakob Wassermann lesen

Ähnlich wie Akten zur Verteidigung Caspar Hausers

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Akten zur Verteidigung Caspar Hausers

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Akten zur Verteidigung Caspar Hausers - Jakob Wassermann

    AKTEN ZUR VERTEIDIGUNG CASPAR HAUSERS

    Der Schatten Caspar Hausers

    Es lebte in einer Stadt des westlichen Deutschland vor mehr als vier Jahrzehnten ein Professor, dessen Namen wir aus wohlüberlegten Gründen verschweigen müssen. Es genüge, wenn wir sagen: der Professor. Vielleicht mögen einige bewanderte oder divinatorisch begabte Leser hinter dieser von unserer Diskretion und einem gewissen Mitgefühl errichteten Schranke eine bestimmte Persönlichkeit, wenn auch in verfließenden Zügen, erkennen, das ist dann ein Vorteil, dessen sie ohne Zutun und Verschulden des Autors teilhaftig werden.

    Besagter Professor nun war seit Jahr und Tag mit unermüdlichem Eifer und einer Hingebung, deren nur ein deutscher Mann der Wissenschaft fähig ist, mit der Abfassung eines äußerst umfänglichen Werkes beschäftigt. Er hatte sich nämlich zur Aufgabe gesetzt, die beinahe sagenhaft gewordene, dessenungeachtet aber im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, öffentlicher Streitigkeiten, unabsehbaren Zeitungshaders, endloser Beschuldigungen und Verteidigungen stehende Figur des Findlings Caspar Hauser einer gewissenhaften Prüfung zu unterziehen, ihre Antezedenzien festzustellen, ihre Würdigkeit, ihre Erlebnisse, ihre protokollierten Aussagen, mit einem Wort, ihr Leben und ihr Sterben. Er bediente sich hierbei gleichsam eines unsichtbaren Mikroskops; seine geistigen Augen waren von einer Schärfe, der nichts entging, kein Stäubchen auf der Ehre seines Objekts, keine Regung seiner Seele, keine Wandlung seiner Gesinnung, kein Motiv seines Handelns. So bildete er sich wenigstens ein; es war auch die Meinung seiner Bewunderer, und deren gab es nicht wenige, wie leicht zu glauben, denn jeder Professor hat seine Eingeschworenen und Trabanten hinter sich wie ein römischer Imperator, namentlich dann, wenn er sich im Stande der Negation befindet und etwas Seiendes bekämpft.

    Er schuf an seinem Buche Tag und Nacht. Er hatte im Laufe der Zeit so viel Dokumente angesammelt, dass seine Schreibtischfächer nicht mehr ausreichten, sie zu fassen. Es waren Zeugnisse aus aller Welt, Belege von unwidersprechlicher Art, Indizien von eiserner Kraft, Nachweise von verblüffender Zielsicherheit. Es waren Stammtafeln, behördliche Manifeste, ärztliche Legitimationen, Tauf-, Geburts-, Wohnscheine, Krankenatteste, Obduktionsatteste, Laufzettel, Kriminalakten, Schulhefte, Zensuren, Journalartikel, Biographien, Schädelaufnahmen, Gedichte, Nekrologe und vieles andere mehr. Er konnte darin wühlen wie in einer Kiste voll Juwelen. Er konnte besichtigen, vergleichen, zusammenstellen, richtigstellen, alles mit philologischer Gründlichkeit und Prägnanz. Er konnte es nicht nur, sondern er tat es auch. Außerdem hatte er ein viele hundert Seiten starkes Manuskript vor sich liegen, mit dessen Hilfe er überzeugt war, sich in den Himmel der Unsterblichkeit zu schreiben, jedenfalls aber das Problem, dem er sein Leben weihte, vollkommen zu lösen und für alle Zeiten über das Wirrsal der banalen Meinungsverschiedenheiten emporzuheben.

    In einer Dezembernacht geschah es, dass er, ein wenig ermüdet von der Arbeit, die Feder weglegte, sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Augen hinter der goldgeränderten Brille träumerisch durch das Halbdunkel seiner faustischen Studierstube schweifen ließ. Da gewahrte er in der Ecke, neben dem großen Globus, weit außerhalb des Lampenkreises, eine im Grau der Dämmerung beinahe verrinnende Gestalt. Der Professor zog die Stirne in Falten und wunderte sich, ohne mehr zu erschrecken als es einem aufgeklärten Forscher ziemt. Mit unterdrückter, rauher Stimme rief er: «Hallo, wer da?»

    Die Gestalt zuckte sichtlich zusammen, gewann aber bei dem Anruf bestimmtere Formen und näherte sich der Mitte des Raumes.

    »Ich bin der Schatten», sagte sie kaum vernehmlich.

    »Was für ein Schatten?» erkundigte sich der Professor streng, als habe er einen Schüler vor sich, der sein Pensum nicht gelernt hat.

    »Nun, der Schatten von dem da, von dem Caspar Hauser da», flüsterte die Gestalt und wies mit schimmernder Hand auf das dickleibige Manuskript auf dem Schreibtisch.

    »Wie soll ich das verstehen?» fragte der Professor mit unmutig verzogener Stirn und schob die Brille etwas höher hinauf; «was heißt das: der Schatten? Es gibt keine Schatten. Will sagen: keinen Schatten im Sinne leiblichen Residuums. Entweder du bist es selbst oder du bist eine Imagination. Bist du eine Imagination, so bist du natürlich meine eigene Imagination. Folglich kann und werde ich zu dir sprechen: Hebe dich hinweg. Es könnte ja sein, dass mein überanstrengtes Hirn zur Phantombildung neigt. Derlei liegt mir freilich nicht. Ich glaube nicht an Phantome. Ich glaube nicht an dich, ich glaube nicht, dass du da bist. Verschwinde, elender Geist!»

    «Wenn du es auch nicht glaubst, Herr Professor, ich bin doch der Schatten, ich bin dennoch Caspar Hauser», sagte sanft die Gestalt, und ihre Umrisse wurden allmählich deutlicher.

    Der Professor verschränkte die Arme über der Brust. So entschlossen er auch aussah, konnte er sich gleichwohl eines leichten Schauers nicht erwehren, und mit einer Beklommenheit, die ihn ärgerte, so dass seine Stimme etwas Dumpf-Grollendes hatte, fragte er: «Was willst du? Zu welchem Ende behelligst du mich?»

    Die Gestalt schwieg und senkte den Kopf, doch näherte sie sich dem Schreibtisch noch mehr und blieb erst stehen, als sie mit der schimmernden Hand, die eigentümlich wie ein Lebewesen für sich wirkte, den Bord des Tisches berührte.

    «Wenn ich schon die Hypothese zulasse, dass du hier bist und ein Etwas außerhalb meiner selbst bist«, sagte der Professor in demselben böse grollenden Ton, «so habe ich vor allem das Recht, zu erfahren, welcher Zweck mit dieser zudringlichen Störung verfolgt wird. Den Fall gesetzt also, ich nähme deine Existenz oder scheinbare Existenz zu meiner Kenntnis: Cui bono?»

    Der Schatten deutete abermals auf das handschriftliche Konvolut und sagte: «Du schreibst da ein dickes Buch, Herr Professor –»

    «Ich bin nicht gewohnt, dass man mich duzt», fuhr der Professor zornig auf; «die Tatsache deiner nächtlichen Gespensterhaftigkeit befugt dich noch nicht zu so unverschämt vertraulichem Übergriff.»

    Der Schatten duckte sich ein wenig und wich schüchtern einen halben Schritt zurück. «Da unten sagen wir alle du zueinander», entschuldigte er sich; «ich habe das andere verlernt. Ich kann es nicht mehr. Da unten sind wir Brüder. Du musst mich du sagen lassen, Herr Professor. Meine Hochachtung vor dir bleibt deswegen dieselbe. Es ist nicht nur Hochachtung, es ist auch Angst. Ich habe große Angst vor dir, obgleich ich ein Geist bin und du nicht.»

    «Ha!» rief der Professor.

    «Und ich wollte dich fragen, warum du in deinem Buch da immerfort behauptest, dass ich ein Schwindler und Betrüger bin. Das tut mir weh. Auch wir in der Unterwelt empfinden Schmerz.»

    Der Professor erlangte nach und nach seine ganze Zuversicht zurück. Die bängliche Haltung des Schattens flößte ihm um so größeren Mut ein, als er sie der Wirkung seiner persönlichen Gewalt zuschrieb. «Das wundert dich noch?» fragte er voll Hohn; «beschwerst du dich vielleicht gar? Fünfzig Jahre sind seit deinem Tode vergangen, und noch immer halten deine Schnurrpfeifereien die leichtgläubige Welt in Atem. Wir müssen die Materie, will sagen den Lügenkomplex, in zwei Teile scheiden, a und b. Teil a bezieht sich auf das Erscheinungsmäßige, Teil b auf das Gefasel von der fürstlichen Abkunft.»

    »Ich verstehe das nicht», flüsterte der Schatten mit traurigem Kopfschütteln; «ich habe eure schwere Sprache beinahe schon vergessen.»

    »Ja, du warst immer ein miserabler Schüler», bemerkte der Professor geringschätzig. «Ich will also versuchen, dir die Sache mundgerecht zu machen, und wiederhole: Einerseits haben wir da das unsinnige Märchen von jahrelanger Einsperrung und Dunkelhaft bei Wasser und Brot, von plötzlicher Entführung, Nichtgehenkönnen, Nichtsprechenkönnen; das Auftauchen in der guten, leider nur etwas albernen Stadt Nürnberg,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1