Mehrwert Diplomatie: Einblicke, Einsichten, Erkenntnisse (Otto Meißners Verlag)
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Über dieses E-Book
Anhand konkreter Beispiele aus der diplomatischen Praxis versuchen ehemalige Botschafter und Botschafterinnen hierauf eine Antwort zu geben. Sie berichten u. a. vom Mehrwert diplomatischer Verhandlungen, vom Schutz der Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten, vom Mehrwert diplomatischer "Leiharbeiter", vom Engagement für den afrikanischen Regenwald, vom Spannungsverhältnis zwischen Diplomatie und sozialen Medien, von Solidarität in dramatischen Notfällen, vom Mehrwert der Auswärtigen Kulturarbeit, von einer aktiven diplomatischen Erinnerungskultur oder auch davon, dass selbst "Arbeitsverweigerung" einen Mehrwert darstellen kann.
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Buchvorschau
Mehrwert Diplomatie - Frieling-Verlag Berlin
INHALT
Vorwort
Zuflucht ShanghaiChristine D. Althauser
Ein kaum bekannter Knotenpunkt der Geschichte ist das Kapitel der deutsch-jüdischen und chinesischen Geschichte der 1930er- und 1940er-Jahre. Ein Beitrag über jüdisches Exil in der Metropole Shanghai zeigt, dass die aktive Erinnerungskultur unserer historischen Verantwortung ein Mehrwert diplomatischen Engagements ist.
Mehrwert von Transitional Justice in der AußenpolitikBernd Borchardt
Viele Deutsche Diplomaten begegnen in ihren Gastländern Fragen zur Aufarbeitung von Diktatur und Kriegen weil Deutschland für viele als ein Land gilt, das seine Vergangenheit relativ erfolgreich aufgearbeitet hat. Welchen Mehrwert können wir hier beitragen.
Diplomatie und soziale Medien – wo liegt der Mehrwert, wo die Grenzen der Public Diplomacy?Hans-Jürgen Heimsoeth
Soziale Medien und die damit verbundene „Sichtbarkeit" der deutschen Botschafter/-innen gehören heute zur Diplomatie. Doch führt die Nutzung sozialer Medien immer zum gewünschten Ziel? Wo liegen die Fallstricke?
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik – Mehrwert mit LangzeitwirkungDorothee Janetzke-Wenzel
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist ein bedeutender Tätigkeitsbereich deutscher Diplomaten im Ausland. Durch Förderungen, Stipendien und die Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur entsteht Mehrwert in Form von nachhaltigen Bindungen zu Gastländern.
Schutz der Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten in Nicaragua Ein diplomatischer MehrwertBetina Kern
Als Daniel Ortega, der maßgeblich am Sturz der Somoza-Diktatur beteiligt war, 2007 auf demokratischem Weg an die Macht zurückkehrte, wurde bald erkennbar, dass er ein autoritäres Regime anstrebte. Diejenigen in Nicaragua zu schützen, die für Demokratie und Menschenrechte einstanden, zeugt vom Mehrwert der diplomatischen Arbeit.
Vom Mehrwert der DiplomatieHans-Joachim Kiderlen
Was unterscheidet die Arbeit eines Diplomaten von der Betätigung anderer Akteure auf der Bühne der internationalen Beziehungen? Und welcher Mehrwert verbirgt sich hinter der Dialektik der Voraussetzungen und Vorgehensweisen, mit der die Diplomatie die Synthese gegensätzlicher Positionen ansteuert?
Vier Mehrwert-Beispiele aus der diplomatischen PraxisOtto Lampe
Über die Relevanz der Koalitionsfreiheit in der deutschen und brasilianischen Verfassung, über den Mehrwert konsularischer „Arbeitsverweigerung, über den Mehrwert von Gratis-PR und über den Mehrwert von „Blumendiplomatie
.
Vom Mehrwert der Diplomatie in der „Kulturhauptstadt der Welt"Thomas H. Meister
Mehrwert der Diplomatie in der Kulturförderung wird an Beispielen wie der Präsentation zum Projekt „Verhüllter Reichstag", Auftritten von Pina Bausch und Aufführungen des Thalia Theaters veranschaulicht.
Die Pupille des Drachen – Vom Mehrwert diplomatischer VerhandlungenChristian Much
Verhandlungen gelten als Kernstück und entscheidender Mehrwert der Diplomatie. An sie werden Hoffnungen für die einvernehmliche Lösung international umstrittener Fragen geknüpft. Wie groß ist aber die Macht der Verhandlungskunst und welchen realistischen Einfluss kann man von dieser erwarten?
In den Klippen von Miraflores, ein Ort der Erinnerung für PeruChristoph Müller
Konnte aus dem Trauma der zwischen 1980 und 2000 erlittenen „zwanzig Jahre der Gewalt" in Peru auch etwas Positives entstehen? Ein diplomatischer Hindernislauf der deutschen Botschaft in Lima bewirkte, dass Zivilgesellschaft und Regierung Perus ein einzigartiges Projekt in die Tat umsetzten.
Synergien (vom Mehrwert der „MAP")Giselle Raynal de Ataíde Lampe
Das ehrenamtliche Engagement der MAP (Mitausreisenden Partner/-innen) stellt einen ungenügend gewürdigten, aber enormen Mehrwert für die deutsche Außenpolitik. An einem Beispiel zeigt sich, wie dieser Mehrwert durch die Berufstätigkeit der MAP ergänzt werden kann.
LeiharbeiterWolfgang Schultheiss
Ausgebildete Diplomaten werden nicht nur im Außenministerium und an den Botschaften gebraucht. Wie sie in anderen Institutionen einen Mehrwert erbringen, wird am Beispiel des Bundespräsidialamts und des Senats der Freien Hansestadt Bremen gezeigt.
Betrachtung des Flächenbrands: Diplomatie und Gewalt nach dem Kalten KriegHans-Ulrich Seidt
Das Ende des Kalten Krieges führte nicht zu der ersehnten langen Friedensperiode. Illusorische Hoffnung trifft auf gewaltsame Wirklichkeit. Um den Mehrwert der Diplomatie für die Zukunft nutzen zu können, bedarf es einer realistischen Betrachtung und Bewertung von Ursachen und Folgen des Flächenbrandes der Gewalt.
Klimaaußenpolitik – Rettet den afrikanischen Regenwald!Wilhelm Späth
Die Rettung des afrikanischen Regenwaldes – für die Menschheit überlebenswichtig – erfordert langfristige und glaubwürdige Überzeugungsarbeit über viele Generationen hinweg. Eine wichtige Aufgabe für die deutschen Auslandsvertretungen und ein Mehrwert für die deutsche Außenpolitik.
Unglück, Tod und historisches Gedenken in der DiplomatieSusanne Wasum-Rainer
Zu den Früchten des diplomatischen Mehrwerts gehören Gesten der Solidarität in dramatischen Notfällen, behutsamer Umgang bei Bewältigung sensibler geschichtlicher Wunden und empathischer Beistand bei Tragödien. Anhand der Beispiele des Staatsbesuchs in Oradour-sur-Glane sowie der Reaktion auf den Flugzeugabsturz in den französischen Westalpen sollen diese Aspekte beleuchtet werden.
Hinter den Kulissen der UNESCOMichael Worbs
„Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie." Dieser Spruch beschreibt den Kern und den Mehrwert der multilateralen diplomatischen Verhandlungen, die oft ein mühsames Geschäft mit unversöhnlichen Positionen und schwer erreichbaren Kompromissen bedeuten.
Nachwort zu Otto Meißners VerlagSusanne Pross
VORWORT
Vorwort
Prof. Sabine von Schorlemer
Mit eindringlichen Worten mahnt der UN-Generalsekretär in seinem Bericht „Our Common Agenda, dass die Menschheit sich an einem historischen Wendepunkt befinde, da ihre Zukunft von Solidarität und der Zusammenarbeit als einer globalen Familie zur Erreichung gemeinsamer Ziele abhänge. Was kann vor diesem Hintergrund die Diplomatie leisten, und vor allem, was „muss
sie in der Praxis bewerkstelligen, um im Lichte von zunehmend ineinander verschachtelten, multiplen Krisen die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern bzw. zumindest Lösungen dafür zu unterstützen?
Die Frage nach dem „Mehrwert, dem „added value
, der Diplomatie stellt sich aktuell in vielerlei Hinsicht, am dringendsten wohl in Bezug auf die die Menschheit in ihrer Gesamtheit bedrohende Klimakrise und damit verbunden auf Artensterben und Armut. Aber auch Menschen und ihre Kultur vernichtende Kriege, wie derzeit der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, und einsetzender Völkermord, etwa auch in Äthiopien und Myanmar, fordern die diplomatischen Beziehungen heraus. Dabei besitzt die Diplomatie traditionell eine große Verhandlungsexpertise. Zu nennen sind etwa die auf Initiative von Zar Nikolaus II und Mitwirkung des russischen Diplomaten Friedrich Fromhold Martens (1845-1909) in Den Haag abgehaltenen Friedenskonferenzen von 1899/1907. Sie führten zu dem ältesten und bis heute gültigen Dokument des ius in bello, der Haager Landkriegsordnung. Letztere zählt zu den Grundfesten des im Krieg anwendbaren Rechts.
Ohne Zweifel verdanken wir der bi- und multilateralen Diplomatie wesentliche Grundlagen und Institutionen, auf die heutige Gesellschaften ihre Unabhängigkeit und ihren Wohlstand gründen. Denken wir nur an das Welthandelsrecht, das Seevölkerrecht mitsamt der Bekämpfung der Piraterie, das internationale Umweltrecht, aber auch den Menschenrechtsschutz; die Liste ist nicht abschließend. Stets war und ist es diplomatischem Geschick geschuldet, wenn wesentliche Durchbrüche bei der Schaffung von neuen Normen und Institutionen erreicht wurden. So wurde der deutsche Diplomat Hans-Peter Kaul (1943–2014) anerkanntermaßen zur Schlüsselfigur der mehrjährigen internationalen Verhandlungen zum Internationalen Strafgerichtshof und in der Folge zugleich auch einer der Richter der ersten Stunde.
Doch stellt sich die Frage, ob angesichts komplexer Krisen die Diplomatie nun selbst in eine Art Krisenmodus versetzt zu werden droht. Denkt man etwa an die derzeit öffentlich geführten Debatten um diplomatische Kontakte, wie sie für humanitäre Erleichterungen und Waffenstillstandsvereinbarungen in Kriegszeiten notwendig sind, so könnte der Eindruck entstehen, das Vertrauen in die Diplomatie sei im Schwinden begriffen.
Vergessen wir dabei nicht: Die Europäische Union selbst ist nicht nur ein großartiges Friedensprojekt, sondern auch ein klares Bekenntnis zum Multilateralismus, verankert in einer internationalen regelbasierten Ordnung, die auf den Prinzipien souveräner Gleichheit, des Gewalt- und Interventionsverbots in den internationalen Beziehungen und dem Primat der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten basiert. Auch für die Diplomatie der Europäischen Union und der in ihr vereinten Demokratien gilt daher stets: para pacem.
Eine wesentliche Stärke der Diplomatie ist generell ihre Ubiquität und ihre dauerhafte Präsenz: Alle Staaten unterhalten weltweit Botschaften und Konsulate sowie multilaterale Vertretungen in internationalen Organisationen. Die klassische Diplomatie birgt somit den Vorteil, dass der Gesprächsfaden in den internationalen Beziehungen nicht abreißt, auch dann nicht, wenn Krisen sich verschärfen. Selbst dann etwa, wenn militärische Konflikte zwischen Staaten ausgetragen werden, begegnen sich Diplomatinnen und Diplomaten üblicherweise weiterhin in multilateralen Foren.
Die Diplomatie behält also in Krisen ihre Stimme, auch wenn andere Gesprächs- und Verhandlungskanäle verstummen. In diesem Sinne macht die Diplomatie Mut: Sie ist darauf gegründet, dass es auf universelle Werte und Prinzipien gegründeten Politiken, bei kluger Voraussicht und intensiver Nutzung der multilateralen Institutionen, gelingen mag, die existierenden Sicherheitsrisiken im 21. Jahrhundert zu reduzieren und sich dabei auch neu aufflammenden Nationalismen, Extremismen und diskriminatorischer Ausgrenzung entgegenzustemmen.
Um die in sie gesetzten Erwartungen einzulösen, erprobt die deutsche Außenpolitik derzeit mit dem von mehreren privaten Stiftungen unterstützten „Global Diplomacy Lab" (GDL), dessen Mitglieder aus den Berufsfeldern der klassischen Diplomatie, der Wirtschaft, NGOs und der Zivilgesellschaft kommen, neue und inklusive Formen der Diplomatie, die über herkömmliche Politikansätze hinausgehen. Dies kann man auch als ein wichtiges partizipatorisches Signal für die junge Generation ansehen, die fürchtet, einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen und nicht bereit ist, dies klaglos hinzunehmen. Die erforderliche solidarische Kooperation zwischen Staaten des Nordens und des globalen Südens, aber auch zwischen den Staaten des Südens und den in ihnen lebenden Menschen auszubauen, und es dabei nicht bei Worten zu belassen, sondern auch notwendige Ressourcen zu allozieren, ist ein immens wichtiges Signal für die Zukunfts-, ja Überlebensfähigkeit unseres Planeten und damit auch eine prioritäre Aufgabe der Diplomatie.
Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Sammelband ein faszinierendes Werk, das im Wege von Erfahrungsberichten aus erster Hand sowie Schilderungen des diplomatischen Lebens und Erlebens den Mehrwert der Diplomatie in verschiedenen Facetten beleuchtet. Die Selbstreflexion von erfahrenen Diplomatinnen und Diplomaten, angereichert zum Teil mit Anekdoten, immer aber gepaart mit dem ernsthaften Versuch, Brücken zwischen Kulturen zu schlagen, ist zugleich ein Beitrag zum besseren gegenseitigen Verständnis, zu internationaler Verständigung und, wo immer nötig, auch Aussöhnung. In Zeiten der Krise – so auch das Plädoyer der Verfasserin dieses Vorworts, die selbst mehrere Jahre als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Auswärtigen Amtes für VN-Politik tätig sein durfte – braucht es nicht weniger, sondern mehr Diplomatie.
Dabei ist die Diplomatie bereits ein Mehrwert in sich, ein Versuch des Interessensausgleichs, der (oft schwierigen) Lösungsfindung, des konstruktiven Miteinanders, und zwar nicht nur in den klassischen Feldern der internationalen Politik, der Wirtschaft und der multilateralen Verhandlungen, sondern auch in weniger beachteten Anwendungsbereichen. Dazu zählen unter anderem der Kulturerhalt, die Beratung anderer Institutionen, die Öffentlichkeitsarbeit und die Umweltpolitik. Konstruktive diplomatische Methoden sind auch immer dort gefragt. Eben dies reflektiert der vorliegende Band in anschaulicher und lesenswerter Weise. Er macht mit seiner klaren Orientierung an Werten und Idealen, welche Diplomatie nach innen und außen leiten, aber auch dem Willen zur Verteidigung gegen Widerstände in bemerkenswerter Weise deutlich, wozu die klassische Diplomatie auch in Zeiten von digitaler Informationsgewinnung in Echtzeit und professionalisierter Public Diplomacy in der Lage ist.
Es ist der Arbeit der Diplomatinnen und Diplomaten vor Ort, ihrem Engagement und ihrem Geschick geschuldet, dass auch extracurriculäre Projekte und Aktivitäten einen – vielleicht nicht immer spektakulären, aber nichtsdestotrotz substanziellen – „Mehrwert schaffen. In einem an Karl Marx angelehnten Sinne wird durch eigene geistige Arbeit und physische diplomatische Präsenz den vorhandenen Werten und Praxen etwas durchaus Substanzielles hinzugefügt und tatsächlich „Mehrwert
erreicht. In diesem Lichte betrachtet, besitzt die deutsche Diplomatie mit Blick auf die Zukunft zweifelsohne das Potenzial, ihre Flexibilität unter Beweis zu stellen, Verantwortung zu übernehmen und mit Selbstbewusstsein und Mut zur Lösung von Weltproblemen beizutragen.
Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemer (M. A.), Staatsministerin a. D., ist Inhaberin des Lehrstuhls für Völkerrecht, Recht der Europäischen Union und Internationale Beziehungen der TU Dresden sowie des UNESCO-Lehrstuhls für Internationale Beziehungen (Paris / Dresden).
CHRISTINA D. ALTHAUSER
Zuflucht Shanghai
Der Mehrwert der Diplomatie – ein großes Wort. Wäre es nicht preiswerter, den Auswärtigen Dienst einzudampfen, die Vertretungen Deutschlands „auszudünnen, die Zahl der diplomatischen Vertreter zu reduzieren? Schließlich geriert sich jeder Fußballer als Botschafter seines Landes. Der Begriff ist urheberrechtlich nicht geschützt, ein jeder und eine jede kann sich Botschafter nennen. Also – wohin mit dem Original? Braucht es sie oder ihn noch? Oder „kann das weg
?
Beispiel China, Beispiel Shanghai. Eines der größten Generalkonsulate der Bundesrepublik weltweit, größte Auslandsschule, größte (oder zumindest fast größte) Außenhandelskammer, große Anzahl (mehrere Tausend) deutscher Staatsangehöriger vor Ort. Ein Ort der Superlative. Ein Laboratorium der Moderne. Immer alles gesehen vor der Zäsur, die Corona mit sich brachte. Corona, das Virus, das die Welt veränderte und das auch Chinas Beziehungen zur Außenwelt neu justierte.
Shanghai stand auf dem Reiseplan so gut wie jeder deutschen Delegation. Und deren gab es – wie gesagt: immer gerechnet in Vor-Corona-Zeiten – gar viele. Der Akzent lag in den allermeisten Fällen der Reisen auf Wirtschaftsfragen. Nichts dagegen einzuwenden; über lange Jahre war der Austausch vom Glauben des „Win-win" getragen, von der Annahme, beide Seiten profitierten. Nun kommen Überlegungen zu Abhängigkeiten, zu Naivität mit ins Spiel – diese öffnen den Raum auf eine Sicht, die nicht konzentriert ist allein auf ökonomische Fragen, sondern verstärkt auch kulturelle und geschichtliche Aspekte mit in den Diskurs zieht.
Geschichte und Kultur wollen gerade beim Umgang mit China immer mit bedacht sein – das gilt für alle Länder dieser Welt, bei China sicher auch ganz besonders. Insofern sind Sprachkenntnisse und Wissen um Geschichte und Kultur der Diplomaten vor Ort kein „nice to have" sondern eine conditio sine qua non. Briten, US-Amerikaner machen dies in ihrer akribischen (und durchaus zeitintensiven) Postenvorbereitung vor. Zurück zu Shanghai: Eine Megacity mit heute – wahrscheinlich – etwa 26 Millionen Menschen. Niemand weiß das so genau. Keine Stadt im (recht elitären) chinesischen Kulturkosmos wie die benachbarten Städte Hangzhou oder Suzhou oder auch Nanjing, die auf eine viel längere Kulturtradition zurückschauen können. Nein, Shanghai ist eine Stadt am Meer (wie der Name besagt), in chinesischer Perspektive noch bis vor kurzer Zeit ein Fischerdorf. Aber auch Gründungsort der chinesischen KP (1921). Eine Stadt, die sich rasant entwickelte und die durch eben ihre Lage am Meer auch immer Fühler nach draußen hatte.
Shanghai erfindet sich immer wieder neu. Für Alteuropäer in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit. Das Alte wird nicht zwangsläufig beiseitegeschoben; es kann bestehen bleiben, wenn es nicht stört und Geschäften nicht im Wege steht. Die Stadt ist einerseits das besagte Laboratorium der Moderne, andererseits ein mit Geschichte(n) überhäufter Ort. Shanghai ist über das Meer mit dem Draußen verbunden, das Draußen kommt über die Seefahrt auch nach Shanghai hinein.
So geschehen auch in den 30er-Jahren für einige Tausend jüdischer Vertriebener, die in Shanghai Aufnahme fanden beziehungsweise nach Shanghai fliehen und so ihr blankes Leben retten konnten. Zwischen 1938 und 1947 fanden um die 20 000 Menschen, verjagt aus Deutschland und Österreich, später auch aus Ländern Ost-und Südosteuropas, Zuflucht in Shanghai. Einige wenige kamen auch schon vor 1938 nach Shanghai. So gut wie alle von ihnen verließen Shanghai wieder, die meisten spätestens bis Gründung der Volksrepublik im Oktober 1949. Die letzten blieben bis 1958; nur eine Handvoll blieb für immer. Shanghai war somit Zuflucht, aber doch kein Ort zum Bleiben. Für einige Jahre aber ein Knotenpunkt jüdisch-deutscher Geschichte in China. Und heutzutage ziemlich wenig bekannt. Schändlich wenig bekannt. Insofern – Aufgabe für die deutsche diplomatische Vertretung, dieses Bruchstück deutsch-jüdischer gemeinsamer Vergangenheit dem Vergessen zu entreißen. Wie?
Mit dem üblichen Handwerkszeug. Kontakte spinnen, angelegte pflegen, Ideen einbringen und vor allem diese auch umsetzen. Es gibt ein Museum im Stadtteil Hongkou, wo das jüdische Ghetto lag. Das Museum wurde vor kurzer Zeit, vor Corona, erweitert und umgebaut. Es wird zum Teil offizieller Stadtgeschichte, was Vor- und Nachteile hat. Der Vorteil liegt in der besseren finanziellen Ausstattung, der Nachteil im eingeengten Blickwinkel und politischen Diskurs. Gleichwohl: Der Besuch dieses Viertels, der Besuch dieser Erinnerungsstätte, an der so viele Lebensfäden zusammenlaufen, sollte ein fester Besuchspunkt eines jeden Shanghai-Reisenden sein. Eine ständige Aufgabe für die Vertretung vor Ort.
Stichwort Lebenslinien: Es gibt unermüdlich Forschende, die diese Linien nicht einfach der Vergangenheit anheimfallen lassen wollen. Eine ist Sonja Mühlberger; unter schwierigen Umständen gelang ihren Eltern (der Vater war unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 verhaftet und nach Dachau verschleppt worden; er kam frei – mit der Auflage zur Ausreise) der mühsame Weg in den Fernen Osten. Die Tochter Sonja kam dort im Herbst 1939 zur Welt. Eines der „Shanghai Kids", um die sie sich bis heute kümmert, deren Namen sie sammelt und nicht dem Vergessen überlassen will. So ist in jenem Shanghaier Museum eine Wand der Namen entstanden, fast 20 000 sind es. Berühmte und weniger berühmte.
Der ehemalige US-Finanzminister (und ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin) Michael W. Blumenthal ist darunter; auch Michael Nathanson, der heute im badischen Schmieheim lebt und dessen Mutter Ruth Nathanson ihre Erinnerungen an Shanghai unter dem Titel „Zwischenstation. Überleben in Shanghai" veröffentlichte. Viele solcher Namen und Geschichten wären aufzuzählen. Jede für sich ergreifend, oft unglaublich die verschlungen absurden Wege, die immer zurückweisen auf den zerstörerischen Irrwitz der NS-Diktatur. Der ist immer im Gepäck der deutschen Vertreter und Vertreterinnen im Ausland, egal wo – zu Recht. Auch heute.
Nochmals: Was hat uns das in China zu interessieren? Einiges. Einmal das Gepäck deutscher Geschichte, die jeder Vertreterin und jedem Vertreter Deutschlands im Ausland mitgegeben ist. Man sollte dies nicht nur als Bürde ansehen, auch als Chance. In dem chinesischen Wort für Krise oder Herausforderung sind übrigens zwei Zeichen als Binomen zusammengefasst, eben das für Krise und das für Chance. Man kann dies als Ansporn nehmen. In Shanghai wurde der Austausch zu chinesischen Institutionen und Wissenschaftlern intensiviert, die sich mit der jüdischen Emigration befassen. In Heidelberg, im dortigen Stadtarchiv, gibt es ein Pendant. Auf europäischer Ebene wurden gemeinsame Veranstaltungen (unter anderem mit dem tschechischen Generalkonsul in Shanghai) initiiert und umgesetzt. Der Vertreter Israels lud zur Synagogennacht ein. Und wenn eine quirlig beeindruckende Frau wie Sonja Mühlberger aus Berlin kommend ihre Geburtsstadt Shanghai besuchte, so setzte sie dort unermüdlich ihre Erinnerungsarbeit fort, gab diese aber in Gesprächen mit der jungen Generation weiter. Wie gesagt – Shanghai hat die größte deutsche Auslandsschule weltweilt. Die Bande mit ihr, mit vielen der Beteiligten, bestehen fort. Es ist eine gemeinsame Arbeit, die sich immer wieder neu bildet. Die Vergangenheit wirkt fort, sie ist nie zu Ende. Denn wie heißt es doch so treffend: Die Vergangenheit ist noch nicht einmal vergangen.
Mir persönlich unter die Haut gegangen ist die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Frau Mühlberger in Shanghai – selten habe ich mich so in absolutem Einklang gefunden mit der abstrakten Aufgabe, die Bundesrepublik Deutschland vertreten zu dürfen. Ein Moment des Mehrwerts von Diplomatie. Es war ein Augenblick des Verknüpfens von Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch Zukunft; ein besseres Miteinander, eine Zukunft mit mehr Raum für die Lebenslinien eines jeden Menschen. Frau Mühlbergers Vorträge im Umkreis dieser Auszeichnung, gerade auch vor Schülern, holten uns alle zurück in diese wirre Zeit, zeigten aber auch, dass es sich zu kämpfen lohnt und dass Zusammenhalt und Verständnis füreinander keine leeren Worte sind.
Eines Tages wird auch China seine Pforten wieder weiter und großzügiger öffnen, die rigide Covid-Zero-Strategie hinter sich lassen. Dann wird es nützlich sein, die erprobten Pfade wieder besser zu nutzen. „China matters", das ist für die Wirtschaft nach wie vor zutreffend. Es gilt auch für das seit vielen Jahren dicht geknüpfte Netz an Beziehungen zwischen den Menschen hier wie dort, sei es