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DER SCHATTEN DES CHARON: Buch 1: Vater
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DER SCHATTEN DES CHARON: Buch 1: Vater
eBook538 Seiten8 Stunden

DER SCHATTEN DES CHARON: Buch 1: Vater

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Über dieses E-Book

Prinzessin Anandalal - Lal genannt - ist gerade 16 Jahre, als ihr Vater, König Liam, unzählige Gäste im prächtigen Schloss von Thale empfängt, um das Fest des roten Mondes zu feiern. Ein unerwarteter Besucher sorgt für Aufsehen und Unruhe: der Ehrfurcht gebietende Prinz von Thanatos, Dyonisos. Er ist der Sohn von Siris (Satan).
Während die Familie vor dem Prinzen warnt, ist Prinzessin Lal vollkommen fasziniert sowohl von dessen eindrucksvoller Erscheinung als auch von der magischen Präsenz, die sie sehr stark spürt. Prinz Dyonisos weiß, dass Lal über Magie verfügt, von der sie selbst kaum etwas weiß. Denn diese Magie ist ein wohlgehütetes Geheimnis in Thale. Doch Lal ist eine Suchende, will ihren Platz im Leben noch finden und ahnt noch nichts von dem Weg, der ihr bestimmt ist.
Da bietet sich Dyonisos als ihr Lehrmeister an. Er will sie mit der Magie vertraut machen, jene Macht, die ihre Mutter einst verzweifelt den Freitod wählen ließ.
Und Lal vertraut sich Dyonisos an …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Okt. 2019
ISBN9783749723973
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    Buchvorschau

    DER SCHATTEN DES CHARON - Amelie Bitar

    Der rote Mond

    „Love Is Right Now"

    Negative

    Eroch frisch und klar an diesem Morgen, und sobald Lal die Augen aufgemacht hatte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war noch halb dunkel im Raum. Der Vorhang spielte leicht im zarten Wind, der das Ende des Sommers ankündigte, und die Schatten waren noch lang in den Ecken. Es musste gerade erst Sonnenaufgang sein.

    Sie sprang eilig aus dem Bett, schob den Vorhang beiseite und atmete tief die kalte Morgenluft ein. Das Meer lag ruhig und still in den ersten Strahlen des Himmelsfeuers und spiegelte sich millionenfach. Ein wundervoller Anblick, und gern hätte sie sich ihm noch ein wenig länger widmen wollen an jedem anderen Tag, aber dieses Mal war daran nicht zu denken. Heute war der Tag!

    Aufgeregt versuchte sie, sich in Erinnerung zu rufen, was sie alles noch tun wollte, bevor alles, was Rang und Namen hatte, am heutigen Nachmittag zum großen Fest des roten Mondes erscheinen würde. Die Könige und Königinnen, die gesalbten Häupter und Blaublüter des ganzen Festlandes würden kommen, hierhin nach Thale, in das Königreich ihrer Väter. In ihre kleine Stadt, ihre Heimat. Es würde ein Festreigen sondergleichen geben, wie es ihn nur alle paar Jahre gab, zur Freude über die Zeitenwende, wie diese besondere Zeit im Volksmund genannt wurde, die Tage um die eine Nacht herum, wenn sich der Mond für ein paar Stunden blutrot färbte. Es war ein gewaltiges, sonderbares, außergewöhnliches nächtliches Schauspiel, das man von verschiedenen Orten aus mit schöner Regelmäßigkeit verfolgen konnte. Die Sternenseher und Astronomen waren wochenlang im Voraus mit der genauen Vorhersage des Ortes und des Datums beschäftigt, von wo aus man die beste Sicht haben würde, sodass die Vorbereitungen des Festes beginnen konnten, sobald sie ihre augurischen Worte verlauten ließen. Um diese besondere Nacht rankten sich Legenden und Geschichten um spezielle Vorkommnisse, und viele Gebete und Predigten wurden vorbereitet, weil es hieß, dass die spirituelle Welt der Weltlichen zu diesem Zeitpunkt besonders nah war. Dieses Mal war die glückliche Wahl auf Thale gefallen, dieses Fest auszurichten.

    Sie musste als erstes Cecilé wecken. Wenn ihre liebe Schwester noch im Bett läge, würde es ihr leidtun, auch nur eine Minute dieses wundervollen Tages verschenkt zu haben. Lal stürmte aus dem Zimmer in den Nebenraum, wickelte dabei hastig den Morgenrock um ihre Schulter gegen die Kälte, die in ihr hochkroch. Ihre jüngere Zofe Nante lag zusammengerollt auf einer kleinen Decke vor der Tür ihrer Herrin, die lockigen braunen Haare vom Schlaf noch wild durcheinander.

    „Hey, wach auf, es ist da, das Fest des Mondes hat begonnen. Lal stieß sie sanft an. „Ist Cecilé schon wach?

    Nante fuhr zusammen und strich sich über das Gesicht. „Oh, Herrin, ich habe Euch gar nicht gehört. Ich weiß nicht, aber ich werde nachsehen." Sie sprang eilig auf, strich über ihre zerknitterten Leinen und rollte schnell ihre Decke zur Seite.

    Aber Lal war schon an ihr vorbeigestürmt und klopfte selbst an die Tür ihrer kleinen Schwester. Nichts passierte.

    Typisch, dachte Lal, vorher macht sie die Pferde scheu, und dann hält sie ihren Schönheitsschlaf. Sie stieß heftig gegen die Tür. „Cecilé, wach auf, es ist der Tag, er ist wirklich gekommen! Heute werden wir Prinz Casimir wiedersehen! Mach auf!"

    Es rumpelte, als sei ihre Schwester aus dem Bett gefallen, dann öffnete sich endlich die Tür, und vor ihr stand Cecilé, rieb sich verschlafen die Augen, war ebenfalls im Morgenrock, doch die aufgeregte Erwartung der Dinge des heutigen Tages stand ihr schon ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen blitzten, als Cecilé auf und ab sprang.

    „Oh, Lal, komm rein. Wie konnte ich nur so lange im Bett bleiben. Sie grinste von einem Ohr zum anderen. „Meinst du wirklich, er kommt? Wirklich und tatsächlich?

    „Na, wenn er nicht vorher vom Pferd fällt, wird er heute Nachmittag hoch zu Ross höchstpersönlich in unseren Schlosshof einreiten." Lal grinste. „Du willst doch sicher nicht, dass er dich so sieht, oder?

    Also, lass uns schnell baden und fertig machen. Ich glaube, König Salassin aus Arcadia wird schon früh am Nachmittag erwartet, bei der weiten Reise."

    „Oh, ich freue mich schon auf die Geschenke aus Arcadia, rief ihre Schwester aus. „Denk nur, wenn er diese schönen glitzernden Steine mitbringt und die fein gearbeiteten Felle und Kleider. Schade, dass er nur so selten kommt.

    „Du hast ja nicht mal die letzten Geschenke von ihm von vor vier Jahren in Isfahan zu Schmuck verarbeiten lassen. Jetzt zieh dich lieber erst einmal an. Weißt du schon, was du tragen willst?"

    „Das blaue Kleid mit den Rüschen … oh je, was soll ich nur machen, wenn es nicht mehr passt? Cecilé stöhnte. „Ich seh‘ es schon kommen, wochenlang hungert man sich was ab, und wenn es drauf ankommt, kneift der Saum. Na, ich geh‘ jetzt erst mal baden. Sie zwinkerte fröhlich zu ihrer Schwester zurück. „Bis gleich."

    Lal lächelte. Als ob Cecilé nicht wüsste, dass sie allen Prinzessinnen mit Leichtigkeit die Schau stehlen würde allein mit ihrem bezaubernden Lächeln und den goldblonden Locken. Sogar ein Prinz Casimir würde dem kaum länger als einen Augenblick widerstehen können. Das letzte Mal, als er zu Gast in Thale gewesen war, war es nicht anders gewesen. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie an den sommerlichen Reitausflug mit ihrem Vater und den edlen Rittern aus Thale zurückdachte, an dem auch Casimir, der Sohn König Mudros, dem König der Elben aus Siebenbergen, teilgenommen hatte. Cecilé hatte ihm die ganze Zeit schöne Augen gemacht, und der Prinz selbst hatte folglich keine Augen mehr für etwas anderes als die Prinzessin gehabt. Schlecht sah er wirklich nicht aus, groß und stattlich war er, ein Krieger, was man an seiner Statur sehen konnte. Er musste ein Meister des Schwertes sein, so erzählte man sich, sogar in seinen jungen Jahren. Er würde einmal ein großer König werden, wie sein Vater.

    Lal drehte sich um und ging zurück in ihr Zimmer. Sie musste sich jetzt auch dringend überlegen, was sie selbst zur Feier anziehen sollte. Die Entscheidung war immer noch nicht ganz gefallen. Blau stand ihren blonden Haaren immer gut, und sie hatte eine Reihe von Ballkleidern in allen Blautönen. Aber neben ihrer Schwester war ihr eigenes Haar fahler und einen Hauch dunkler, und diese trug schon ein wunderschönes himmelblaues Kleid, das sie sich extra für diesen Anlass hatte schneidern lassen. Lal hatte sich gerade ein neues Kleid aus feuerrotem Samt aus Isfahan nach ihren Vorstellungen anfertigen lassen. Das wäre wohl eine Augenweide, und die Zeitenwende wäre genau der richtige Anlass für die Premiere eines solchen Kleides. Sie zog das Bündel vorsichtig unter dem Bett hervor. Würde sie das wirklich wagen, ein solches aufsehenerregendes Kleid? Nante kam zurück in das Zimmer, die Haare hastig in ihren üblichen Knoten gesteckt, ein paar Roben über dem Arm.

    „Mylady, wie wäre es mit diesem Kleid für heute?"

    „Nein, meine Liebe, ich glaube, ich habe mich für dieses entschieden." Grinsend hielt Lal ihr den roten Stoff entgegen.

    „Na, wenn Ihr meint. Nante hatte diesen schelmischen Gesichtsausdruck. „So wörtlich meinte Euer Vater das bestimmt nicht, wenn er sagte, dass Ihr Euch langsam einen Prinzen zum Heiraten wählen solltet.

    Lal hielt sich das Kleid vor die Brust und drehte sich vor dem Spiegel. „Meinst du, es ist wirklich so schlimm?"

    Nante verzog neckisch den Mund und schüttelte leicht den Kopf, als sie ihren Packen Kleider ablegte und zu Lal ging, um ihr beim Auskleiden behilflich zu sein. Die Wanne mit herrlich warmem Wasser stand schon wohlduftend bereit. Es würde ein wundervoller Tag werden. Lal fühlte sich wunderbar entspannt und die Erwartung der Dinge, die da heute noch kommen sollten, kribbelte bis in ihre letzte Zehe.

    Die Sonne stand schon hoch im Zenit, als die beiden Prinzessinnen endlich die Treppe im Thronsaal herunterglitten. Die Menge der Würdenträger war ebenfalls noch nicht vollständig, aber wer immer im Saal war, verpasste diesen Anblick nicht. Cecilé war großgewachsen, schlank und grazil in ihrem mit glitzerndem Goldbrokat in Überfluss besetztem himmelblauem Kleid, das wahrlich atemberaubend war. Ihre langen goldblonden Locken funkelten genauso strahlend wie ihre hellblauen Augen, und diese wiederum mit ihrem Kleid um die Wette. Sie wusste um ihren Auftritt und hielt gekonnt den Blick gesenkt, nicht ohne die wartende Menge unter ihren langen gefärbten Wimpern zu begutachten und ihre Wirkung abzuschätzen.

    Lal schritt hinter ihr, die Ältere, würdevoll, in goldrotem Samt, der ihre Taille betonte und in einer eleganten Schleppe mit kunstvollen goldenen Verzierungen hinter ihr endete. Die blonden Haare hatte sie locker gerafft und im Nacken hochgesteckt. Sie schaute offen umher, sah die Edelmänner ihres Vaters und einige Grafen und Gräfinnen aus ihren Landschaften, die sich an einem reichhaltigen Buffet gütlich taten und sich in entspannter Atmosphäre lachend über den neuesten Klatsch und Tratsch austauschten. Die Gesichter der Anwesenden wandten sich den beiden Prinzessinnen staunend und anerkennend nickend zu, als sie, wie immer, andächtig den Schritten ihrer Schwester folgte. Vorsichtig, um nicht über ihre Schleppe zu stolpern, folgte sie ihr durch die Menge direkt auf die Empore an der Südseite des gewaltigen Thronsaales zu, alle Blicke mit sich ziehend.

    Ihr Vater hielt schon Hof auf dem riesigen Thron, der auf der erhabenen Empore stand. Er trug das offizielle Gewand der Königshäupter von Thale in tiefem dunklem Blau mit goldenen Verzierungen und goldgelber Schärpe quer über der Brust. Das Wappen von Thale war schmuckvoll darauf gestickt, der Turm mit dem Pferd und der weißen Lilie. Hinter ihm waren die bunten Glasfenster mit Wimpeln und Fahnen geschmückt, die Thales Wappen aufgriffen, und zu seiner linken Seite standen zwei weitere kleinere, leere samtbezogene Sitze, hinter ihm zwölf schmucklose Stühle an einer langen Tafel. Die Garde war schon fast vollständig. Wenige der zwölf Ritter ihrer königlichen Familie fehlten noch, die ihr eigenes Wohl und Leben deren Sicherheit verschrieben hatten. Ihr persönlicher Ritter der Garde, Priom, stand direkt hinter ihrem Thron, und bevor sie sich neben ihren Vater darauf setzte, grinste er sie aus seinem Lausbuben-Gesicht anerkennend an, nachdem er ohne Scheu ihre ganze Erscheinung mit Blicken ausgekostet hatte, während sie an der Seite ihrer Schwester langsam auf ihn zugeschritten war. Lal fühlte sich leicht erröten und senkte den Blick.

    Lal erhaschte einen kleinen strafenden Seitenblick aus dem Augenwinkel aus dem sonnengegerbten Gesicht ihres Vaters, bevor sie sich neben Cecilé und ihn setzte. Wahrscheinlich mag er das Kleid nicht, das ich trage, dachte sie still. Es war ganz allein ihre Idee gewesen, und sie hatte es – mit Unterstützung der Hofschneiderin Marte – ganz allein nach ihren eigenen Vorstellungen umgesetzt. Es war aus dem traumhaft edlen Samt von Isfahan genäht, ein Geschenk ihrer Tante zum sechzehnten Geburtstag. Der rote Samt lag über feiner weißer Spitze auf ihrer weißen Haut, und glänzend orangene Bänder waren auf ihrer Brust geschnürt, bevor der Stoff in einer dramatisch weiten bordeauxroten Robe mit vielen Falten endete. Die Bänder zogen ihre Taille zusammen und liefen in einer dunkelroten Blüte aus Stoff in ihrem Schoß aus, in deren Mitte ein glitzernder, blutroter Stein aus Arcadia schimmerte. Auch wenn sie kaum sitzen konnte, da das enge Kleid ihre Figur einquetschte und sie kaum tief einatmen konnte, war es diesen Auftritt wert. Sie hatte halt nicht die Wespentaille ihrer Schwester, aber sie fand, es war ihr gutes Recht, so viel Aufmerksamkeit zu erregen, wie es ihr möglich war. Sie blinzelte schnell auf ihre Brüste, die wunderbar hervorgehoben, rund und fest unter der weißen Spitze unter dem Samt hervorschauten. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Sie hatte die Blicke der Anwesenden wohl bemerkt, die auch ihr diesmal Tribut zollten, selbst neben ihrer so atemberaubenden und anmutigen Schwester.

    Lal lächelte zu sich selbst. Seltsam, die Blicke der Garde waren ihr viel angenehmer als die der Würdenträger im Saal zu ihren Füßen. Na, die Garde kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war, und sie waren alle kräftige, großgewachsene Krieger und Männer in bestem Alter, teilweise mit Familien, aber viele auch alleinstehend. So wie Priom. Er war allein für sie und ihre Sicherheit zuständig. Für sie allein, und für nichts anderes. Sie liebte es, darüber nachzudenken. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr freute sie der Gedanke, und ein wohliges Gefühl schlich sich in ihren Bauch. Priom würde sie immer retten. Er war immer für sie da, ihr ganz eigener persönlicher Ritter. Und sie hatte ihn auch schon oft gefordert.

    Vor ihr lag der riesige Thronsaal, geschmückt mit Wimpeln, Bändern und Fahnen, an beiden Seiten hohe Fenster, die sich bis zur Decke erstreckten. Die Decke war so hoch und in einem Hauch von Blau angemalt, dass sie als Kind immer das Gefühl gehabt hatte, direkt in den Himmel zu blicken. An beiden Seiten standen zwei gewaltige lange Tische, gedeckt für Hunderte von Gästen, und Bedienstete rannten geschäftig zwischen den schon sitzenden oder stehenden Menschen in feinen Roben umher. Zu ihrer Rechten sah sie eine weitere, kleinere Empore, die sonst nicht dort war, mit den Musikern, die sich an ihren Instrumenten zu schaffen machten. Es war ein Rauschen und Geschwätz zu hören.

    „Schau mal, wer da ist. Ihre Schwester riss sie aus den Gedanken, indem sie Lal aufgeregt am Ärmel zupfte und durch die geschlossenen Zähne zischte: „Bei der großen Göttin, sieht er nicht gut aus?

    Das Raunen im Saal wurde lauter, und eine Fanfare an der weit geöffneten Eingangstür kündigte die ankommenden hohen Gäste an. Richtig, die riesige Gestalt König Mudros, gefolgt von den drei Mitgliedern seiner Familie, ging gemäßigten Schrittes durch den Thronsaal, während sich die Anwesenden ehrfurchtsvoll vor ihm neigten. Es dauerte eine Zeit, bis Lal seine derben, faltigen Züge erkennen konnte, so groß war die Distanz. Sie wunderte sich gar nicht erst darüber, wie gut Cecilés Augen sein mussten.

    Einen Schritt hinter dem Elbenkönig schritt seine Frau, Königin Asvite, eine Elbin von unglaublich feiner, fast durchsichtiger Gestalt in einem Traum von weißer und durchscheinender Seide, sodass man meinen konnte, sie schwebe. Neben ihr ging … fast könnte man nicht glauben, dass das seine Mutter war. Casimir überragte sie um mehr als einen Kopf mit seiner wuchtigen Gestalt. Er stolzierte in einem elegantem dunkelbraunem Mantel aus Leder mit angenähten kleinen Fellen auf den breiten Schultern und mit hoch erhobenem Kopf an der staunenden Menge vorbei. Seine dunkelblonden Locken fielen bis auf die Schulter. Nach dem langen Sommer hatte er eine wunderbar dunkle Hautfarbe in seinem kantigen Gesicht, die von langen Stunden in der Sonne erzählte. Seine Augen blitzten aus der Ferne; die Ähnlichkeit zu seinem Vater war wirklich unverkennbar. Beide, König und Kronprinz von Siebenbergen, hatten eine goldene und grüne Schärpe in den Farben des Landes über der traditionellen weißen Tracht über ihre Brust geschwungen. Darauf war das Wappen von Siebenbergen zu sehen, das Ahornblatt mit den beiden goldverzierten Einhörnern.

    Neben ihm lief eine ebenfalls blonde junge Dame in einem Lederkleid aus hellem, weichem Stoff mit aufwändigen Verzierungen aus schwarzer Stickerei und bunten Steinen. Wer war sie?

    Lal blickte Cecilé fragend von der Seite an. Mit offenem Mund schüttelte diese nur fragend den Kopf. Der Fanfarist zu ihren Füßen klopfte in diesem Moment mit seinem Stab auf dem Boden und kündigte mit lauter Stimme Familie Mudros aus Siebenbergen an, Königin Asvite, seine Nachkommen Prinz Casimir und Prinzessin Sahi.

    „Er hat eine Schwester. Aufgeregt atmete Cecilé neben Lal auf und flüsterte ihr zu: „Wusstest du das?

    „Nein, woher, zischte Lal zurück. „Ich habe mich ja nicht länger mit ihm unterhalten wie gewisse andere Leute.

    Cecilé grinste, sie hatte ihren Rücken durchgedrückt und saß kerzengerade auf ihrem Stuhl; sie strich mit niedergeschlagenen Augen sorgsam ihr Kleid glatt, während Mudros der königlichen Familie seine Aufmerksamkeit erwies. Ein Blick in die Runde der Garde und eine knappe Verbeugung gegenüber ihrem Vater und zwei angedeutete Diener zu ihr und ihrer Schwester war alles, dann machte der fremde König einen Schritt zurück auf ihren Vater zu. Geschenke aus dem Elbenreich wurden von Dienern an die Seite gehäuft. Es waren tönerne Krüge und Kisten, aus denen es glitzerte. Lal bemerkte, dass Mudros seinen Blick umherschweifen ließ durch die Reihen der Garde bis hinauf zu den Fenstern, während er mit ihrem Vater leise höfliche Worte wechselte. Aus der Nähe sah sein Gesicht sehr alt und runzlig aus. Die beiden Könige schienen beide gleichgroß und ähnlich massig und ehrfurchtgebietend. Ihr Vater begrüßte ihn, wie ihr auffiel, mit einer gewissen Kühle. War das im Sommer schon so gewesen als er und Casimir hier waren? Sie konnte sich nicht genau erinnern.

    Hinter seinem Vater blickte Casimir Lal direkt an, und nachdem er sich tief vor dem König verbeugt hatte, nahm er erst ihre, dann die Hand ihrer Schwester und hauchte einen Kuss darauf. Cecilé errötete auf der Stelle und hatte plötzlich ein Taschentuch in der Hand, in das sie sich immer wieder schnäuzte. Prinzessin Sahi schaute allerliebst und zierlich aus, wich aber ihrem Blick aus und blieb hinter ihrem Vater. Lal fand, dass sie aus der Nähe sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte.

    „Möge die große Göttin das Haus von Thale und das gesamte Königreich beschützen und die bösen Mächte und Azipher im Zaum halten." König Mudros Stimme hallte laut im Thronsaal wider.

    Lal grinste, nachdem die Familie aus Siebenbergen sich zu den anderen Gästen an die Seite der Tafel an den beiden lange Außenseiten des Festsaales gesellt hatte. Ihre Schwester hatte die hochroten Wangen immer noch hinter ihrem bestickten Taschentuch verborgen.

    Die Zeremonie dauerte den ganzen Nachmittag, und die Seiten der Empore mit den Geschenken wuchsen stetig. Meistens waren es goldene Dinge, edle Steine und Schmuck, Gebrauchsgegenstände, feine Stoffe, seltene Gewürze oder Statuen aus fernen Ländern.

    Lal seufzte. Es würde noch lange dauern, bevor sie endlich tanzen dürfte. Sie liebte es, zu tanzen, und zu spüren, wie die Musik sie mit sich reißen und sie sich fast selbst vergessen konnte. Hinter den Fenstern zu ihrer Linken bemerkte sie, wie das Licht endlich immer schwächer und roter wurde. Die Sonne musste schon tief über dem Meer stehen. Die Feuerschalen zu beiden Seiten im Thronsaal wurden angezündet, und noch immer kamen weitere Gäste in Scharen durch die großen Portaltüren, häuften ihre Gaben auf und verteilten ihre Segen und guten Wünsche, bevor sie sich zu beiden Seiten im riesigen Thronsaal zu ihren Füßen und im Hof in kleinen Gruppen sammelten.

    „Hallo, ihr beiden."

    Lal schreckte aus ihren Gedanken auf. Ihre Tante Kunti stand plötzlich vor ihnen, die Hände in die schlanken Hüften ihres weinroten Kleides gestemmt. „Bei der großen Göttin, ihr seid ja erwachsen geworden!, rief sie freudestrahlend. „Passt du auch gut auf die beiden auf? Sie zwinkerte zum König. „Sie sind richtige junge Damen geworden, die zwei."

    Der König nickte bedächtig und begrüßte seine Schwägerin mit einer kurzen Umarmung. Lal dagegen sprang auf und fiel ihrer Tante stürmisch um den Hals, kurz hinter ihrer Schwester. Lachend wehrte diese ab.

    „Da habe ich genau das richtige für euch mitgebracht. Ihr Diener kam mit einem Arm voller Stoffe hinter ihr die Empore hinauf. „Diese Farbe muss dir prächtig stehen, Anandalal. Sie nahm einen Packen voll Stoff in warmen Brauntönen und hielt sie neben Lals Gesicht. „Wir werden dir ein Kleid daraus nähen, obwohl … Sie hielt inne, Lal streng von oben bis unten musternd. „Dieses Kleid hier ist auch nicht übel. Dreh dich mal um. Das ist doch aus dem Samt, den ich dir geschenkt habe. Wo hast du das denn her, Kind?

    Diesmal errötete Lal. „Ich habe es selbst geschneidert, mithilfe von Marte natürlich." Sie bemerkte, dass auch ihr Vater die Ohren spitzte und seine Mundwinkel kritisch zuckten.

    Ihre Tante nickte anerkennend und erhob einen Zeigefinger. Doch statt einer Strafpredigt kam nur: „Du weißt wohl schon sehr genau, was du willst, oder?" Lal schlug die Augen nieder.

    „Bitte, Kunti, setz dich zu uns." Die tiefe Stimme ihres Vaters übertönte das Geschnatter um sie herum, als schon die nächsten Gäste hinter ihrer Tante die Treppe erklommen. Kunti zwinkerte fröhlich und setzte sich dann auf einen eilig hereingebrachten samtbespannten Sitz neben Cecilé. Als Teil der königlichen Familie durfte sie auch auf der Empore sitzen. Lal war gar nicht traurig, dass Kunti weiter von ihr weg saß und angeregt mit ihrer Schwester zu plaudern begann. So hatte sie Gelegenheit, alles mitzubekommen, was geschah. Sie schaute von ihrer erhabenen Position im Thronsaal umher. Was hatte sie verpasst? Irgendwelche bekannten Gesichter in der Menge? Wer unterhielt sich mit wem? Es war inzwischen so voll im Saal, dass ein Summen in der Luft hing, als sich alle wiedersahen und freudig begrüßten. Was für eine schöne Stimmung, dachte Lal. Sie liebte das sanfte Licht des Feuers im Saal und die letzten Sonnenstrahlen aus den Fenstern an der Seite, und zu beobachten, wie einzelne Strahlen wie golden glänzten.

    Plötzlich gab es ein Rumoren am anderen Ende der Halle, und Lal sah mit zusammengekniffenen Augen angestrengt dorthin. Die Menge vor ihnen teilte sich erst nach einer langen Weile, und sie erblickte einen einzelnen, großgewachsenen Mann, halb verdeckt durch die Menschen vor ihr, der langsam genau durch die Mitte des Saales auf die Empore zuschritt. Wo immer er entlang ging wich die Menge hastig zurück, wie, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Das aufgeregte Geschnatter legte sich mit einer bleiernen Stille um ihn herum, bis es totenstill war im gesamten Saal. Aller Augen um ihn herum waren auf seine Erscheinung gerichtet, und Lal meinte, ungläubiges Staunen in ihnen zu entdecken. Die Musiker ließen die Instrumente sinken, und die Garde hinter ihr war halb in ihren Sitzen aufgestanden, die Hand am Schwertgriff, wie sie mit einem raschen Seitenblick feststellte. Die vorher so gelöste Stimmung schlug plötzlich in Anspannung um. Neugierig blickte sie den Neuankömmling an.

    Er war groß und schlank, muskulös, mit langen schwarzen Haaren. Ein langer nachtschwarzer Mantel hing über seinen Schultern, der fast den Boden streifte. Er schien aus einem schweren, steifen Material zu sein und war silbern bestickt an den Seiten. Darunter trug er komplett schwarze Kleidung mit leichten, ebenfalls schwarzen Reitstiefeln. Sein Gang war bedächtig, aber leichtfüßig, er schritt hoch aufgerichtet in müheloser Haltung wie ein König. Seinen Kopf trug er stolz in den Nacken gelegt, sein Blick stetig auf die Empore vor ihm gerichtet. Aber das Eigentümlichste an ihm war sein Blick. Sobald er nahe genug war, sah Lal wie tiefschwarz seine Augen funkelten, und wie bohrend. Es war ein Blick, der sich einem in die Seele bohrte, den man niemals mehr vergaß. Er war gerade auf ihren Vater gerichtet.

    Der Fanfarist zu ihren Füßen drehte sich hilfesuchend zu ihrem Vater und wieder zurück zu der Erscheinung, die am Fuße der Treppe anhielt, als er mit seinem Stab auf den Boden schlug. Es hallte weit wider im Saal, da niemand mehr sprach. Nur das Rauschen der Gewänder war zu hören, als sich alle Anwesenden reckten, um das Geschehen zu verfolgen. Die Feuer in den Schalen loderten auf, wie von einem Windhauch dazu angefacht.

    Lal hielt den Atem an, als der fremde Mann seinen Kopf schräg stellte und mit sanfter Stimme etwas zu dem Fanfaristen sagte. Dieser legte daraufhin den Kopf in den Nacken und verkündete laut: „Prinz Dyonisos von Thanatos bittet, seine Aufwartung machen zu dürfen."

    Ihr Vater neben Lal hatte erstarrt dagesessen und stand nun abrupt auf. Er ging einen Schritt die Treppe hinunter, dem Prinzen entgegen. Das hatte er den ganzen Tag noch nicht getan, egal, wer ihm seine Aufwartung gemacht hatte. Jetzt schauten auch Cecilé und Kunti aus ihrem Gespräch auf. Die Garde hinter ihnen raschelte unmerklich, als ob sie ihre Waffen fester umklammert hielten, und waren nun ebenfalls ganz aufgestanden, wie Lal mit einem neuerlichen Seitenblick bemerkte. Sie waren die einzigen im Raum, denen es gestattet war, Waffen bei sich zu führen. Der König stand eine Stufe über seinem seltsamen Gast, und doch schienen sie auf Augenhöhe zu sein. Lal beugte sich angestrengt vor, konnte jedoch nichts ausmachen von dem, was zwischen den beiden an Worten zu fallen schien. Sie sah nur den breiten Rücken ihres Vaters.

    Der Prinz lächelte breit, und Lal sah, wie sein Gesicht sich mit einem angedeuteten Nicken von ihrem Vater abwandte, der wie angewurzelt stehenblieb. Er machte einen letzten Schritt seitwärts an ihrem Vater vorbei in Lals Richtung. Plötzlich stand er vor ihr, seine Augen blickten weiter schwarz, tief und bohrend, aber dieses Mal so nah, dass sie bis in ihr Innerstes zu leuchten schienen. In diesem Moment schlug seine Art von Präsenz in atemberaubender Weise wie physische Wellen gegen sie und lähmte sie. Die Schwärze seiner Erscheinung schien den Saal und alles Licht hinter ihm zu schlucken. Sie hörte ein Summen in ihren Ohren wie von tausenden Bienen, die scheinbar im Kreis flogen. Lal war es, als drehe sich der Raum, während er ihre Hand nahm, sich tief verbeugte, und ohne die Augen von ihr zu nehmen, seine Lippen bis fast vor ihre Hand führte.

    „Prinzessin Anandalal, wenn ich mich nicht irre." Seine Stimme war sanft, vibrierend und tief, und ließ ihr die Nackenhaare aufstehen. Er schien keine Antwort zu erwarten. Sie konnte auch keinen Ton herausbringen, aber auch nicht die Augen von ihm wenden. Das Lächeln spielte immer noch um seine Lippen, als er sich wieder hoch aufrichtete, seinen Blick von ihr nahm und nun auf ihre Schwester richtete. Wiederum verbeugte er sich und nahm erst Cecilés, dann Kuntis Hand, wie vorher die von Lal. Ihre Tante rutschte unruhig auf ihrem Stuhl, als der Prinz sie schließlich losließ und sich bedächtig umdrehte, um wortlos zu den Tischen am Fuße der Empore zurückzukehren. Immer noch herrschte tiefe Stille im Saal unter ihnen.

    Der König drehte sich abrupt auf den Stufen zu seiner Rechten und machte eine Handbewegung zu den dort versammelten Musikern, bevor er zu seinem Thron zurückkehrte. Bald füllte eine wunderbare Musik den Raum. Er ließ sich schwer in seinen Sitz zurückfallen, und die Schwere der Anwesenden wich allmählich, denn hie und da kam vereinzeltes Gelächter auf. Kunti schüttelte abfällig den Kopf und murmelte wie zu sich selbst: „Dass er es wagt, hier aufzutauchen."

    Lal drehte den Kopf zu ihr und fragte: „Wer ist der fremde Prinz, Tante? Woher kommt er?"

    „Jemand, der nur Unglück bringt. Bleibt ihm bloß fern, ihr beiden." Sie schaute mit ernstem Gesicht zu den Schwestern hinüber. Cecilé schien sich wieder gefasst zu haben, wie sie mit einem Blick auf ihre Schwester feststellte, oder war sie von dem fremden Prinz vielleicht nicht so beeindruckt gewesen wie sie selbst?

    „Warum ist er so schlimm?, bohrte Lal nach, aber ihre Tante machte nur eine abfällige Handbewegung, die keine weitere Diskussion duldete. „Kein Umgang für euch. Punktum.

    Wie auf ein Kommando brachten die Bediensteten jetzt riesige Platten mit den feinsten Speisen in den Thronsaal. Die Menge zerstreute sich und jeder fand einen Platz an der Tafel, und das Summen stieg wieder wie zuvor zu einer fast betörenden Lautstärke.

    Lal war froh, an der Stirnseite zu sitzen, wo sie einen gewissen Abstand zur Menge hatte. Sie suchte mit den Augen den fremden Prinzen im Gewühl, aber die Menge hatte ihn verschluckt. Sie wandte sich ihrer eigenen Tafel mit den Rittern hinter ihr zu. Rebhuhn und Fasan mit Schüsseln und Tellern voller anderer, seltener Leckereien standen plötzlich auf dem Tisch zwischen der Garde und ihrer königlichen Familie, und der Wein wurde immer wieder nachgefüllt. Selten aßen sie und ihre Schwester mit der Garde, meistens waren sie allein mit der Köchin im Wirtschaftsraum, so genoss Lal die Gesellschaft in vollen Zügen. Priom prostete ihr über den Tisch hinweg zu, und Lal schlug die Augen nieder und trank den süßen Wein. Sie hatte nicht wirklich viel Appetit, zwang sich aber, ein wenig von den Köstlichkeiten zu probieren.

    Arestes, einer der Älteren der Garde stand auf und prostete seinem König einen Treueschwur zu, und alle seine Kumpanen taten es ihm gleich und erhoben ebenfalls den Becher. „Auf König Liam und seine Familie", tönte es unisono aus zwölf rauen Männerkehlen. Der Spruch wurde im Saal aufgegriffen, und plötzlich standen alle Gäste im Saal und hielten den Becher zur Stirnseite in die Höhe. Der König stand schwerfällig auf, drehte sich um, nahm ebenfalls seinen Becher und dankte seinen Gästen mit einem Nicken in die Runde. Lal sah, wie er unter seinem dicken Bart lächelte.

    Nach einer Weile, als die meisten Gäste ihre Teller geleert hatten, erhob der König wieder auffordernd seinen Arm zu den Musikanten, und die Musik erklang fröhlich und mitreißend mit einem leichten Walzer, der plätscherte wie ein kleiner Bach. Arestes war wiederum der Erste auf den Beinen, ging um den Tisch zu seinem König und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er musste wohl um den ersten Tanz des Abends gebeten haben. Der König nickte und bedeutete Lal mit einem Kopfnicken und kurzer Geste, Arestes ausgestreckter Hand zu folgen. Arestes war fast fünfzig Jahre alt, hatte kurze dunkelbraune, leicht verfilzte Haare und eine allseits bekannte etwas rohe und trinkfeste Natur. Er war ihrem Vater schon seit Jahren treu ergeben. Mit einem kleinen Seitenblick auf ihre Schwester, die sie wieder einmal darum beneidete, nicht Kronprinzessin zu sein, stand Lal auf und ergriff Arestes’ große, feste Hand, die sich ihr entgegenstreckte.

    Der Walzer schien endlos, aber der grobe Mann der Garde führte Lal für seine Verhältnisse sanft. Sie wusste wenig über ihn, außer, dass man erzählte, seine Familie lebe in der Stadt. Die meisten Männer der Garde besaßen eine Landschaft oder Grafschaft in der Nähe, und einige hatten Familie. Früher war man der Ansicht gewesen, dass nur jemand, der keine eigenen Anhänglichkeiten besaß, seinem König treu dienen konnte. Thale war ein modernes Königreich und hatte sich weiterentwickelt. Ihr Vater hatte sich in seiner Jugend selbst dafür eingesetzt, jedem aus seinem Gefolge Besitztum zu vermachen. Sie dankten es ihm mit wahrer, frei gewählter Treue. Jeder von ihnen hatte das Recht, seine Familie zu besuchen, solange er wollte. Einige von ihnen wurden nur zu hohen Festtagen wie zu dem heutigen im Schloss gesehen.

    Nur von diesem hier, Arestes, wusste sie kaum etwas, obwohl er im Schloss residierte. Hatte er wirklich eine Familie? Kinder? Wie oft er sie wohl besuchte? Er wirkte nicht wie jemand, der sich um andere Sorgen machte, aber vielleicht tat sie ihm Unrecht. Er sprach einfach nicht viel von sich. Lal tanzte gerne, besonders mit gut erzogenen Königssöhnen. Dieser war keiner, und sie fragte sich, warum ihr Vater mit dem Tanz einverstanden war. Arestes Hand war stark, aber er drückte sie nicht an sich, und er schaute sie auch nicht an. So konnte sie aber wenigstens den Kopf wenden im Tanz und die Menge um sich herum beobachten. Der Walzer war so leicht und die Führung so stark, dass sie sich nicht weiter auf ihre Schritte konzentrieren musste. Nur einmal erhaschte sie einen raschen intensiven Blick hinter tiefen Brauen, der sie tief musterten. Sie fühlte sich dabei etwas unbehaglich und wandte schnell den Kopf weg.

    Beim zweiten Lied sah sie ihre Schwester auf die Tanzfläche eilen, mit wem wohl? Sie seufzte. Die Glückliche hatte es geschafft, Prinz Casimir zum Tanzen zu bewegen. Arestes hielt Lal dagegen wie im Zangengriff und schien es als sein Recht anzusehen, noch einen zweiten Tanz mit ihr zu bekommen. Lal seufzte und schaute weiterhin um sich. Dieser Tanz war flotter und brachte sie leicht außer Atem. Sie hatte wohl auch zu viel Wein getrunken, denn der Tanzboden flog nur so um sie herum, und die Menge war wie ein Lichterbogen, aber Arestes’ Arm hielt sie gekonnt umfasst.

    Lal hatte die Augen fast geschlossen, als sie ihn wiedersah. Der eigentümliche fremde Prinz bewegte sich auf der Tanzfläche wie ein Tier, ein Raubtier, geschmeidig und schnell. Seine Bewegungen waren fließend, und die Schwärze seiner Kleidung stach ab von den farbenfrohen Gewändern der übrigen Tanzenden in deutlichem Kontrast. Er wirkte wie ein Negativ vor der Szenerie und überragte mit seiner Statur alle übrigen Gäste um sich herum mit Leichtigkeit. Lal öffnete abrupt die Augen weiter, als sie gewahr wurde, dass er sie ebenfalls anstarrte. Sein Blick war wiederum durchdringend, schien sie fast körperlich abzutasten, und aus dem letzten Winkel des Raumes immer auf ihrem zu liegen mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Erst jetzt, wenn sie ihn genau betrachtete, sah sie, wie fein seine Gesichtszüge waren. Seine Wangenknochen waren wie gemeißelt, das Kinn schmal und fast ein wenig zu spitz. Seine Haut war bleich, aber seine Augen, von dicken, schwarzen Wimpern umrandet, funkelten wie Diamanten. Oder wie ein Feuer, dachte sie bei sich selbst. Die Lippen waren voll und so rot, als ob er sie angemalt hätte, und sie verzogen sich zu seinem charakteristischem, leicht ironischen Lächeln, als er bemerkte, dass sie nicht die Augen von ihm lassen konnte. Das dichte schwarze Haar hing schulterlang ungezügelt herab. Er tanzte mit einer ihr unbekannten Partnerin, die hochrote Wangen hatte und ihn anstarrte, im Takt der Musik und schien dabei immer wieder Lals Blick einzufangen. Seine Tanzpartnerin schien dessen ebenso wenig gewahr wie der Rest der Gesellschaft.

    Lal runzelte die Stirn und wandte sich bewusst ab. Was starrte er sie an? Hatte er keine Manieren? Ganz in ihrer Nähe, am Rande der Tanzfläche, sah sie einige Damen verstohlen in dieselbe Richtung schauen wie sie vorher. Sie folgte deren Blick. Eindeutig, sie schauten alle den fremden Prinzen an, tuschelten hinter vorgehaltener Hand, erröteten und kicherten.

    Irgendwann war auch der längste Tanz zu Ende, und Arestes führte sie galant zurück zu ihrem Platz. Cecilé war noch nicht zurückgekehrt. Lal seufzte, sank in ihren Stuhl und trank mit trockener Kehle mehr von dem Wein. Er tat ihr jetzt richtig gut. Kunti hatte sich zurückgelehnt und sprach mit Nante, die sich an der Seite der Empore gegen die Wand lehnte. Ihr Vater war im Gespräch mit König Salassin zur anderen Seite gewandt. Sie betrachtete ihn ohne besonderes Interesse. Der fremde König aus Arcadia war ein Baum von einem Mann, der in seinem Gesicht so viele Furchen und Graben hatte, dass man glaubte, er habe den Gram der Welt gesehen. Er war hochgewachsen, hatte ein breites Kreuz, über dem er einen weiten Ledermantel trug. Sein Gesicht mit der imposantesten Nase, die sie jemals gesehen hatte, wurde umrahmt von einem wahren Kranz an langen, wallenden graumelierten Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen unter buschigen Augenbrauen und funkelten tief. Seine Kinnpartie wirkte betont edel trotz aller Furchen seiner sonnengegerbten Haut, wie auch seine hohen Wangenknochen.

    Lal entspannte sich und ließ den Kopf gegen den Sessel sinken. Der Nachteil der Empore ist eindeutig, dass sie jeder beobachten konnte, dachte sie schläfrig. Der Saal war voller tanzender Menschen und lauter, mitreißender Klänge. Lal drehte sich um, um ihren Becher auf den Tisch zu stellen, und als sie wieder aufblickte, stand er wie aus dem Nichts vor ihr. Mit gebeugtem Knie stand er seitwärts zu ihr gewandt auf der obersten Stufe und schaute sie an. Er grinste sie an und hielt ihr seine ausgestreckte linke Hand entgegen.

    „Würdet Ihr mir den nächsten Tanz schenken, Mylady?" Seine tiefe, vibrierende Stimme war wie ein Grollen, ein Bass, der bis in ihr Innerstes drang, und dort eine Resonanz erzeugte, und das plötzliche Summen der Bienen übertönte wieder alle anderen Geräusche wie beim ersten Mal, als er vor ihr stand. Lal verschluckte sich fast an dem letzten Tropfen Rotwein in ihrem Mund. Niemand um sie herum schien ihn zu bemerkten. Sie schluckte hart und schaute hastig zu ihrem Vater hinüber. Oh, etwas tief in ihr wollte spontan und unbedingt mit dem fremden Prinzen tanzen, aber ob sie durfte? Alles andere wäre wohl unhöflich, dachte sie schwach. Der König unterhielt sich weiter angeregt mit seinem Gast und schien nichts anderes mitzubekommen. Scheu blickte sie die dunkle Erscheinung vor sich an und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er schaute ihr wieder mit diesem intensiven Blick in die Augen, dass sie fast vergaß, was er von ihr wollte. Zögernd stand sie auf, sorgsam darauf achtend, nicht über ihre eigenen Füße zu fallen, und reichte ihm ihre rechte Hand. Seine Hand war warm und angenehm und musste sie ein wenig stützen, als sie die Treppe hinunter schritt.

    „Mein Name ist Dyonisos. Mein Vater ist König Siris von Thanatos." Er lächelte sie freundlich an, während er sie galant die Treppe hinunter geleitete, und wieder schien der Raum um sie herum zu schwanken. Seine Hand führte sie sicher auf die Tanzfläche. Was nun geschah kam ihr wie ein Traum vor. Er führte sie im Tanz, oh ja, aber er ließ ihr keinen Spielraum, er führte sie zielgenau und bestimmt. Und doch war er der sanfteste Tänzer, mit dem sie jemals getanzt hatte. Seine Bewegungen waren fließend, geschmeidig, spielerisch wie die eines jungen Panthers. Gleichzeitig war er dominant und führte sie, ohne Widerstand zu dulden. Sobald sie ihre schwitzenden Hände auf seine Schulter gelegt hatte, spürte sie, wie unerwartet muskulös er unter seinem dünnen schwarzen Hemd war. Richtig, den Mantel hatte er inzwischen abgelegt. Sie bemerkte Details wie eine altmodische silberne Brosche mit einem schwarzen Stein, die sein Hemd vorne zusammenhielt. Wie Arestes, dachte sie, aber wo dieser sie nicht angeschaut und sie keusch auf Abstand gehalten hatte wie ein Jüngling, zog Dyonisos sie ganz nah an sich heran, sodass seine Muskeln an ihren Körper drückten. Seine rechte Hand lag in der Kuhle auf ihrem unteren Rücken, und dort brannte sie wie Feuer auf ihrer Haut, als ob kein Stoff dazwischen wäre. Er presste sie fest an sich, und sein Geruch war betörend stark und männlich und duftete noch nach etwas anderem wie … Rosen?

    Es war Lal, als ob der Boden mehrmals unter ihr nachgab, und ihre Knie weich wurden wie Butter während sie tanzte. Sie war sich sicher, dass sie mehr als einmal nachgaben und er sie in seinen Armen auffing, festhielt und im Takt der Musik einfach weiterbewegte. Das Muskelspiel unter ihren Händen war gleichmäßig rhythmisch. Sein Gesicht war über ihr, und wie flüchtig berührte seine Wange ihr Haar. Das Bienensummen in ihren Ohren war betäubend. Sie konnte nicht anders, ihre Stirn sank gegen seine Schulter, und ein leises tiefes Stöhnen glitt über ihre Lippen, als sie die Augen schloss, sich willig an ihn drücken ließ, seinen Bewegungen wie im Traum folgte. Und auf einmal war sie mit den Gedanken weit, weit weg. Sie hatte das Gefühl, als sähe sie sich selbst von weit oben unter der Decke, und sie schaute auf sich und die unwirkliche Szenerie hinab.

    Nach einer Ewigkeit, so schien es ihr, drehte sie den Kopf und sah seinen weißen Hals im Kontrast gegen sein schwarzes Hemd, der Kragen war mit ganz feinen Silberfäden geschmückt, so wie sein Mantel. Sein Geruch wirkte für ihre Nase wie die Musik für ihre Ohren: einladend, betörend, schwermütig … so wie seine Präsenz. Wie sollte sie es anders nennen? Auch wenn sie die Augen schloss, schien er ihr wie der Mittelpunkt des Saales, ein Zentrum unsichtbarer Schwingung, aus dem sich alles andere nährte, als ob alles von ihm ausging, machtvoll und präsent … sie wusste nicht, was es war. War es nur ein Lied, zu dem sie tanzten, oder waren es zwei, oder zehn? Sie wusste es nicht. Die Zeit schien vollkommen still zu stehen, oder besser, gar nicht existent.

    Irgendwann schob der Prinz sie sanft von sich und schaute ihr wieder eindringlich in die Augen. „Das ist ein wunderschönes Kleid." Seine Stimme klang ganz nah, leise und warm. Als ob er nicht wirklich mit seiner Stimme zu ihr sprach, sondern mit seinen Gedanken.

    „Wer seid Ihr?", gelang es Lal, wenn auch mit rauer Stimme, zu fragen.

    Er schaute sie neckisch von oben herab an. „Das habe ich Euch doch gesagt."

    „Ich kenne Euren Namen, aber ich weiß nicht, wer Ihr seid, erwiderte Lal, verlegen. Wo waren ihre Manieren? Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich weder an den Namen noch an seine Herkunft erinnern. „Ihr seid nicht von hier aus der Gegend, oder?

    „Was sagt Euch das?", erwiderte er, während er sie weiterhin im Takt der Musik unablässig durch den Saal führte.

    Lal hatte das Gefühl, dass ihre Füße zwei Zentimeter über dem Boden schwebten, und dass sie schon lange aufgehört hatte, selbst zu tanzen.

    „Meine Tante hat mich vor Euch gewarnt. Auch mein Vater. Warum?"

    Wieder schaute er sie an. Diesmal schien sein Blick ihr eher herausfordernd zu wirken. „Warum fragt Ihr sie nicht selbst, Mylady?"

    „Weil Ihr bestimmt selbst am besten wisst, warum", zischte sie eine Spur heftiger als gewollt. Er drehte sie abrupt im Tanzen weg von sich und folgte ihr wie in einem Spiel sofort nach. Sie stolperte fast, aber wieder umfing er sie sicher mit brennenden Händen.

    „Wenn es Euch wirklich interessiert, wer ich bin, trefft mich nach zehn Minuten am Baum auf der Terrasse vor dem Schlosshof. Geht erst, wenn ich schon einige Zeit draußen bin." Seine Augen blickten schwarz wie die Nacht tief in ihre.

    Die Musik verstummte in diesem Moment mit einem kräftigen Crescendo, die zum Aufruhr ihrer Gefühle passte. Der Prinz hielt ihre Hand fest und führte sie lächelnd sicher zu ihrem Sitz zurück. Diesmal schauten alle Augen um sie herum auf sie, als sie sich umdrehte und sich körperlich und geistig vollkommen verausgabt auf ihren Sitz fallen ließ. Erst jetzt bemerkte sie die tiefe Stille, die nach dem Ausklang der Musik den Saal und auch ihr Inneres erfüllte, als das Bienensummen verstummte.

    Der Prinz war schon in der Menge verschwunden, als Lal ihre Tante neben sich stehen sah. Ihr Vater war auch aufgestanden und schickte sich an, Lal mit einem Donnergrollen in der Stimme zurechtweisen zu wollen, aber Kunti gab ihm ein Zeichen zu schweigen. „Lass mich, Liam, ich kann so etwas besser." Kunti beruhigte den König und gab den Musikern mit einer Handbewegung zu verstehen, weiter zu musizieren. Erst als alle Anwesenden im Saal sich wieder miteinander unterhielten, drehte sie sich zu ihrer Nichte um.

    „Anandalal, dieser Mann ist der Tod.

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