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Allmächtiger Staat: Der Aufstieg des totalen Staates und der totale Krieg
Allmächtiger Staat: Der Aufstieg des totalen Staates und der totale Krieg
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eBook731 Seiten8 Stunden

Allmächtiger Staat: Der Aufstieg des totalen Staates und der totale Krieg

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Über dieses E-Book

Allmächtiger Staat setzt sich mit dem Missbrauch von staatlicher Macht auseinander. Ludwig von Mises geht in diesem Buch den Quellen des Nationalsozialismus nach. Er liefert eine ökonomische Erklärung für die internationalen Konflikte, die beide Weltkriege auslösten. Es ist das Buch eines Zeitzeugen. Obwohl Ludwig von Mises das Buch 1944 verfasste, ist die Kernaussage des Buches von unmittelbarer Aktualität: Staatseingriffe in die Wirtschaft führen zu Konflikten und Kriegen. Ludwig von Mises zufolge ist die letzte und beste Hoffnung für den Frieden der Liberalismus – die Philosophie der Freiheit, der freien Märkte, der begrenzten Regierung und der Demokratie.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Okt. 2022
ISBN9783347745629
Allmächtiger Staat: Der Aufstieg des totalen Staates und der totale Krieg
Autor

Ludwig von Mises

Ludwig von Mises wurde am 29. September 1881 Lemberg (heute Lwiw, Ukraine) geboren und starb am 10. Oktober 1973 im Alter von 92 Jahren in New York. Ludwig von Mises ist der führende Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie sowie einer der konsequentesten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Hauptwerke sind Meilensteine der Nationalökonomie. Ludwig von Mises stand als Liberaler auf der Schwarzen Liste bei den Nationalsozialisten. Er emigrierte 1940 in die Vereinigten Staaten. Sein Buch Omnipotent Government war sein erstes nach seiner Ankunft. Es ist eine dauernde Mahnung und liegt mit der vorliegenden Ausgabe in deutscher Übersetzung vor. Im Jahr 1949 erschien mit Human Action sein monumentalstes Werk, dessen Vorgänger die Nationalökonomie war. Ludwig von Mises nahm die Herausforderung seiner eigenen Methodik und seines Forschungsprogramms an und erarbeitete eine integrierte und massive Struktur der Wirtschaftstheorie auf der Grundlage seiner eigenen deduktiven, praxeologischen Prinzipien. Es wendet sich durch seine sprachliche Klarheit nicht an die durch Steuern finanzierte und subventionierte akademische Elite, die in der Regel Etatisten sind, sondern an das allgemeine Publikum.

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    Buchvorschau

    Allmächtiger Staat - Ludwig von Mises

    Einführung

    1.

    Der wesentliche Punkt in den Plänen der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ist die Eroberung von Lebensraum¹ für die Deutschen, d. h. eines Territoriums, das so groß und reich an natürlichen Ressourcen ist, dass sie in wirtschaftlicher Autarkie auf einem Niveau leben können, das nicht niedriger ist als das irgendeiner anderen Nation. Es liegt auf der Hand, dass dieses Programm, das alle anderen Nationen herausfordert und bedroht, nur durch die Errichtung einer deutschen Welthegemonie verwirklicht werden kann.

    Das Erkennungszeichen des Nationalsozialismus ist weder Sozialismus noch Totalitarismus noch Nationalismus. In allen Nationen sind die „Progressiven" heute bestrebt, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen. Während sie die deutschen Aggressoren bekämpfen, übernehmen Großbritannien und die Vereinigten Staaten Schritt für Schritt das deutsche Modell des Sozialismus. Die öffentliche Meinung in beiden Ländern ist voll und ganz davon überzeugt, dass eine allumfassende Lenkung der Wirtschaft in Kriegszeiten unvermeidlich ist, und viele namhafte Politiker und Millionen von Wählern sind fest entschlossen, den Sozialismus nach dem Krieg als dauerhafte neue Gesellschaftsordnung zu erhalten. Diktatur und gewaltsame Unterdrückung Andersdenkender sind auch keine besonderen Merkmale des Nationalsozialismus. Sie sind die sowjetische Regierungsform und werden als solche in der ganzen Welt von den zahlreichen Freunden des heutigen Russlands befürwortet. Der Nationalismus – eine Folge der Einmischung der Regierung in die Wirtschaft, wie in diesem Buch gezeigt wird – bestimmt in unserem Zeitalter die Außenpolitik jeder Nation. Was die Nationalsozialisten als solche kennzeichnet, ist ihre besondere Art des Nationalismus, das Streben nach Lebensraum.

    Dieses Ziel der Nationalsozialisten unterscheidet sich im Prinzip nicht von den Zielen der früheren deutschen Nationalisten, deren radikalste Gruppe sich in den dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Alldeutsche² (Pangermanisten) nannte. Dieser Ehrgeiz war es, der das kaiserliche Deutschland in den Ersten Weltkrieg trieb und – fünfundzwanzig Jahre später – den Zweiten Weltkrieg entfachte.

    Das Lebensraumprogramm kann nicht auf frühere deutsche Ideologien oder auf Präzedenzfälle in der deutschen Geschichte der letzten fünfhundert Jahre zurückgeführt werden. Deutschland hatte seine Chauvinisten wie alle anderen Nationen auch. Doch Chauvinismus ist nicht Nationalismus. Chauvinismus ist die Überbewertung der Errungenschaften und Qualitäten der eigenen Nation und die Herabsetzung anderer Nationen; an sich führt er zu keiner Handlung. Der Nationalismus hingegen ist eine Bauanleitung für politisches und militärisches Handeln und der Versuch, diese Pläne zu verwirklichen. Die deutsche Geschichte ist, wie die Geschichte anderer Nationen, die Aufzeichnung von Fürsten, die auf Eroberung erpicht waren; aber diese Kaiser, Könige und Herzöge wollten Reichtum und Macht für sich und ihre Verwandten erwerben, nicht Lebensraum für ihre Nation. Der deutsche aggressive Nationalismus ist ein Phänomen der letzten sechzig Jahre. Er hat sich aus den modernen Wirtschaftsbedingungen und den wirtschaftspolitischen Maßnahmen entwickelt.

    Nationalismus darf auch nicht mit dem Streben nach Volksherrschaft [popular government], nationaler Selbstbestimmung und politischer Autonomie verwechselt werden. Als die deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts darauf abzielten, die tyrannische Herrschaft von etwa dreißig Fürsten durch eine demokratische Regierung der gesamten deutschen Nation zu ersetzen, hegten sie keine feindlichen Absichten gegen andere Nationen. Sie wollten den Despotismus beseitigen und eine parlamentarische Regierung errichten. Sie dürsteten nicht nach Eroberung und territorialer Ausdehnung. Sie hatten nicht die Absicht, die polnischen und italienischen Gebiete, die ihre Fürsten erobert hatten, in den deutschen Traumstaat einzugliedern, sondern sympathisierten mit den Bestrebungen der polnischen und italienischen Liberalen, unabhängige polnische und italienische Demokratien zu errichten. Sie waren bestrebt, das Wohlergehen der deutschen Nation zu fördern, aber sie glaubten nicht, dass die Unterdrückung fremder Nationen und die Schädigung von Ausländern ihrer eigenen Nation am besten diente.

    Nationalismus ist auch nicht identisch mit Patriotismus. Patriotismus ist der Eifer für das Wohlergehen, die Blüte und die Freiheit der eigenen Nation. Der Nationalismus ist eine der verschiedenen Methoden, die für die Erreichung dieser Ziele vorgeschlagen werden. Doch die Liberalen behaupten, dass die vom Nationalismus empfohlenen Mittel unangemessen sind und dass ihre Anwendung nicht nur die angestrebten Ziele nicht verwirklichen, sondern im Gegenteil zu einer Katastrophe für die Nation führen muss. Auch die Liberalen sind Patrioten, aber ihre Ansichten über die richtigen Wege zu nationalem Wohlstand und Größe unterscheiden sich radikal von denen der Nationalisten. Sie empfehlen freien Handel, internationale Arbeitsteilung, Wohlwollen und Frieden unter den Völkern, nicht um der Ausländer willen, sondern um das Glück der eigenen Nation zu fördern.

    Das Ziel des Nationalismus ist es, das Wohlergehen der gesamten Nation oder bestimmter Gruppen ihrer Bürger zu fördern, indem Ausländern Schaden zugefügt wird. Die herausragende Methode des modernen Nationalismus ist die Diskriminierung von Ausländern im wirtschaftlichen Bereich. Ausländische Waren werden vom inländischen Markt ausgeschlossen oder nur nach Zahlung eines Einfuhrzolls zugelassen. Ausländische Arbeitskräfte werden vom Wettbewerb auf dem inländischen Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Ausländisches Kapital unterliegt der Konfiskation. Dieser wirtschaftliche Nationalismus muss zum Krieg führen, wenn die Geschädigten glauben, stark genug zu sein, um die Maßnahmen, die ihrem eigenen Wohlergehen abträglich sind, mit Waffengewalt zu beseitigen.

    Die Politik einer Nation bildet ein integrales Ganzes. Außen- und Innenpolitik sind eng miteinander verknüpft; sie sind ein einziges System und bedingen sich gegenseitig. Der wirtschaftliche Nationalismus ist die logische Folge der heutigen innenpolitischen Maßnahmen der staatlichen Einmischung in die Wirtschaft und der nationalen Planung, so wie der freie Handel die Ergänzung der wirtschaftlichen Freiheit im Inland war. In einem Land mit freiem Binnenhandel kann es Protektionismus geben, aber wo es keinen freien Binnenhandel gibt, ist Protektionismus unverzichtbar. Die Macht einer nationalen Regierung ist auf das Gebiet beschränkt, das ihrer Souveränität unterliegt. Sie hat nicht die Macht, direkt in die Bedingungen im Ausland einzugreifen. Wo es freien Handel gibt, würde der ausländische Wettbewerb sogar kurzfristig die Ziele vereiteln, die mit den verschiedenen staatlichen Interventionen in die inländische Wirtschaft angestrebt werden. Wenn der inländische Markt nicht bis zu einem gewissen Grad von ausländischen Märkten abgeschottet ist, kann von staatlicher Lenkung keine Rede sein. Je weiter eine Nation auf dem Weg zu staatlicher Regulierung und Organisierung voranschreitet, desto mehr wird sie in die wirtschaftliche Isolation getrieben. Die internationale Arbeitsteilung wird verdächtig, weil sie die volle Nutzung der nationalen Souveränität behindert. Die Tendenz zur Autarkie ist im Wesentlichen eine Tendenz der nationalen wirtschaftspolitischen Maßnahmen; sie ist das Ergebnis des Bestrebens, dem Staat in wirtschaftlichen Angelegenheiten den Vorrang einzuräumen.

    In einer Welt des freien Handels und der Demokratie gibt es keine Anreize für Krieg und Eroberung. In einer solchen Welt spielt es keine Rolle, ob sich die Souveränität einer Nation auf ein größeres oder ein kleineres Gebiet erstreckt. Seine Bürger können aus der Annexion einer Provinz keinen Vorteil ziehen. So können territoriale Probleme unvoreingenommen und leidenschaftslos behandelt werden; es ist nicht schmerzhaft, den Ansprüchen anderer Menschen auf Selbstbestimmung nachzukommen. Das freihändlerische Großbritannien gewährte den britischen Siedlungen in Übersee freiwillig den Herrschaftsstatus, d. h. faktische Autonomie und politische Unabhängigkeit, und trat die Ionischen Inseln an Griechenland ab. Schweden unternahm keine militärischen Aktionen, um den Bruch des Bandes zwischen Norwegen und Schweden zu verhindern; das Königshaus Bernadotte verlor seine norwegische Krone, aber für den einzelnen schwedischen Bürger war es unerheblich, ob sein König auch Souverän von Norwegen war oder nicht. In den Tagen des Liberalismus konnten Menschen glauben, dass Plebiszite und die Entscheidungen internationaler Gerichte alle Streitigkeiten zwischen den Nationen friedlich lösen würden. Um den Frieden zu sichern, war der Umsturz antiliberaler Regierungen erforderlich. Einige Kriege und Revolutionen wurden immer noch als unvermeidlich angesehen, um die letzten Tyrannen zu beseitigen und einige noch bestehende Handelsmauern zu zerstören. Und wenn dieses Ziel jemals erreicht würde, gäbe es keinen Grund mehr für einen Krieg. Die Menschheit wäre in der Lage, alle ihre Anstrengungen der Förderung des allgemeinen Wohls zu widmen.

    Doch während sich die Humanisten damit begnügten, die Segnungen dieser liberalen Utopie zu beschreiben, erkannten sie nicht, dass neue Ideologien im Begriff waren, den Liberalismus zu verdrängen und eine neue Ordnung zu formen, die feindselige Einstellungen hervorrief, für die keine friedliche Lösung gefunden werden konnte. Die Humanisten sahen die neuen Ideologien nicht, weil sie diese neuen Mentalitäten und Politiken als Fortführung und Erfüllung der wesentlichen Grundsätze des Liberalismus ansahen. Der Antiliberalismus eroberte das Bewusstsein der Menschen, getarnt als wahrer und echter Liberalismus. Heute unterstützen diejenigen, die sich selbst als Liberale bezeichnen, Programme, die den Grundsätzen und Doktrinen des alten Liberalismus völlig entgegengesetzt sind. Sie verunglimpfen das Sondereigentum³ an den Produktionsmitteln und die Marktwirtschaft und sind begeisterte Freunde totalitärer Methoden der Wirtschaftsführung. Sie streben nach staatlicher Allmacht und begrüßen jede Maßnahme, die dem Beamtentum und den staatlichen Stellen mehr Macht verleiht. Sie verurteilen jeden, der ihre Vorliebe für Reglementierung nicht teilt, als reaktionär und marktradikal [economic royalist]⁴.

    Diese selbsternannten Liberalen und Progressiven sind ehrlich davon überzeugt, dass sie wahre Demokraten sind. Doch ihre Vorstellung von Demokratie ist genau das Gegenteil von dem, was im 19. Jahrhundert galt. Sie verwechseln Demokratie mit Sozialismus. Sie sehen nicht nur nicht, dass Sozialismus und Demokratie unvereinbar sind, sondern sie glauben, dass Sozialismus allein echte Demokratie bedeutet. In diesem Irrtum verstrickt, betrachten sie das sowjetische System als eine Variante der Volksherrschaft.

    Die europäischen Regierungen und Parlamente sind seit mehr als sechzig Jahren bestrebt, das Funktionieren des Marktes zu behindern, in die Wirtschaft einzugreifen und den Kapitalismus zu lähmen. Sie haben die Warnungen der Nationalökonomen unbekümmert ignoriert. Sie haben Handelsschranken errichtet, sie haben die Kreditausweitung und die Politik des leichten Geldes gefördert, sie haben zu preispolitischen Eingriffen, zu Mindestlöhnen und zu Subventionen gegriffen. Sie haben die Besteuerung in Konfiskation und Enteignung umgewandelt; sie haben rücksichtslose Ausgaben als die beste Methode zur Steigerung von Wohlstand und Wohlfahrt verkündet. Doch als die unvermeidlichen Folgen dieser politischen Maßnahmen, die von den Nationalökonomen schon lange vorher vorhergesagt worden waren, immer offensichtlicher wurden, machte die öffentliche Meinung nicht diese liebgewonnenen politischen Maßnahmen dafür verantwortlich: Sie klagte den Kapitalismus an. In den Augen der Öffentlichkeit sind nicht die antikapitalistischen politischen Maßnahmen, sondern der Kapitalismus die Hauptursache für Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Inflation und steigende Preise, Monopole und Verschwendung, gesellschaftliche Unruhen und Kriege.

    Der verhängnisvolle Irrtum, der alle Bemühungen um die Sicherung des Friedens vereitelte, bestand gerade darin, dass Menschen nicht begriffen, dass es nur in einer Welt des reinen, vollkommenen und ungehinderten Kapitalismus keine Anreize für Aggression und Eroberung gibt. Präsident Wilson ließ sich von der Vorstellung leiten, dass nur autokratische Regierungen kriegslüstern sind, während Demokratien aus Eroberungen keinen Gewinn ziehen können und deshalb am Frieden festhalten. Was Präsident Wilson und die anderen Gründer des Völkerbundes nicht sahen, war, dass dies nur in einem System mit Sondereigentum an den Produktionsmitteln, freiem Unternehmertum und ungehinderter Marktwirtschaft gilt. Wo es keine wirtschaftliche Freiheit gibt, liegen die Dinge völlig anders. In unserer Welt des Etatismus⁵, in der jede Nation bestrebt ist, sich abzuschotten und nach Autarkie zu streben, ist es völlig falsch zu behaupten, dass kein Mensch aus Eroberungen einen Vorteil ziehen kann. Im Zeitalter von Handelsmauern und Migrationsschranken, von Devisenkontrolle und Enteignung ausländischen Kapitals gibt es reichlich Anreize für Krieg und Eroberung. Nahezu jeder Bürger hat ein materielles Interesse an der Aufhebung von Maßnahmen, mit denen fremde Regierungen ihm schaden können. Fast jeder Bürger ist daher bestrebt, sein eigenes Land mächtig und stark zu sehen, weil er sich von dessen militärischer Macht einen persönlichen Vorteil verspricht. Die Vergrößerung des Territoriums, das der Souveränität der eigenen Regierung untersteht, bedeutet zumindest eine Befreiung von den Übeln, die eine fremde Regierung ihm zugefügt hat.

    Auf die Frage, ob die Demokratie in einem System staatlicher Einmischung in die Wirtschaft oder im Sozialismus überleben kann, können wir vorerst verzichten. Auf jeden Fall steht außer Zweifel, dass im Etatismus die einfachen Bürger selbst zur Aggression neigen, wenn die militärischen Erfolgsaussichten günstig sind. Kleine Nationen können nicht umhin, Opfer des wirtschaftlichen Nationalismus anderer Nationen zu werden. Doch die großen Nationen vertrauen auf die Tapferkeit ihrer Streitkräfte. Die heutige Kriegslust ist nicht das Ergebnis der Gier von Fürsten und Junker-Oligarchien; sie ist eine Politik der Interessengruppen, die sich durch die angewandten Methoden, nicht aber durch die Anreize und Motive auszeichnet. Die deutschen, italienischen und japanischen Arbeiter streben nach einem höheren Lebensstandard, wenn sie gegen den wirtschaftlichen Nationalismus anderer Nationen kämpfen. Sie irren sich gewaltig; die gewählten Mittel sind nicht geeignet, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Doch ihre Irrtümer stehen im Einklang mit den Lehren des Klassenkampfes und der gesellschaftlichen Revolution, die heute so weit verbreitet sind. Der Imperialismus der Achse ist keine Politik, die aus den Zielen einer Oberschicht erwachsen ist. Wenn wir die falschen Begriffe des populären Marxismus anwenden würden, müssten wir ihn als Arbeiterimperialismus bezeichnen. Um das berühmte Diktum von General Clausewitz zu paraphrasieren, könnte man sagen: Er ist nur die Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln, er ist ein in die Sphäre der internationalen Beziehungen verlagerter innerer Klassenkampf.

    Seit mehr als sechzig Jahren sind alle europäischen Nationen bestrebt, ihren Regierungen mehr Macht zu übertragen, die Sphäre des staatlichen Zwangs und der Unterdrückung zu erweitern, alle menschlichen Aktivitäten und Bemühungen dem Staat zu unterwerfen. Und doch haben Pazifisten immer wieder betont, dass es den einzelnen Bürger nichts angeht, ob sein Land groß oder klein, stark oder schwach ist. Sie haben die Segnungen des Friedens gepriesen, während Millionen von Menschen in der ganzen Welt ihre ganze Hoffnung auf Aggression und Eroberung setzten. Sie haben nicht erkannt, dass der einzige Weg zu dauerhaftem Frieden darin besteht, die Ursachen des Krieges zu beseitigen. Es ist wahr, dass diese Pazifisten einige zaghafte Versuche unternommen haben, sich dem wirtschaftlichen Nationalismus entgegenzustellen. Doch sie haben nie dessen eigentliche Ursache, den Etatismus – den Trend zur staatlichen Lenkung der Wirtschaft – angegriffen, und so waren ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt.

    Natürlich streben die Pazifisten eine übernationale Weltbehörde an, die alle Konflikte zwischen den verschiedenen Nationen friedlich regeln und ihre Beschlüsse durch eine übernationale Polizeitruppe durchsetzen könnte. Doch was für eine zufriedenstellende Lösung des brennenden Problems der internationalen Beziehungen benötigt wird, sind weder ein neues Amt mit noch mehr Ausschüssen, Sekretären, Kommissaren, Meldungen und Vorschriften noch ein neues Gremium bewaffneter Henker, sondern der radikale Umsturz der Mentalitäten und die innenpolitischen Maßnahmen, die zu Konflikten führen müssen. Das bedauerliche Scheitern des Genfer Experiments ist gerade darauf zurückzuführen, dass die vom bürokratischen Aberglauben des Etatismus befangenen Menschen nicht begriffen haben, dass Ämter und Beamte kein Problem lösen können. Ob es eine übernationale Behörde mit einem internationalen Parlament gibt oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Die wirkliche Notwendigkeit besteht darin, politische Maßnahmen aufzugeben, die den Interessen der anderen Nationen schaden. Keine internationale Behörde kann den Frieden bewahren, wenn Wirtschaftskriege weitergehen. In unserem Zeitalter der internationalen Arbeitsteilung ist der freie Handel die Voraussetzung für jede gütliche Einigung zwischen den Nationen. Und freier Handel ist in einer Welt des Etatismus unmöglich.

    Die Diktatoren bieten uns eine andere Lösung an. Sie planen eine „neue Ordnung, ein System der Welthegemonie einer Nation oder einer Gruppe von Nationen, unterstützt und gesichert durch die Waffen siegreicher Armeen. Die wenigen Privilegierten werden die große Mehrheit der „minderwertigen Rassen beherrschen. Diese „neue Ordnung" ist ein sehr altes Konzept. Alle Eroberer haben sie angestrebt; Dschingis Khan und Napoleon waren die Vorläufer des Führers. Die Geschichte hat das Scheitern vieler Versuche bezeugt, Frieden durch Krieg, Kooperation durch Zwang, Einstimmigkeit durch Abschlachten Andersdenkender zu erzwingen. Hitler wird es nicht besser ergehen als ihnen. Eine dauerhafte Ordnung lässt sich nicht durch Bajonette herstellen. Eine Minderheit kann nicht herrschen, wenn sie nicht von der Zustimmung der Beherrschten getragen wird; der Aufstand der Niedergedrückten wird sie früher oder später stürzen, selbst wenn sie eine Zeit lang erfolgreich waren. Doch die Nationalsozialisten haben noch nicht einmal die Chance, für eine kurze Zeit erfolgreich zu sein. Ihr Überfall ist zum Scheitern verurteilt.

    2.

    Die gegenwärtige Krise der menschlichen Kultur hat ihren Brennpunkt in Deutschland. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist das Deutsche Reich der Friedensstörer. In den dreißig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bestand das Hauptanliegen der europäischen Diplomatie darin, Deutschland durch verschiedene Intrigen und Tricks in Schach zu halten. Ohne die deutsche Kriegstreiberei hätten weder die Machtgelüste der Zaren noch die feindseligen Einstellungen und Rivalitäten der verschiedenen Nationalitäten Südosteuropas den Weltfrieden ernsthaft gestört. Als 1914 die Instrumente der Beschwichtigung versagten, brachen die Kräfte der Hölle hervor.

    Die Früchte des Sieges der Alliierten wurden durch die Unzulänglichkeiten der Friedensverträge, durch die Fehler der Nachkriegspolitiken und durch den Aufstieg des wirtschaftlichen Nationalismus zunichte gemacht. In den Wirren dieser Jahre zwischen den beiden Kriegen, in denen jede Nation bestrebt war, anderen Nationen so viel Schaden wie möglich zuzufügen, war Deutschland frei, einen noch gewaltigeren Angriff vorzubereiten. Doch für die Nationalsozialisten würden weder Italien noch Japan ein ebenbürtiger Gegner für die Vereinten Nationen sein. Dieser neue Krieg ist ein deutscher Krieg wie der Erste Weltkrieg.

    Es ist unmöglich, die grundlegenden Probleme dieses schrecklichsten aller jemals geführten Kriege zu begreifen, ohne die wichtigsten Fakten der deutschen Geschichte zu kennen. Vor hundert Jahren waren die Deutschen ganz anders, als sie es heute sind. Damals war es nicht ihr Ehrgeiz, die Hunnen zu übertreffen und Attila zu übertrumpfen. Ihre Leitsterne waren Schiller und Goethe, Herder und Kant, Mozart und Beethoven. Ihr Leitmotiv war Freiheit, nicht Eroberung und Unterdrückung. Die Etappen des Prozesses, der die Nation, die von ausländischen Beobachtern einst als das der Dichter und Denker bezeichnet wurde, in das der rücksichtslosen Banden der nationalsozialistischen Sturmabteilungen verwandelte, sollte jeder kennen, der sich sein eigenes Urteil über die aktuellen weltpolitischen Angelegenheiten und Probleme bilden will. Die Quellen und Tendenzen der nationalsozialistischen Aggressivität zu verstehen, sind sowohl für die politische und militärische Führung des Krieges als auch für die Gestaltung einer dauerhaften Nachkriegsordnung von höchster Bedeutung. Durch eine bessere und klarere Einsicht in das Wesen und die Kräfte des deutschen Nationalismus hätten viele Fehler vermieden und viele Opfer erspart werden können.

    Die Aufgabe des vorliegenden Buches ist es, die Umrisse der Veränderungen und Ereignisse nachzuzeichnen, die zum heutigen Zustand der deutschen und europäischen Angelegenheiten geführt haben. Es versucht, viele weit verbreitete Irrtümer der Menschen zu korrigieren, die aus Legenden, die die geschichtlichen Tatsachen stark verfälschen, und aus Doktrinen entstanden sind, die die wirtschaftlichen Entwicklungen und die Wirtschaftspolitiken falsch darstellen. Es befasst sich sowohl mit der Geschichte als auch mit grundlegenden Fragen der Soziologie und der Nationalökonomie. Es versucht, keinen Gesichtspunkt zu vernachlässigen, dessen Erläuterung für eine vollständige Beschreibung des weltweiten Problems des Nationalsozialismus notwendig ist.

    3.

    In der Geschichte der letzten zweihundert Jahre lassen sich zwei unterschiedliche ideologische Tendenzen ausmachen. Da war zum einen die Tendenz zur Freiheit, zu den Rechten des Menschen und zur Selbstbestimmung. Dieser Individualismus führte zum Sturz autokratischer Regierungen, zur Einführung der Demokratie, zur Entwicklung des Kapitalismus, zu technischen Verbesserungen und zu einem beispiellosen Anstieg des Lebensstandards. An die Stelle des alten Aberglaubens trat die Aufklärung, an die Stelle eingefleischter Vorurteile traten wissenschaftliche Forschungsmethoden. Es war eine Epoche großer künstlerischer und literarischer Errungenschaften, das Zeitalter der unsterblichen Musiker, Maler, Schriftsteller und Philosophen. Und es beseitigte Sklaverei, Leibeigenschaft, Folter, Inquisition und andere Überbleibsel des dunklen Zeitalters.

    Im zweiten Teil dieser Periode weicht der Individualismus einer anderen Tendenz, der Tendenz zur staatlichen Allmacht. Die Menschen scheinen nun bestrebt zu sein, alle Befugnisse auf die Regierungen zu übertragen, d. h. auf den gesellschaftlichen Zwangs- und Unterdrückungsapparat. Sie streben den Totalitarismus an, d. h. Zustände, in denen alle menschlichen Angelegenheiten von Regierungen verwaltet werden. Sie begrüßen jeden Schritt zu mehr staatlicher Einmischung als Fortschritt auf dem Weg zu einer perfekteren Welt; sie sind überzeugt, dass die Regierungen die Erde in ein Paradies verwandeln werden. Bezeichnenderweise wird heute in den Ländern, die am weitesten auf dem Weg zum Totalitarismus fortgeschritten sind, sogar die Nutzung der Freizeit des einzelnen Bürgers als Aufgabe der Regierung betrachtet. In Italien ist das dopolavoro und in Deutschland die Freizeitgestaltung⁶ ein regelmäßiges legitimes Betätigungsfeld für die staatliche Einmischung. Die Menschen sind so sehr in die Lehren der Staatsvergötterung verstrickt, dass sie das Paradoxon einer staatlich regulierten Freizeit nicht sehen.

    Es ist nicht die Aufgabe dieses Buches, alle Probleme der Staatsgläubigkeit oder des Etatismus zu behandeln. Sein Umfang beschränkt sich auf die Behandlung der Folgen des Etatismus für die internationalen Beziehungen. In unserem Zeitalter der internationalen Arbeitsteilung ist der Totalitarismus innerhalb mehrerer souveräner nationaler Regierungen ein Widerspruch in sich. Wirtschaftliche Erwägungen treiben jede totalitäre Regierung in Richtung Weltherrschaft. Die Sowjetregierung ist von ihrer Gründung her keine nationale Regierung, sondern eine universelle Regierung, die nur durch unglückliche Umstände vorübergehend daran gehindert wird, ihre Macht in allen Ländern auszuüben. Ihr offizieller Name enthält keinen Hinweis auf Russland. Lenins Ziel war es, sie zur Keimzelle einer Weltregierung zu machen; in jedem Land gibt es Parteien, die nur den Sowjets treu sind und in deren Augen die einheimischen Regierungen Usurpatoren sind. Es ist nicht das Verdienst der Bolschewiki, dass diese ehrgeizigen Pläne bisher nicht gelungen sind und dass die erwartete Weltrevolution nicht eingetreten ist. Die Nationalsozialisten haben die offizielle Bezeichnung ihres Landes, das Deutsche Reich, nicht geändert. Doch ihre literarischen Meister halten das Reich für die einzige legitime Regierung, und ihre politischen Führer streben offen nach der Weltherrschaft. Die geistigen Führer Japans sind an den europäischen Universitäten mit dem Geist des Etatismus durchdrungen worden und haben in ihrer Heimat den alten Lehrsatz wiederbelebt, dass ihr göttlicher Kaiser, der Sohn des Himmels, einen gerechten Anspruch auf die Herrschaft über alle Völker hat. Sogar der Duce hat trotz der militärischen Ohnmacht seines Landes seine Absicht verkündet, das alte Römische Reich wiederherzustellen. Die spanischen Falangisten schwafeln von einer Wiederherstellung des Reiches Philipps II.

    In einer solchen Atmosphäre ist kein Platz mehr für die friedliche Kooperation der Nationen. Die Tortur, die die Menschheit in unseren Tagen durchmacht, ist nicht das Ergebnis des Wirkens unkontrollierbarer Naturkräfte. Sie ist vielmehr das unvermeidliche Ergebnis der Wirkung von Doktrinen und Politiken, die bei Millionen unserer Zeitgenossen populär sind.

    Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler, anzunehmen, dass eine Rückkehr zu Politiken des Liberalismus, die von den zivilisierten Nationen vor einigen Jahrzehnten aufgegeben wurde, diese Übel heilen und den Weg zu einer friedlichen Kooperation der Nationen und zu Wohlstand öffnen könnte. Hätten die Europäer und die Völker europäischer Abstammung in anderen Teilen der Erde nicht dem Etatismus nachgegeben, hätten sie sich nicht auf ausgedehnte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft eingelassen, hätten unsere jüngsten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Katastrophen vermieden werden können. Die Menschen würden heute unter befriedigenderen Bedingungen leben und nicht ihr ganzes Geschick und ihre ganzen Verstandeskräfte auf die gegenseitige Ausrottung verwenden. Doch diese Jahre der feindseligen Einstellung und des Konflikts haben einen tiefen Eindruck in der menschlichen Mentalität hinterlassen, der nicht so leicht zu beseitigen ist. Sie haben die Seelen der Menschen gezeichnet, sie haben den Geist der menschlichen Kooperation zersetzt und Hass hervorgerufen, der nur in Jahrhunderten verschwinden kann. Unter den gegenwärtigen Bedingungen käme die Annahme einer Politik des Laissez-faire und des Laissez-passer seitens der zivilisierten Nationen des Westens einer bedingungslosen Kapitulation vor den totalitären Nationen gleich. Nehmen wir zum Beispiel den Fall der Migrationsschranken. Die uneingeschränkte Öffnung der Türen Amerikas, Australiens und Westeuropas für Einwanderer käme heute einer Öffnung der Türen für die Vorhut der Armeen Deutschlands, Italiens und Japans gleich.

    Es gibt kein anderes System, das die reibungslose Koordination der friedlichen Bemühungen von Individuen und Nationen gewährleisten könnte, als das System, das heute allgemein als Manchestertum⁷ verachtet wird. Es ist zu hoffen – auch wenn die Hoffnung eher gering ist –, dass die Völker der westlichen demokratischen Welt bereit sein werden, diese Tatsache anzuerkennen und ihre heutigen totalitären Tendenzen aufzugeben. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die militaristischen Ideen für die große Mehrheit der Menschen viel attraktiver sind als die des Liberalismus. Für die unmittelbare Zukunft ist höchstens eine Zweiteilung der Welt zu erwarten: ein liberaler, demokratischer und kapitalistischer Westen mit etwa einem Viertel der gesamten Weltbevölkerung und ein militaristischer und totalitärer Osten, der den weitaus größeren Teil der Erdoberfläche und der Bevölkerung umfasst. Ein solcher Zustand wird dem Westen verteidigungspolitische Maßnahmen aufzwingen, die seine Bemühungen um ein zivilisierteres Leben und eine wohlhabendere Wirtschaft ernsthaft behindern wird.

    Selbst dieses melancholische Bild könnte sich als zu optimistisch erweisen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Völker des Westens bereit sind, ihre Politiken des Etatismus aufzugeben. Doch dann werden sie daran gehindert, ihren gegenseitigen Wirtschaftskrieg, ihren Wirtschaftsnationalismus aufzugeben und friedliche Beziehungen zwischen ihren eigenen Ländern herzustellen. Dann werden wir dort stehen, wo die Welt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen stand. Das Ergebnis wird ein dritter Krieg sein, der noch schrecklicher und verheerender sein wird als seine Vorgänger.

    Aufgabe des letzten Teils dieses Buches ist es, die Bedingungen zu erörtern, die zumindest für die westlichen Demokratien ein gewisses Maß an politischer und wirtschaftlicher Sicherheit bewahren könnten. Ziel ist es, herauszufinden, ob es irgendeinen denkbaren Plan gibt, der in diesem Zeitalter der Allmacht des Staates für dauerhaften Frieden sorgen könnte.

    4.

    Das Haupthindernis sowohl für jeden Versuch, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit unvoreingenommen zu untersuchen, als auch für alle Bemühungen, die Politiken, die zu der gegenwärtigen Kulturkrise geführt haben, durch eine befriedigendere zu ersetzen, liegt in dem hartnäckigen, unnachgiebigen Dogmatismus unserer Zeit. Eine neue Art von Aberglauben hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt: die Anbetung des Staates. Die Menschen verlangen die Anwendung von Methoden des Zwangs und der Unterdrückung, der Gewalt und der Drohung. Wehe dem, der sein Knie nicht vor den modischen Götzen beugt!

    Der Fall ist im heutigen Russland und Deutschland offensichtlich. Man kann sich dieser Tatsache nicht entledigen, indem man die Russen und die Deutschen als Barbaren bezeichnet und sagt, dass so etwas mit den zivilisierteren Nationen des Westens nicht geschehen kann und wird. Im Westen gibt es nur noch wenige Freunde der Toleranz. Die Parteien der Linken und der Rechten sind überall sehr misstrauisch gegenüber der Gedankenfreiheit. Es ist sehr bezeichnend, dass in diesen Jahren des verzweifelten Kampfes gegen die Aggression der Nationalsozialisten ein angesehener britischer prosowjetischer Autor die Verwegenheit besitzt, sich für die Inquisition einzusetzen. „Die Inquisition, sagt J. G. Crowther, „ist für die Wissenschaft von Nutzen, wenn sie eine aufstrebende Klasse schützt.⁸ Denn „die Gefahr oder der Wert einer Inquisition hängt davon ab, ob sie zugunsten einer reaktionären oder einer progressiven Regierungsklasse eingesetzt wird.⁹ Aber wer ist „progressiv und wer „reaktionär"? In dieser Frage gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zwischen Harold Laski und Alfred Rosenberg.

    Außerhalb Russlands und Deutschlands riskieren Andersdenkende zwar noch nicht das Erschießungskommando oder einen langsamen Tod im Konzentrationslager.¹⁰ Aber nur noch wenige sind bereit, abweichenden Ansichten ernsthaft Beachtung zu schenken. Wenn jemand versucht, die Doktrinen des Etatismus oder des Nationalismus in Frage zu stellen, wagt kaum jemand, seine Argumente zu prüfen. Der Ketzer wird lächerlich gemacht, beschimpft, ignoriert. Es gilt inzwischen als unverschämt oder empörend, die Ansichten mächtiger Interessengruppen oder politischer Parteien zu kritisieren oder die segensreiche Wirkung staatlicher Allmacht anzuzweifeln. Die öffentliche Meinung hat sich eine Reihe von Dogmen zu eigen gemacht, die man immer weniger angreifen kann. Im Namen des Fortschritts und der Freiheit werden sowohl der Fortschritt als auch die Freiheit geächtet.

    Jede Doktrin, die zu ihrem Schutz auf die Polizeigewalt oder auf andere Methoden der Gewalt oder Drohung zurückgreift, offenbart ihre innere Schwäche. Hätten wir keine anderen Mittel, um die Doktrinen der Nationalsozialisten zu beurteilen, so wäre allein die Tatsache, dass sie sich hinter der Gestapo verstecken, ein ausreichender Beweis gegen sie. Doktrinen, die der Prüfung durch Logik und Vernunft standhalten, kommen ohne die Verfolgung von Skeptikern aus.

    Dieser Krieg wurde nicht allein durch den Nationalsozialismus verursacht. Das Versagen aller anderen Nationen, dem Aufstieg des Nationalsozialismus rechtzeitig Einhalt zu gebieten und eine Barriere gegen eine neue deutsche Aggression zu errichten, trug nicht weniger zu der Katastrophe bei als die Ereignisse der inneren Entwicklung Deutschlands. Die Ambitionen der Nationalsozialisten waren nicht geheim. Die Nationalsozialisten selbst haben sie in zahllosen Büchern und Pamphleten und in jeder Ausgabe ihrer zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften bekannt gemacht. Niemand kann den Nationalsozialisten vorwerfen, sie hätten ihre Pläne im Geheimen ausgeheckt. Wer Ohren hatte, um zu hören, und Augen, um zu sehen, konnte nicht umhin, alles über ihre Bestrebungen zu wissen.

    Die Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand des Weltgeschehens liegt bei jenen Doktrinen und Parteien, die den Lauf der Politik in den letzten Jahrzehnten dominiert haben. Den Nationalsozialismus anzuklagen, ist eine seltsame Art, die Schuldigen zu entlasten. Ja, die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten sind schlechte Menschen. Doch es sollte das vorrangige Ziel der Politik sein, die Völker vor den Gefahren zu schützen, die von der feindseligen Haltung schlechter Menschen ausgehen. Wenn es keine schlechten Menschen gäbe, bräuchte es auch keine Regierung. Wenn es denjenigen, die in der Lage sind, die Aktivitäten der Regierungen zu lenken, nicht gelingt, eine Katastrophe zu verhindern, haben sie den Beweis erbracht, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind.

    In den letzten fünfundzwanzig Jahren gab es nur ein einziges politisches Problem: die Katastrophe dieses Krieges zu verhindern. Doch die Politiker waren entweder blind oder unfähig, etwas zu tun, um die drohende Katastrophe zu verhindern.

    Die Parteien der Linken befinden sich in der glücklichen Lage, dass Menschen eine Offenbarung erhalten haben, die ihnen sagt, was gut und was schlecht ist. Sie wissen, dass das Sondereigentum die Quelle allen Übels ist und dass die staatliche Lenkung der Produktionsmittel die Erde in ein Paradies verwandeln wird. Sie waschen ihre Hände in Unschuld; dieser „imperialistische" Krieg ist einfach eine Folge des Kapitalismus, wie alle anderen Kriege auch. Doch wenn wir die politischen Aktivitäten der sozialistischen und kommunistischen Parteien in den westlichen Demokratien Revue passieren lassen, können wir leicht feststellen, dass sie alles getan haben, um die Aggressionspläne der Nationalsozialisten zu unterstützen. Sie haben die Doktrin propagiert, dass Abrüstung und Neutralität die besten Mittel seien, um die Nationalsozialisten und die anderen Achsenmächte aufzuhalten. Sie hatten nicht die Absicht, die Nationalsozialisten zu unterstützen. Doch wenn sie diese Absicht gehabt hätten, hätten sie nicht anders handeln können.

    Die Ideale der Linken sind in Sowjetrussland voll verwirklicht. Hier steht der Marxismus an oberster Stelle; die Proletarier allein herrschen. Doch Sowjetrussland hat bei der Verhinderung dieses Krieges noch beklagenswerter versagt als jede andere Nation. Die Russen wussten sehr wohl, dass die Nationalsozialisten darauf aus waren, die Ukraine zu erobern. Dennoch verhielten sie sich so, wie Hitler es von ihnen verlangte. Ihre Politiken haben viel zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, zur Wiederaufrüstung Deutschlands und schließlich zum Ausbruch des Krieges beigetragen. Es ist keine Entschuldigung für sie, dass sie den kapitalistischen Nationen gegenüber misstrauisch waren. Es gibt keine Entschuldigung für eine Politik, die der eigenen Sache schadet. Niemand kann leugnen, dass das Abkommen vom August 1939 für Russland eine Katastrophe war. Stalin hätte seinem Land weitaus besser gedient, wenn er mit Großbritannien kollaboriert hätte, als durch seinen Kompromiss mit den Nationalsozialisten.

    Das Gleiche gilt für das Verhalten aller anderen europäischen Länder. Man kann sich kaum eine dümmere Politik vorstellen als diejenige Polens, das 1938 einen Teil der Tschechoslowakei annektierte, oder diejenige Belgiens, das 1936 die Bande des Bündnisses, das es mit Frankreich verband, kappte. Das Schicksal der Polen, der Tschechen, der Norweger, der Niederländer, der Belgier, der Griechen und der Jugoslawen ist zutiefst zu bedauern. Doch man kann nicht umhin zu behaupten, dass sie sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben haben. Dieser Zweite Weltkrieg wäre nie ausgebrochen, wenn die Nationalsozialisten damit gerechnet hätten, am ersten Tag der Feindseligkeiten auf eine geeinte und angemessen bewaffnete Front aus Großbritannien, Frankreich, Russland, den Vereinigten Staaten und allen kleinen Demokratien Europas zu treffen, die von einem einheitlichen Kommando geführt wurde.

    Eine Untersuchung der Ursachen für den Aufstieg des Nationalsozialismus muss nicht nur zeigen, wie die innerdeutschen Verhältnisse den Nationalsozialismus hervorgebracht haben, sondern auch, warum es allen anderen Nationen nicht gelungen ist, sich gegen die Verwüstung zu schützen. Vom Standpunkt der Briten, der Polen oder der Österreicher aus betrachtet, lautet die Hauptfrage nicht: Was ist falsch an den Nationalsozialisten?, sondern: Was war falsch an unseren eigenen Politiken im Hinblick auf die nationalsozialistische Bedrohung? Angesichts des Problems der Tuberkulose fragen die Ärzte nicht: Was ist mit den Keimen los?, sondern: Was ist falsch an unseren Methoden, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern?

    Das Leben besteht darin, sich den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen und die Dinge so zu betrachten, wie sie wirklich sind und nicht, wie man sie gerne hätte. Es wäre angenehmer, wenn es weder Keime noch gefährliche Barbaren gäbe. Doch wer Erfolg haben will, muss seinen Blick auf die Wirklichkeit richten und darf nicht in Wunschträumen schwelgen.

    Es gibt keine Hoffnung mehr auf eine Rückkehr zu befriedigenderen Verhältnissen, wenn die Menschen nicht begreifen, dass sie bei der Hauptaufgabe der heutigen Politik völlig versagt haben. Alle gegenwärtigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Doktrinen und alle Parteien und Interessengruppen, die sie anwendet, sind durch ein unanfechtbares Urteil der Geschichte verurteilt. Von der Zukunft ist nichts zu erwarten, wenn die Menschen nicht erkennen, dass sie auf dem falschen Weg waren.

    Es ist kein Zeichen von Feindseligkeit gegenüber einer Nation, die Tatsache festzustellen, dass ihre Politiken völlig falsch waren und zu einem katastrophalen Misserfolg geführt haben. Es ist kein Zeichen von Feindseligkeit gegenüber den Mitgliedern irgendeiner Klasse, Interessengruppe oder Organisation, wenn man versucht, aufzuzeigen, worin sie sich geirrt und wie sie zu der gegenwärtigen unbefriedigenden Situation beigetragen haben. Die Hauptaufgabe der zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaft besteht darin, dem Tabu zu trotzen, mit dem die etablierten Doktrinen ihre Irrtümer und Fehler vor Kritik zu schützen suchen. Wer angesichts der gewaltigen Katastrophe, deren Folgen noch nicht vollständig absehbar sind, immer noch glaubt, es gäbe Doktrinen, Einrichtungen oder Politiken, die sich der Kritik entziehen, hat die Bedeutung der Vorzeichen nicht verstanden.

    Das Beispiel Deutschlands soll uns eine Warnung sein. Die deutsche Kultur¹¹ war an dem Tag dem Untergang geweiht, als einer der bedeutendsten deutschen Wissenschaftler – Emil du Bois-Reymond – sich am 3. August 1870 öffentlich und unwidersprochen rühmen konnte, die Universität Berlin sei „die geistige Leibgarde des Hauses Hohenzollern.¹² Wo die Universitäten zur Leibgarde werden und die Gelehrten sich eifrig in einer „wissenschaftlichen Front aufreihen, sind die Tore für den Einzug der Barbarei geöffnet. Es ist vergeblich, den Totalitarismus mit totalitären Methoden zu bekämpfen. Die Freiheit kann nur von Menschen errungen werden, die sich bedingungslos zu den Prinzipien der Freiheit bekennen. Die erste Voraussetzung für eine bessere Gesellschaftsordnung ist die Rückkehr zur uneingeschränkten Freiheit des Denkens und der Rede.

    5.

    Wer die gegenwärtigen politischen Zustände verstehen will, muss die Geschichte studieren. Er muss die Kräfte kennen, die zu unseren Problemen und Konflikten geführt haben. Geschichtliches Wissen ist unverzichtbar für diejenigen, die eine bessere Welt aufbauen wollen.

    Leider gehen die Nationalisten mit einer anderen Einstellung an die Geschichte heran. Für sie ist die Vergangenheit nicht eine Quelle der Information und Belehrung, sondern ein Waffenarsenal für die Kriegsführung. Sie suchen nach Fakten, die sie als Vorwand und Entschuldigung für ihren Aggressions- und Unterdrückungsdrang nutzen können. Wenn die verfügbaren Dokumente solche Fakten nicht liefern, schrecken sie nicht davor zurück, die Wahrheit zu verdrehen und Dokumente zu fälschen.

    Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fälschte ein Tscheche ein Manuskript, um zu beweisen, dass die mittelalterlichen Vorfahren seines Volkes bereits eine hohe Kulturstufe erreicht und schöne literarische Werke geschaffen hatten. Viele Jahrzehnte lang behaupteten tschechische Gelehrte fanatisch die Echtheit dieses Gedichts, und lange Zeit machte der offizielle Lehrplan der tschechischen Staatsgymnasien Altösterreichs seine Lektüre und Auslegung zum Hauptthema im Unterricht der tschechischen Literatur. Etwa fünfzig Jahre später fälschte ein Deutscher die Ura-Linda-Chronik, um zu beweisen, dass die „Nordländer" eine Kultur schufen, die älter und besser war als die aller anderen Völker. Es gibt immer noch nationalsozialistische Professoren, die nicht bereit sind zuzugeben, dass diese Chronik die plumpe Fälschung eines inkompetenten und dummen Hinterwäldlers ist. Doch nehmen wir einmal an, dass diese beiden Dokumente authentisch sind. Was könnten sie für die Bestrebungen der Nationalisten beweisen? Unterstützen sie die Forderung der Tschechen, mehreren Millionen Deutschen und Slowaken die Autonomie zu verweigern, oder die Forderung der Deutschen, allen Tschechen die Autonomie zu verweigern?

    So gibt es zum Beispiel den fadenscheinigen Streit, ob Nikolaus Kopernikus Pole oder Deutscher war. Die verfügbaren Dokumente lösen das Problem nicht. Sicher ist jedenfalls, dass Kopernikus in Schulen und Universitäten ausgebildet wurde, deren einzige Sprache Latein war, dass er keine anderen mathematischen und astronomischen Bücher als die in Latein oder Griechisch geschriebenen kannte und dass er selbst seine Abhandlungen nur in Latein verfasste. Doch nehmen wir einmal an, dass er tatsächlich der Sohn von Eltern war, deren Sprache Deutsch war. Könnte dies eine Rechtfertigung für die Methoden der Deutschen im Umgang mit den Polen sein? Entlastet es die deutschen Schullehrer, die – im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts – kleine Kinder auspeitschten, deren Eltern sich dagegen wehrten, dass in den Schulen der polnischen Provinzen Preußens der deutsche Katechismus durch den polnischen ersetzt wurde? Berechtigt es heute die Nationalsozialisten, polnische Frauen und Kinder abzuschlachten?

    Es ist sinnlos, geschichtliche oder geografische Gründe zur Unterstützung politischer Ambitionen anzuführen, die der Kritik an demokratischen Prinzipien nicht standhalten. Eine demokratische Regierung kann den Frieden und die internationale Kooperation sichern, weil sie nicht auf die Unterdrückung anderer Völker abzielt. Wenn einige Völker vorgeben, dass die Geschichte oder die Geografie ihnen das Recht gibt, andere Rassen, Nationen oder Völker zu unterdrücken, kann es keinen Frieden geben.

    Es ist unglaublich, wie tief verwurzelt diese bösartigen Vorstellungen von Hegemonie, Herrschaft und Unterdrückung selbst bei den angesehensten Zeitgenossen sind. Señor Salvador de Madariaga ist einer der am meisten international ausgerichteten Männer. Er ist ein Gelehrter, ein Staatsmann und ein Schriftsteller, der mit der englischen und französischen Sprache und Literatur bestens vertraut ist. Er ist Demokrat, progressiv und ein begeisterter Befürworter des Völkerbundes und aller Bemühungen um einen dauerhaften Frieden. Doch seine Ansichten über die politischen Probleme seines Landes und seiner Nation sind vom Geist eines unnachgiebigen Nationalismus beseelt. Er verurteilt die Forderungen der Katalanen und Basken nach Unabhängigkeit und befürwortet die kastilische Hegemonie aus rassischen, geschichtlichen, geografischen, sprachlichen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen. Es wäre vertretbar, wenn Señor Madariaga die Forderungen dieser Sprachgemeinschaften mit der Begründung zurückweisen würde, dass es unmöglich ist, unbestrittene Grenzlinien zu ziehen, und dass ihre Unabhängigkeit daher die Ursachen des Konflikts nicht beseitigen, sondern verewigen würde; oder wenn er für eine Umwandlung des spanischen Staates der kastilischen Hegemonie in einen Staat eintreten würde, in dem jede Sprachgemeinschaft die Freiheit hat, ihre eigene Mundart zu verwenden. Doch das ist keineswegs der Plan von Señor Madariaga. Er plädiert nicht dafür, den von Kastilien dominierten Staat Spanien durch eine übernationale Regierung der drei Sprachgemeinschaften Kastilien, Katalonien und Basken zu ersetzen. Sein Ideal für Spanien ist die kastilische Vormachtstellung. Er will nicht, dass „Spanien die Arbeit von Jahrhunderten in einer Generation loslässt".¹³ Dieses Werk war jedoch keine Errungenschaft der betroffenen Völker, sondern das Ergebnis dynastischer Eheschließungen. Ist es richtig, gegen die Behauptungen der Katalanen einzuwenden, dass der Graf von Barcelona im 12. Jahrhundert die Tochter des Königs von Aragon geheiratet hat und dass der König von Aragon im 15. Jahrhundert die Königin von Kastilien geheiratet hat?

    Señor Madariaga geht sogar noch weiter und spricht den Portugiesen das Recht auf Autonomie und Eigenstaatlichkeit ab. Denn „der Portugiese ist ein Spanier mit dem Rücken zu Kastilien und dem Blick auf den Atlantik.¹⁴ Warum hat Spanien dann nicht auch Portugal absorbiert? Hierauf gibt Madariaga eine seltsame Antwort: „Kastilien konnte nicht gleichzeitig den Osten und den Westen heiraten; vielleicht zog Isabella, „da sie doch eine Frau war, […] Ferdinands Aussehen dem von Alfons vor, denn auch aus solchen Dingen wird Geschichte gemacht".¹⁵

    Señor Madariaga hat Recht, wenn er einen bedeutenden spanischen Autor, Ángel Ganivet, zitiert, der sagt, dass eine Vereinigung von Spanien und Portugal das Ergebnis „ihres eigenen freien Willens" sein muss.¹⁶ Aber das Problem ist, dass die Portugiesen sich nicht nach einer kastilischen oder spanischen Oberherrschaft sehnen.

    Noch erstaunlicher sind die Ansichten von Señor Madariaga über die kolonialen und außenpolitischen Angelegenheiten Spaniens. In Bezug auf die amerikanischen Kolonien stellt er fest, dass die spanische Monarchie sie „getreu ihrem Leitprinzip – der Brüderlichkeit aller Menschen – organisiert hat.¹⁷ Bolivar, San Martin und Morelos mochten diese besondere Art der Brüderlichkeit jedoch nicht. Dann versucht Señor Madariaga, die spanischen Bestrebungen in Marokko zu rechtfertigen, indem er auf die „Position Spaniens anspielt, die die Geschichte, die Geographie und das angeborene Schicksal offensichtlich nahelegen.¹⁸ Für einen unvoreingenommenen Leser gibt es kaum einen Unterschied zwischen einem solchen „angeborenen Schicksal und den mystischen Kräften, auf die sich die Herren Hitler, Mussolini und Stalin bei der Annexion kleiner Länder berufen. Wenn das „angeborene Schicksal die spanischen Ambitionen in Marokko rechtfertigt, stützt es dann nicht in gleicher Weise den russischen Appetit auf die baltischen Länder und das kaukasische Georgien, die deutschen Ansprüche auf Böhmen und die Niederlande, den Anspruch Italiens auf die Mittelmeervorherrschaft?

    Wir können die Vergangenheit nicht aus unserem Gedächtnis tilgen. Doch es ist nicht die Aufgabe der Geschichte, neue Konflikte zu entfachen, indem sie längst toten Hass wiederbelebt und in den Archiven nach Vorwänden für neue Konflikte sucht. Es geht nicht darum, Verbrechen zu rächen, die vor Jahrhunderten von Königen und Eroberern begangen wurden; es geht darum, eine neue und bessere Weltordnung aufzubauen. Für die Probleme unserer Zeit ist es unerheblich, ob die uralten feindseligen Einstellungen zwischen Russen und Polen durch eine russische oder polnische Aggression ausgelöst wurde oder ob die von den Söldnern Ludwigs XIV. in der Pfalz begangenen Gräueltaten ruchloser waren als die von den Nationalsozialisten heute begangenen. Wir müssen ein für alle Mal verhindern, dass sich solche Gräueltaten wiederholen. Nur dieses Ziel kann den gegenwärtigen Krieg in die Würde des edelsten Unternehmens der Menschheit erheben. Die erbarmungslose Vernichtung des Nationalsozialismus ist der erste Schritt zu Freiheit und Frieden.

    Weder das Schicksal, noch die Geschichte, noch die Geografie, noch die Anthropologie dürfen uns daran hindern, jene Methoden der politischen Organisation zu wählen, die zu dauerhaftem Frieden, internationaler Kooperation und wirtschaftlichem Wohlstand führen können.

    ¹ Deutsch und Hervorhebung im Original. [S]

    ² Deutsch und Hervorhebung im Original. [S]

    ³ Ludwig von Mises verwendet den Begriff „Sondereigentum statt des üblichen Begriffs „Privateigentum. Privare heißt „rauben und der Terminus „Privateigentum könnte schon aus etymologischen Gründen suggerieren, dass die Institution des „privaten" Eigentums illegitim sei. [S]

    ⁴ „Economic royalists" ist ein Begriff von Franklin D. Roosevelt. Sie sprechen sich gegen die Zentralisierungstendenz des Staates und dessen Wettbewerb mit der Privatwirtschaft aus. „Marktradikal" ist ein dazu passendes Schmähwort. [S]

    ⁵ Der Begriff „Etatismus" (abgeleitet vom französischen état – Staat) scheint mir geeigneter zu sein als der neu geprägte Begriff „Dirigismus". Er bringt deutlich zum Ausdruck, dass der Etatismus nicht aus den angelsächsischen Ländern stammt und sich erst kürzlich im angelsächsischen Denken festgesetzt hat.

    ⁶ Deutsch und Hervorhebung im Original. [S]

    ⁷ Das Schmähwort „Manchestertum" wurde von Lassalle erfunden. Es enthält einen nationalistischen Unterton, denn Freihandel ist eine englische Idee, die daher nur englischen Interessen nutzt! Vgl. Raico (1999), S. 29. [S]

    ⁸ Crowther (1941), S. 333.

    ⁹ Ebenda, S. 331.

    ¹⁰ Auch der Faschismus ist ein totalitäres System der rücksichtslosen Unterdrückung. Dennoch gibt es einige kleine Unterschiede zwischen dem Faschismus einerseits und dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus andererseits. Der Philosoph und Historiker Benedetto Croce hat in Neapel gelebt, sorgfältig beschattet von der Polizei, aber frei, um zu schreiben und mehrere Bücher zu veröffentlichen, die vom Geist der Demokratie und von der Liebe zur Freiheit durchdrungen sind. Professor Antonio Graziadei, ein kommunistischer ehemaliger Abgeordneter des italienischen Parlaments, hat unbeirrt an seinen kommunistischen Ideen festgehalten. Dennoch hat er in Italien gelebt und (bei den bedeutendsten italienischen Verlagen) Bücher geschrieben und veröffentlicht, die orthodoxen marxistischen Prinzipien entsprechen. Es gibt noch mehr Fälle dieser Art. Solche außergewöhnlichen Fakten ändern nichts an den charakteristischen Merkmalen des Faschismus. Doch der Geschichtsforscher hat nicht das Recht, sie zu ignorieren.

    ¹¹ Deutsch und Hervorhebung im Original. [S]

    ¹² Bois-Reymond (1870), S. 31. Quelle aus: Hayek (2011), S. 238. [S]

    ¹³ Madariaga (1942), S. 176.

    ¹⁴ Ebenda, S. 185.

    ¹⁵ Ebenda, S. 187.

    ¹⁶ Ebenda, S. 197.

    ¹⁷ Ebenda, S. 49.

    ¹⁸ Ebenda, S. 200.

    Teil 1: Der Zusammenbruch des deutschen Liberalismus

    1. Der deutsche Liberalismus

    1. Das Ancien Régime und der Liberalismus

    Es ist ein grundlegender Irrtum, in dem Nationalsozialismus ein Wiederaufleben oder eine Fortsetzung der Politiken und Mentalitäten des Ancien Régime (der alten Ordnung) oder eine Manifestation des „preußischen Geistes" zu sehen. Nichts im Nationalsozialismus nimmt den Faden der Ideen und Einrichtungen der deutschen Geschichte der letzten tausend Jahre auf. Weder der Nationalsozialismus noch die alldeutsche Bewegung, aus der er sich entwickelt hat und dessen konsequente Weiterentwicklung er darstellt, sind aus dem Preußentum Friedrich Wilhelms I. oder Friedrichs II., genannt der Große, hervorgegangen. Sowohl die alldeutsche Bewegung der wilhelminischen und der Weimarer Ära als auch der Nationalsozialismus haben nie die Politik der brandenburgischen Kurfürsten und der ersten vier preußischen Könige erneuern wollen. Wenn sie manchmal als ihr Ziel die Rückkehr zum vermeintlichen Paradies des alten Preußens bezeichneten, war das bloße Propaganda für ein Publikum, das die Helden vergangener Tage verehrte. [Sie taten es zur Erleichterung der Agitation und aus Unkenntnis der Geschichte.]¹ Das Programm des Nationalsozialismus war und ist nicht auf die Wiederherstellung von etwas Vergangenem gerichtet, sondern auf die Errichtung von etwas Neuem und Unerhörtem.

    Der preußische Fürstenstaat des Hauses Hohenzollern wurde auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstädt (1806) von den Franzosen vollständig vernichtet. Die preußische Armee streckte bei Prenzlau und Ratkau die Waffen, die Garnisonen der wichtigeren Festungen und Zitadellen kapitulierten ohne auch nur den Versuch eines Widerstandes zu wagen. Der König

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