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Wie haschen nach Wind: Eine lebenslange Suche nach Anerkennung
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Wie haschen nach Wind: Eine lebenslange Suche nach Anerkennung
eBook355 Seiten4 Stunden

Wie haschen nach Wind: Eine lebenslange Suche nach Anerkennung

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Über dieses E-Book

"Jetzt, im Spätherbst seines Lebens, schaute er oftmals kritisch zurück auf die Jahre, in denen er wie ein Getriebener den Zielen seiner Wünsche hinterhergehechelt war. Eine geheimnisvolle Unruhe war in diesen Jahren sein ständiger Begleiter gewesen. Irgendwo angekommen, glaubte er im nächsten Moment wieder aufbrechen zu müssen, weil er an einem anderen Ort vielleicht etwas versäumen könnte. All dieses Suchen war für ihn in der Rückschau auf diese Jahre "wie haschen nach Wind." Eigentlich hatte er immer nur nach Liebe und Zuneigung gesucht und nach ein wenig Anerkennung, um die Selbstzweifel zu besiegen, die ihn seit der Kindheit begleiteten."

Henning wird im Nachkriegsjahr 1946 als unehelicher Sohn einer jungen Kriegswitwe in einem konservativ geprägten Ort in Westfalen geboren. Als er im Alter von neun Jahren seine Mutter verliert, wird ihm immer deutlicher bewusst, dass er nicht nur in den Familien der Nachbarschaft, sondern selbst im Umfeld seiner umfangreichen Verwandtschaft als Außenseiter wahrgenommen wird. Die teils offene Ablehnung begleitet ihn während der Schulzeit und später in der Berufsausbildung. Statt Lob, Ermunterung und Umarmung erfährt er dauernde Korrekturen und permanente Hinweise auf seine fragwürdige Herkunft. Diese Verletzungen und Enttäuschungen hinterlassen bis ins späte Erwachsenenalter schmerzende Wunden.
Henning entwickelt eine selbstzerstörerische Menschenangst, fühlt sich beruflich wie privat gelähmt. Immer wieder stößt er an Grenzen, die er eigentlich intellektuell überwinden könnte. Doch die Angst vor Zurückweisung und Versagen lähmt seine Zuversicht auf eine bessere Zukunft. Auch die Heirat mit einer jungen, gutaussehenden Frau verleiht ihm keine Stabilität, zumal sich diese Ehe schon nach kurzer Zeit auf eine beiderseitige Pflichterfüllung, eine Art Notprogramm, reduziert. Wie schwere Mühlsteine hängen Lust und Moral an seinem Hals. Selbstzweifel und Depressionen bestimmen sein Leben. Gibt es einen Ausweg? Was kann ihm Halt geben?

Das Buch erzählt ungeschminkt von dem zerstörerischen Kampf gegen Vorurteile, Stigmatisierung, und Ausgrenzung, aber auch von der Widerstandskraft eines jungen Mannes im Nachkriegsdeutschland.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Dez. 2022
ISBN9783347784475
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    Buchvorschau

    Wie haschen nach Wind - Ernesto Moiy

    Ein unehelicher „Bastard"

    Das Dreitausenseelendorf Friesberge im Sauerland war an jenem Morgen im Januar 1946 völlig zugeschneit.

    Der scharfe Ostwind hatte große Schneeberge angehäuft und die Hauptstraße, die mitten durch den Ort führte, war kaum zu erkennen. Straßen, Wege, Wiesen und Felder wirkten wie eine gleichmäßige, weiße Ebene. Überall hingen dicke, lange Eiszapfen an den Dächern und an den schiefen Dachrinnen der alten Fachwerkhäuser. Wie eine dicke Daunendecke hatte sich der Schnee auf Häuser und Straßen gelegt. Nur wer unbedingt musste, verließ heute das Haus. Aus den alten Fachwerkhäusern, rechts und links der Straße, stieg grauer Rauch aus den Kaminen, der schnell vom tristen Grau des Wintertags aufgesaugt wurde.

    Doch nicht in jedem Haus rauchte der Schornstein. Viele Wohnungen blieben unbeheizt, denn Holz und Kohle waren zu einem knappen Gut geworden.

    Direkt an der Hauptstraße, in einem älteren Dreifamilienhaus, wohnte die Kriegswitwe Gerda Gaumann mit ihrem Sohn Klaus in einer Zweizimmerwohnung. Klaus war das Kind ihrer großen Liebe. Vier Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem sie die Nachricht vom Tode ihres Mannes Norbert erhalten hatte. Norbert Gaumann war wie viele andere Soldaten in der Schlacht um Stalingrad gefallen. Er war nur 29 Jahre alt geworden. Ein großes Porträt an der Wand, über dem alten Sofa, erinnerte an den Mann, mit dem sie nur wenige Jahre verheiratet gewesen war.

    Mit ihm waren ihre Träume gestorben und ihre Freude am Leben, denn sie hatte Norbert sehr geliebt. Wie sehr hatte sie seinen trockenen Humor gemocht, seine unkomplizierte Art. Ja selbst in ausweglosen Situationen hatte er immer noch einen aufmunternden Spruch gefunden und sie mit einem Lächeln aufgerichtet.

    Dieser Mann war etwas Besonderes gewesen. Stets hatte er ihr das Gefühl gegeben, geborgen, versorgt und geliebt zu sein. Ihre kurze Ehe erschien ihr rückblickend wie ein Traum, der jäh unterbrochen wurde, bevor sie überhaupt richtig damit begonnen hatten, eine Familie zu sein.

    Ihr gemeinsamer Sohn Klaus hatte seinen Vater nur einmal kurz, während eines Fronturlaubs 1941, gesehen. Inzwischen war der Junge fast sieben Jahre alt, und sie liebte ihn auch deshalb, weil er sie oft ablenkte von der großen Trauer, die noch immer ihr Herz gefangen hielt.

    Die Jahre des Krieges, in denen sie damit beschäftigt war, sich und ihren Sohn zu versorgen, hatten Gerda nicht sehr viel Zeit zum Nachdenken gelassen. Die karge Witwenrente reichte kaum zum Leben, deshalb hatte sie in einer Nähstube am Ort ausgeholfen, wenn es zeitlich möglich war. Hin und wieder hatte der Postbote ein Paket ihres nach Amerika ausgewanderten Bruders gebracht. Meistens waren es Kleidungsstücke für ihren Sohn Klaus gewesen und nur manchmal hatte sie auch etwas Schokolade oder ein kleines Päckchen mit echtem Bohnenkaffee darin gefunden.

    Lebensfreude hatte sie schon lange keine mehr verspürt. Stets war sie damit beschäftigt gewesen, für den nächsten Tag zu sorgen. Manchmal, an langen Winterabenden, wenn Klaus schlief, hatte sie den braunen Schuhkarton aus dem Kleiderschrank genommen und sich die alten Hochzeitsbilder angeschaut. Und wenn sie dann später zu Bett gegangen war, hatte sie noch lange wach gelegen und still in ihr Kopfkissen geweint.

    So waren die Jahre dahingegangen, freudlos und ohne Aussicht auf bessere Tage.

    Und nun würde sich die wirtschaftliche Lage der kleinen Familie noch weiter verschlechtern, denn neben ihr, eingewickelt in einer weißen Wolldecke, lag ihr neugeborenes Kind. Sie wollte den Jungen Henning nennen. Dieser Name hatte auch Klaus gefallen, der auf der Bettkante saß und lächelnd seinen kleinen schlafenden Bruder anschaute.

    Die Hebamme Frieda war vor einer Stunde wieder gegangen, da die Geburt ohne Komplikationen verlaufen war. Eigentlich sollte ihre in der Nähe wohnende Schwester Lore jetzt bei ihr sein, aber sie war wohl noch damit beschäftigt, den Eingang zu ihrem Haus vom Neuschnee zu befreien, der in der Nacht zuvor reichlich gefallen war.

    Gerda war froh, dass sie nach der anstrengenden Geburt ein wenig ausruhen konnte. Sie schloss ihre Augen und ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft, zurück in die Zeit ihrer Schwangerschaft und in die Monate davor, als sie dem Vater ihres neugeborenen Sohnes begegnet war.

    Kurz vor Kriegsende im März 1945 hatte sie den jungen Leutnant zum ersten Male gesehen. Er war ihr entgegengekommen, als sie gerade dabei war, einen Eimer mit Frischwasser aus dem neben der Straße liegenden kleinen Brunnen ins Haus zu tragen.

    Der blonde Kerl mit seinen blauen Augen war ihr nicht unsympathisch gewesen, als er in seiner zerknitterten, aber sauberen Uniform freundlich lächelnd vor ihr stand und gefragt hatte, ob er für sie den schweren Eimer ins Haus tragen dürfe. Ganz in der Nähe hatte er seit einigen Tagen in der Nachbarschaft ein Privatquartier bezogen. Dort würde er fünf Tage wohnen, bis die in Hartensen stationierte Kompanie einen neuen Marschbefehl erhielt.

    Die Häuser waren inzwischen vollgestopft mit zurückdrängenden Soldaten und Flüchtlingen aus den Gebieten des Ostens, die vor der immer näher rückenden Sowjetarmee nach Westen flüchteten.

    Später hatte sie den jungen Soldaten zu einem Kaffee eingeladen und ihm von ihrem gefallenen Mann erzählt, von ihrer kurzen Ehe, von den verloren gegangenen Träumen und von den durchweinten Nächten.

    So hatte alles begonnen. Der junge Leutnant hatte nach wenigen Tagen ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach Umarmung bemerkt, und sie hatte sich nicht gewehrt, als er sie irgendwann in seine Arme genommen hatte.

    Für ein paar Tage hatte sie ihre Trauer vergessen können und wenn die Sirenen heulten und die heranfliegenden Bomberverbände mit der vernichtenden Fracht über die Häuser des Dorfes flogen, hatte sie sich endlich wieder einmal etwas sicherer gefühlt und das Leid, die Tränen der letzten Jahre für ein paar Stunden vergessen.

    In den folgenden Tagen hatte ihr neuer Freund die kleine Familie mit Lebensmitteln aus Wehrmachtsbeständen versorgt und Gerda hatte jede Kleinigkeit dankbar entgegengenommen. Nach den Entbehrungen der Kriegszeit konnte sich Söhnchen Klaus sogar mehrmals über Schokolade oder ein paar trockene Kekse freuen.

    Aus den fünf Tagen waren zwei Wochen geworden, dann war die kurze Freundschaft durch einen neuen Marschbefehl beendet worden. Die Kompanie des Leutnants wurde über Nacht in Richtung Rheinland verlegt, um der anrückenden amerikanischen Armee zusätzlichen Widerstand zu leisten.

    Gerda war wieder alleine mit Sohn Klaus und mit ihren Zukunftsängsten. Nicht einmal ein Bild oder eine Adresse hatte der junge Leutnant zurückgelassen. Alles erschien ihr im Rückblick wie ein unwirkliches Abenteuer, hätte nicht ihr neugeborenes Kind neben ihr sie an die Realität erinnert.

    Kurze Zeit später, als ihr Bekannter weiter gen Westen befehligt worden war, hatte sie mit Schrecken festgestellt, dass sie schwanger war. Danach traute sie sich wochenlang nicht mehr in die Öffentlichkeit. Eine Mischung aus Scham und Hilflosigkeit hatte sie gefangen genommen. Die wenigen Besorgungen hatte sie ihrem siebenjährigen Sohn Klaus übertragen.

    Obwohl sie sich gerne jemandem anvertraut hätte, hatte Gerda keiner ihrer Schwestern von der Schwangerschaft berichtet. Nur der jungen Grete Wirth, die mit ihrem alten Vater im gleichen Hause wohnte und mit ihr befreundet war, hatte sie von ihrem Zustand erzählt.

    Im Haus lebte auch Gretes Bruder mit seiner jungen Frau Elsa. Beide hatten erst kürzlich geheiratet. Doch Gerda konnte mit Elsa nichts anfangen. Die Frauen waren sich unsympathisch, hatten öfter Streit, wenn es darum ging Hausflur und Treppensteine sauber zu halten. Außerdem hielt Gerda ihre Hausgenossin für eine unaufrichtige und hinterhältige Person, die stets ihren Vorteil suchte und mit ihrem Mann im Rücken glaubte, den Ton im Haus bestimmen zu können. Auch Grete sprach mit ihrer Schwägerin nur dann, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

    Dass man sich ab und an begegnete im dunklen, fensterlosen Hausflur, ließ sich kaum vermeiden. Das alte Haus bot wenig Diskretion, denn die alten, dünnbrettigen Eingangstüren zu den Wohnungen lagen nur wenige Meter voneinander entfernt und zwischen Tür und Rahmen gab es genügend Platz, um für neugierige Lauscher allerlei Neuigkeiten und Geheimnisse zu erfahren.

    Im Mai 1945 hatte Hitlerdeutschland kapituliert. Der Zweite Weltkrieg und das Töten auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern hatte ein Ende gefunden. In den großen Städten des Landes wurden die ehemaligen Feinde als Befreier gefeiert. Doch in den meisten Familien beweinte man den gefallenen Ehemann, Vater, Sohn oder Bruder. Auf den Schlachtfeldern in Europa, Nordafrika und in Konzentrationslagern hatten Millionen Menschen ihr Leben gelassen. In den Bombennächten der letzten Kriegsjahre waren Hunderttausende, vorwiegend Frauen und Kinder, in den brennenden Städten des besiegten Deutschlands umgekommen. So mancher Platz am Tisch in den Häusern und Wohnungen blieb auch jetzt im Frieden leer.

    Doch die meisten Menschen wirkten dennoch wie befreit und begannen damit, ihr Leben wieder neu zu ordnen. Es überwog die Freude darüber, den schrecklichen Krieg überlebt zu haben.

    In Gerdas Seele war kaum Platz für diese Freude auf eine Zukunft ohne Krieg, Tod und Entbehrungen gewesen. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte in ihrem Leben als Kriegswitwe mit zwei unmündigen Kindern. Ihre Schuldgefühle und ihre Selbstanklagen nahmen täglich zu. Sie fühlte sich einsamer, hilfloser als je zuvor.

    Noch immer trug sie ihr Geheimnis schweigend mit sich herum, ging den Menschen aus dem Wege und besuchte nur selten ihr nahe gelegenes Elternhaus. Auch die Besuche der Gottesdienste bereiteten ihr keine Freude mehr. Sie glaubte, man könne ihren Zustand an ihren Augen ablesen, in ihrem Gesicht die empfundene Schande erkennen.

    Wie sollte sie ihre Situation nur erklären? Wer wusste schon von ihren schlaflosen Nächten und ihrer Einsamkeit, von ihrer Sehnsucht nach Umarmung?

    Wer konnte schon verstehen, was geschehen war und wie es dazu kommen konnte, dass sie das Kind eines durchziehenden Soldaten unter ihrem Herzen trug. Zwei ihrer Schwestern hätte sie ins Vertrauen ziehen können. Beide waren selbst noch vor der Verlobungszeit schwanger geworden.

    Eine davon war ihre älteste Schwester Lore, die sie jeden Moment erwartete. Sie hatte später den Vater ihres Kindes geheiratet und damit einen Skandal vermieden. Doch Gerda war mit ihrem unehelichen Kind alleine und das in einem Umfeld, wo derartige Fehltritte teils versteckt, teils offen mit Naserümpfen und diskriminierenden Blicken quittiert wurden. Ein Kind ohne offiziellen Vater zu erwarten, war ein Skandal. Dass sie sich mit einem durchziehenden Soldaten eingelassen hatte, machte dieses Geschehene zu einem unverzeihlichen Fehltritt.

    Anders war es ihrer jüngsten Schwester Luise ergangen. Sie hatte Glück gehabt. Einige Monate nach dem Ende des Krieges , hatte sie abends heimlich an Gerdas Küchenfenster geklopft. Mit Tränen in den Augen hatte sie berichtet, dass sie von einem Soldaten schwanger war, der Wochen zuvor Quartier im elterlichen Haus bezogen hatte. Alfred, so hieß dieser gestrandete Soldat aus dem Osten, hatte sich im Hause nützlich gemacht, die Kuh und die Ziegen versorgt und war dem alternden Vater auch bei anderen Arbeiten eine Hilfe gewesen. Als er Ende Mai 1945 nach Kriegsende hungernd an die Haustüre geklopft und nach Arbeit gefragt hatte, war ihr Vater froh über die angebotene Hilfe gewesen, denn die Brüder waren noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt und niemand wusste, wo sie sich befanden und ob sie je wieder nach Hause kommen würden.

    Zunächst hatte Luise keinen Gefallen an diesem zwar fleißigen, aber etwas schroff auftretenden Mann gefunden, der ihr wortkarg und etwas launisch erschien. Später, bei der täglichen Zusammenarbeit auf den Feldern und beim Füttern und Melken der Ziegen, waren sich beide näher gekommen.

    Irgendwann war es dann passiert und nun war sie schwanger. Gerda fühlte sich bei dieser Nachricht wie vor den Kopf gestoßen. Nicht auch noch Luise, ihre junge Schwester, die als letzte von zwölf Kindern im elterlichen Hause wohnte! Als sie mit zitternder Stimme von ihrer eigenen Schwangerschaft berichtete, waren sich beide in die Arme gefallen und hatten minutenlang geweint.

    Irgendwie fühlte sich Gerda seit diesem Tage nicht ganz so alleine mit ihrem Geheimnis. Doch helfen würde ihr niemand, das musste sie alleine durchstehen. Einen Mann für ihr Kind gab es nicht. Sie würde ein uneheliches Kind gebären, ein Kind der Schande, das Ergebnis einer kurzen und heftigen Beziehung.

    Aber das größte Unbehagen bereitete ihr der Gedanke an die kleine christliche Gemeinschaft am Ort, deren Mitglied sie war. Und als sie nach Bekanntwerden ihrer „unmoralischen Schwangerschaft" dem Gemeindevorstand Rede und Antwort stehen musste, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen.

    Wie eine Angeklagte musste sie dem ausschließlich von Männern besetzten Vorstand über ihre Schwangerschaft berichten und wie es dazu gekommen war. Beschämt und gedemütigt hatte sie sich gefühlt. Alles was sie sagte, wurde mit Skepsis zur Kenntnis genommen. Nicht ein Teilnehmer dieses fragwürdigen Tribunals hatte ein Wort des Verständnisses für sie gehabt. Und als jemand noch den Verdacht äußerte, ihr Schwager Hermann Dietl, der Ehemann ihrer Schwester Lore, sei der Vater des ungewollten Kindes und nicht der junge Leutnant, hatte sie nur noch geweint und ihre Empörung war in ihrem Schluchzen völlig untergegangen.

    Ihre Erinnerungen wurden unterbrochen, als Lore durch die Küche kommend das Schlafzimmer betrat. Wortlos ging sie an den Rand des Bettes und betrachtete das neugeborene Kind. Ihr Gesicht war regungslos, als sie minutenlang auf Henning herabblickte. Es schien, als suchte sie nach Ähnlichkeiten mit ihrem Hermann. Die Gerüchte um Gerda und ihren Mann Hermann waren ihr natürlich zu Ohren gekommen. Sie wusste, dass ihre Schwester von einigen Männern des Dorfes begehrt wurde. Gerda war ja auch eine sehr attraktive Frau und außerdem ungebunden. Ein wenig mitleidig schaute Lore in Gerdas Gesicht und lächelte dabei leicht verlegen. Das schwarzbraune Haar und die etwas vorstehenden Wangenknochen gaben ihrer Schwester ein fast edles Aussehen. Die großen, dunkelbraunen Augen verliehen ihren Gesichtszügen tiefe Sinnlichkeit und Würde. Zu verstehen war es schon, dass die Männer dieser jungen Frau von Anfang dreißig den Hof machten. Aber dass ihr treuer Hermann ebenfalls zum Kreise der Verehrer zählen sollte, das schien ihr abwegig. Außerdem hatte ihr Mann diese Verdächtigungen überzeugend von sich gewiesen. Nun, es gab keinerlei Grund, dem Getratsche der Nachbarschaft weiter auch nur einen Gedanken zu widmen.

    Ein wenig erleichtert reichte sie der im Bett liegenden Gerda die Hand, gratulierte, beugte sich nieder und küsste Gerda flüchtig auf deren Wange. Lore berührte mit der Außenseite ihrer Hand ganz leicht die rosige Wange des schlafenden Kindes und verließ das Schlafzimmer. Zuvor aber fuhr sie Klaus mit ihrer Hand liebevoll durch dessen schwarzes, lockiges Haar. Wie sehr sich doch diese beiden Kinder voneinander unterschieden. Hier der dunkelhaarige Klaus mit seinen schwarzen Locken und dunkelbraunen Augen, dort der eben erst geborene hellhaarige Henning. Obwohl die Farbe der Haare und Augen bei Neugeborenen noch nicht eindeutig zu bestimmen waren, konnte jedermann sehen, dass Henning und Klaus sich sehr unterscheiden würden.

    Lore hatte inzwischen damit begonnen, die schmutzige Wäsche aufzusammeln. Emotionen und viele Worte gehörten nicht zu ihren Eigenschaften. Als älteste Tochter von zwölf Kindern war sie der Mutter schon früh im Haushalt eine Hilfe gewesen, indem sie ihre kleinen Geschwister versorgte. Wenn es Arbeit gab, wo und wann auch immer, packte sie zu.

    Hierbei entwickelte sie eine Dynamik und Zielstrebigkeit, die kaum Platz ließ für Nachdenklichkeit oder Zweifel an ihrem Tun. Wenn sie eine Arbeit übernommen hatte, dann bestimmte sie den Takt und die Geschwindigkeit wie ein Regimentskommandeur, der keinen Widerspruch duldete.

    Sie räumte Schlafzimmer und Küche auf und legte Holz im Herd nach. Nachdem sie für Gerda und Klaus das Abendbrot zubereitet hatte, nahm sie alle schmutzigen Wäschestücke, legte sie in einen Korb und verabschiedete sich von den beiden. Wenn es nötig würde, wäre sie in der Nähe, denn das Haus von Lore und Hermann Dietl stand nur 50 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite.

    Durch das etwas laute Zuschlagen der Zimmertüre war der kleine Henning erwacht. Zunächst rieb er sich die noch fest geschlossenen Augen und begann dann zu schreien. Gerda setzte sich auf die Kante des Bettes, nahm den Kleinen in den Arm und säugte ihn. Klaus sah ihr dabei neugierig zu und stellte allerlei Fragen; das alles war völlig neu für ihn.

    Wenige Tage später suchte Gerda im benachbarten Bergergrund das Amtshaus auf, um ihren neugeborenen Sohn registrieren zu lassen. Obwohl sie nach dem Verlassen des Busses nur kurz durch den weichen Schnee zum Amtshaus laufen musste, bereitete ihr jeder Schritt große Mühe. Schon seit Monaten fühlte sie bei jeder Anstrengung eine nie zuvor gekannte Schwäche, und als sie die wenigen Treppenstufen zum Amtshaus hinauf schritt, begann sie laut zu keuchen. Bisher hatte sie diese Schwäche mit ihrer Schwangerschaft erklärt und wenig darüber nachgedacht. Doch heute bekam sie ein wenig Angst, denn sie konnte ihren Zustand nicht deuten.

    Wenige Minuten später saß sie im Dienstzimmer des Standesbeamten, der die Geburt registrieren sollte. Schon früher hatte ihr der Gedanke an diese notwendige Prozedur Unbehagen verursacht. Dieses Unbehagen verstärkte sich in dem Moment, als der Beamte nach dem Namen des Vaters fragte. Gerda blickte zu Boden und eine leichte Rötung lag auf ihrem Gesicht, als sie erklärte, dass der Vater des Kindes unbekannt sei. Ihr Gegenüber unterbrach seine Notierungen und entgegnete etwas herablassend, ob dies daran läge, dass mehrere Männer dafür infrage kämen.

    Die leichte Schamröte, die Gerdas Antlitz bisher zeigte, wich einer ausgewachsenen Zornesröte. Mit erregter Stimme verbat sie sich derartige Unterstellungen und versuchte dann etwas ruhiger, ihre Geschichte vorzutragen. Ihre Schilderung endete mit der Bitte, dass sich das zuständige Vormundschaftsgericht an der Suche nach dem Vaters beteiligen solle. Denn Gerda kannte nicht einmal den Namen der Kompanie, zu der ihr Leutnant gehörte. Außer seinem Vor- und Nachnamen wusste sie nichts von ihm. Sie konnte nicht einmal sagen, ob es der richtige Name war, den der junge Soldat genannt hatte.

    In den Wirren der letzten Kriegswochen hatte es keinen geordneten Rückzug von Militäreinheiten gegeben. Die Soldaten, die im März 1945 in Friesberge und Bergergrund für zwei Wochen kampiert hatten, gehörten verschiedenen Einheiten an. Darüber, woher sie kamen und wohin sie gingen, hatte ihr kein Mensch etwas sagen können. Rückblickend musste sie sich eingestehen, doch etwas naiv diese Affäre zugelassen zu haben. Wo sollte sie suchen und wen fragen? Immer hätte sie erklären müssen, dass sie den Vater ihres unehelichen Kindes suchte, der vielleicht nicht einmal wusste, dass ihre kurze, heftige Liebe nicht ohne Folgen geblieben war.

    Während diese Gedanken durch ihren Kopf rasten, betrachtete sie den vor ihr sitzenden Beamten. Seine Körperfülle schien nicht auf Mangel und Entbehrungen hinzuweisen. Wie ein Oberlehrer stellte er die Fragen oder reagierte mit arroganter Mimik und mit teilweise verletzenden Kommentaren auf Gerdas Antworten. Gerne hätte sie diesem Widerling ihre Handtasche auf den haarlosen Schädel geworfen, denn jede seiner Fragen wurde von einem hämischen Unterton und einem hinterhältigen Grinsen begleitet.

    Als man ihr die amtliche Geburtsurkunde überreichte, nahm sie diese kommentarlos an sich. Fast uninteressiert überflogen ihre Augen das Blatt Papier, auf dem stand:

    Sie faltete die Urkunde zusammen und steckte das Papier in ihre Handtasche. Anschließend erhob sie sich von dem harten, unbequemen Stuhl und verließ grußlos das Zimmer. Niemand bemerkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

    Draußen auf der Treppe blies ihr ein kalter Ostwind ins Gesicht und verteilte die Tränen ihrer Empörung auf ihren blassen Wangen. Wie von einer schweren Last gedrückt schritt sie langsam die Stufen hinab und begab sich zur Bushaltestelle.

    Dort angekommen bemerkte sie, dass der nächste Bus erst in 40 Minuten abfahren würde. Trotz der ungeräumten Bürgersteige stapfte sie durch den hohen Schnee an der Rathausstraße entlang zur Wohnung ihres Bruders, der unmittelbar an der Straße in einem alten Mehrfamilienhaus mit seiner Frau Hulda wohnte. Ihr Bruder Jakob war ihr der Liebste von allen Geschwistern. Gerne hätte er mit Hulda Kinder gehabt, aber nach zwei Fehlgeburten und dem Rat des Arztes hatten sie aus Rücksicht auf Huldas Gesundheit ihren Kinderwunsch aufgegeben. Sie kompensierten ihren Verzicht damit, dass sie oft Kinder aus der Verwandtschaft oder Nachbarschaft für einige Tage bei sich aufnahmen und mit gutem Essen und manchen Leckereien verwöhnten.

    Jakob war ein stiller, in sich gekehrter Mann. In Folge eines Betriebsunfalls war er für den Kriegsdienst als untauglich eingestuft worden. Er hatte deshalb während der ganzen Kriegsjahre in einer Filzfabrik gearbeitet, in der wärmendes Schuhwerk und andere Isolierteile hergestellt wurden. Hulda, ihre Schwägerin, war hingegen überhaupt nicht introvertiert. Stets war sie über die neusten Begebenheiten im Haus, in der Straße und im kleinen Städtchen bestens informiert. Sie hatte auch die Angewohnheit, ständig über körperliche Krankheiten zu klagen, obwohl diese in Mehrzahl eigentlich von ihr selbst verschuldet wurden, denn sie hatte einen gesegneten Appetit und dies war nicht ohne Folgen für Blutdruck und Gewicht geblieben.

    Wie viele andere gute Köche und Köchinnen hatte sie die Angewohnheit, bereits während des Kochens und der Zubereitung von Speisen, allein schon durch ununterbrochenes Probieren, einen frühzeitigen Sättigungsgrad zu erreichen. Später am gedeckten Tisch, wenn das eigentliche Essen beginnt, ist der Hunger dann oft frühzeitig gestillt.

    Schwägerin Hulda bildete da eine wirkliche Ausnahme. Sie konnte noch so viel probiert, abgeschmeckt und gekostet haben, trotzdem bemühte sie sich beim späteren Essen stets um eine intensive Teilnahme. Und sollte am Ende eines ausgiebigen Mahls in einem der Töpfe oder Schalen wirklich noch ein Rest entdeckt werden, folgte rituell die Aufforderung an ihren Mann Jakob: „Oh, mein Lieber, nimm du bitte noch den Rest, es wäre zu schade, wenn er ungegessen blieb." Jakob, der die Szenen kannte, schmunzelte dann verstehend und erklärte regelmäßig lächelnd von seinem bereits überfüllten Magen, wohl wissend, dass seine Frau Hulda nur allzu gerne die Aufgabe des Resteverzehrens übernahm.

    Ehrlich gesagt, war es auch eine besondere Freude, sich von Hulda bekochen zu lassen. Als junges Mädchen hatte sie als Köchin in gut situierten Familien ihren Dienst getan und ihr Kochtalent dabei zweifelsohne zur Vollendung gebracht. Hulda war eine sehr häusliche und gutmütige Frau. Was die Sympathien für sie allerdings etwas schmälerten, war ihre Eigenart, leicht quengelig zu werden. Dies geschah besonders dann, wenn körperliche Arbeiten zu verrichten waren oder ihre Neigung, ausreichend und fett zu essen, ihr Wohlbefinden schmerzlich eingrenzten. Dann konnte sie wie aus heiterem Himmel zu weinen beginnen, aber wenn es ihr sinnvoll erschien, ebenso schnell wieder damit aufhören und ihrem Gesicht einen völlig anderen Ausdruck verleihen.

    Gerda hatte inzwischen den dunklen, fensterlosen Hausflur erreicht. Jakob und Hulda wohnten im Stockwerk darüber. Schritt für Schritt tastete sie sich am Treppengeländer nach oben, wobei jeder Tritt vom Knarren der alten Holzstufen begleitet wurde. In der Mitte der Treppe befand sich auf einem kleinen Absatz eine Türe, hinter der sich ein aus Brettern gezimmertes Plumpsklo befand. Der üble Geruch durchzog das ganze Treppenhaus. Noch ein paar Stufen höher und Gerda stand vor der Wohnungstüre ihres Bruders. Wieder empfand sie diese Atemnot und wieder musste sie um Luft ringen. Hulda hatte die Tritte draußen bereits wahrgenommen, öffnete neugierig die Türe und freute sich sichtbar über den unerwarteten Besuch ihrer Schwägerin.

    Allerdings bemerkte sie unverzüglich Gerdas offensichtliche Atemnot und ihre bläulich eingefärbten Lippen. Ohne Huldas Fragen abzuwarten, berichtete Gerda von den Luftproblemen, die sie seit einigen Monaten empfand und die sich auch nach der Schwangerschaft nicht gebessert hatten. „Vielleicht ist es auch die Aufregung und die Begegnung auf dem Amt, die dein Herz in Mitleidenschaft gezogen haben", vermutete Hulda.

    Sie setzte Kaffeewasser auf und nach kurzer Zeit standen zwei Tassen mit herrlich duftendem Kaffee auf dem Tisch. Beide Frauen plauderten noch ein wenig, während sie den heißen Kaffee schlürften. Dann allerdings wurde es Zeit für Gerdas Aufbruch. Der Bus würde in fünf Minuten an der Haltestelle sein, die sich nur wenige Meter vom Haus entfernt in der gleichen Straße befand. Gerda erreichte den Bus rechtzeitig, musste aber beim Abschied ihrer Schwägerin versprechen, in Kürze einen Arzt aufzusuchen. Nach einer kurzen Fahrt hatte der gelbe Postbus Friesberge erreicht.

    Henning, ihr Neugeborener war währenddessen von ihrer Freundin Grete Wirth in deren Wohnung beaufsichtigt worden. Allerdings, so erzählte Grete, hatte der Kleine ununterbrochen geschlafen und nicht einmal die Abwesenheit seiner Mutter bemerkt.

    An einem warmen, schwülen Sommerabend des gleichen Jahres, Henning war inzwischen acht Monate alt, machte sich Gerda mit Klaus auf den kurzen Weg zum Haus ihrer Eltern. Das alte Fachwerkhaus war nur 200 Meter von Gerdas Wohnung entfernt. Im März zuvor war ihre jüngste Schwester Luise von einem gesunden Mädchen entbunden worden. Luise kümmerte sich um die inzwischen betagten Eltern und es war eine ausgemachte Sache, dass sie mit ihrem Mann Alfred das Haus erben würde. Gerda wollte nur ein halbes Stündlein bleiben, weil sie Henning in seinem Kinderbettchen zurückgelassen hatte. Er war zwar satt, sauber gewickelt und schien äußerst müde zu sein, aber für längere Zeit wollte sie ihn nicht alleine lassen.

    Gegen 20.00 Uhr kehrten beide ins Haus zurück. Gerda nahm den Zimmerschlüssel aus dem Versteck, das sie seit Jahren dafür benutzte, und öffnete die Türe, die vom Hausflur in ihre kleine Küche führte. Auf den ersten Blick schien alles so zu sein wie immer. Schnell öffnete sie die Türe ins Schlafzimmer, um zu sehen, ob ihr Kleiner noch immer schlief. Mit Schrecken musste sie feststellen, dass sämtliche Türen des Kleiderschrankes und der Wäschekommode geöffnet waren. Aufgeregt und völlig fassungslos vor Angst schaute sie hinter die Türe, wo das kleine Kinderbett ihres Sohnes stand. Doch Henning lag friedlich schlummernd unter seiner weichen Decke und nur ein nacktes kleines Füßchen lugte darunter hervor.

    Nachdem feststand, dass das Kind

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