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Wüstenwind über den judäischen Bergen: Der Sturm der arabischen Heere im siebten Jahrhundert über die Länder des Nahen Ostens
Wüstenwind über den judäischen Bergen: Der Sturm der arabischen Heere im siebten Jahrhundert über die Länder des Nahen Ostens
Wüstenwind über den judäischen Bergen: Der Sturm der arabischen Heere im siebten Jahrhundert über die Länder des Nahen Ostens
eBook369 Seiten5 Stunden

Wüstenwind über den judäischen Bergen: Der Sturm der arabischen Heere im siebten Jahrhundert über die Länder des Nahen Ostens

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Über dieses E-Book

Der ehemalige kaiserliche Soldat Alkaios und sein jüdischer Ziehsohn Simson, den er zerlumpt und halb verhungert im judäischen Gebirge gefunden hatte, erleben die Invasion der arbischen Heere in Palästina bald nach dem Tod Muhammads.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783749767236
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    Buchvorschau

    Wüstenwind über den judäischen Bergen - John Alexander Gordis

    ERSTES KAPITEL

    FLUCHT DURCH DIE BERGE

    In einer hellen Mondnacht wanderte Alkaios über das judäische Gebirge. Von seinem kleinen Hof in der Küstenebene, den er nach seinem Abschied aus der Armee des Kaisers nach fünfundzwanzig Jahren Militärdienst erhalten hatte, war er beim Vorrücken der arabischen Truppen geflohen.

    Nachdem er mit siebzehn Jahren seine Heimat Thrakien verlassen hatte, war er nie wieder dorthin zurückgekehrt, hatte seine Eltern und Geschwister nie wieder gesehen und hatte nie wieder etwas von ihnen gehört. Fast die ganze Zeit seines Militärdienstes hindurch hatte er die Kriege der Byzantiner gegen die Perser mit ihren Niederlagen, Patt-Situationen und Siegen mitgemacht. Wie die meisten seiner Kameraden hatte er keine Familie in all diesen Jahren gründen können. Erst ein Jahr lang hatte er nun seinen Hof bewirtschaftet, bevor er sich entschloss, in die Berge zu fliehen.

    An das Marschieren war er natürlich gewöhnt, auch durch Berge und Wüsten. Trotzdem hatte er Angst, hier mitten in der Nacht auf den schmalen, holprigen, ihm unbekannten Pfaden zu stolpern und in einen Abgrund zu stürzen. Doch er wollte so lange weitergehen, bis er vielleicht auf ein Dorf stieß, zu dem die arabischen Krieger nicht so leicht vorstoßen würden. Hier im Gebirge waren ja ihre Pferde völlig nutzlos, auch ihre Kamele würden auf diesen steilen Wegen kaum vorankommen. Bestenfalls Esel und Maultiere waren dazu in der Lage.

    Dankbar sah Alkaios zum Vollmond auf, dessen Licht ihm doch einigermaßen ausreichte, den Weg vor seinen Augen zu erkennen. Seit seiner Kindheit hatte ihn der Mond immer ganz besonders fasziniert, vor allem sein fahles, geheimnisvoll-silbriges Leuchten, auch seine ständig wechselnde Gestalt. Er liebte es, in klaren Nächten den Mond zu betrachten, er hatte für ihn geradezu eine mystische Ausstrahlung. Vielleicht hatte es auch damit zu tun - wie er glaubte - dass seine Vorfahren die Mondgöttin Bendis ganz besonders verehrt hatten. Er empfand den Mond als ein Wesen, das ihn beschützte; das kühle, blasse Licht des Mondes strahlte Ruhe und Frieden aus, es vermochte ein aufgewühltes Gemüt zu besänftigen und zu beruhigen. Eine stille Freude zog in Alkaios` Herz ein, wenn sein himmlischer Freund auf ihn herabsah. Aber wie mochte es dem Mond selber gehen? War er einsam? Eigentlich glaubte er das nicht. Der Mond zog zwar einsam seine Bahn, aber doch ganz unerschütterlich, abgeklärt und im stolzen Gefühl seiner Schönheit.

    Alkaios war ziemlich hoch gewachsen, wie viele Männer seines Volkes. Er hatte von Natur aus einen kräftigen Körperbau, aber auf Grund seiner langen Zeit in der byzantinischen Armee, nach zahlreichen Schlachten und immer neuen Gewaltmärschen war er immer muskulöser und kräftiger geworden. Sein Haupthaar und sein Bart, den er ab und zu stutzte, waren ursprünglich blond gewesen, doch im Lauf seines Lebens nachgedunkelt. Hier und da zeigten sich auch die ersten grauen Haare. Sein Gesicht trug die Spuren aller Strapazen und Entbehrungen in Wüsten und Gebirgen, tief eingeschnittene Falten ließen es härter und gröber erscheinen, als es einmal gewesen war. Seine schmalen Augen waren wasserblau, unter der vorspringenden Nase betonten die schmalen Lippen den meist verschlossen wirkenden Ausdruck seines Gesichts.

    Durch die Schluchten des Gebirges strich ein kühler Wind herauf, der Alkaios frösteln ließ, obwohl er einen dicken, wollenen Umhang übergeworfen hatte. An Gepäck trug er, abgesehen von seinen Waffen, nur ein kleines Bündel über der Schulter, in dem sich vor allem Proviant befand. Immerhin hatte er auch etwas Geld bei sich, da er einen beträchtlichen Teil seiner Abfindung gespart hatte. Wasser konnte man im Gebirge an vielen Stellen finden, denn es fiel hier meist genügend Regen, der Quellen und Bäche hervorsprudeln ließ. Plötzlich ein lautes Poltern! Er musste mit dem Fuß an einen lockeren Stein gestoßen sein, der nun andere mit sich riss, so dass sie mit Getöse ins Tal hinab krachten. Hierdurch wurden einige große Tiere aufgeschreckt, die in wilder Flucht davonstoben, wahrscheinlich Steinböcke. Niemand, der den Lärm hörte, würde sich darüber wundern. Steinschlag war in den Bergen ja etwas ganz Alltägliches. Jetzt herrschte wieder eine fast unheimliche Stille, kein Mensch und auch kein Tier gab einen Laut von sich. Das Gebirge gehörte jetzt den Berggeistern und Dämonen, die hier in der Nacht ganz bestimmt ihr Unwesen trieben.

    Die sich im Mondlicht klar und deutlich abzeichnenden Berggipfel mit ihren scharfen Spitzen, den Rundungen und den manchmal steil aufragenden Türmen erschienen Alkaios wie ein mächtiger, unheimlicher Festungswall, den Riesen und Titanen der Vorzeit hier errichtet haben mochten. Manchmal gelangte Alkaios auch in eine bewaldete Gegend, in der ab und zu der Ruf einer Eule zu hören war. Das war immer noch besser als die bedrückende Stille in den felsigen, höheren Regionen. An manchen Stellen aber standen die Bäume so dicht, dass das Mondlicht nicht bis zum Erdboden gelangte und Alkaios die größte Mühe hatte, den Weg zu finden.

    Alkaios` Gedanken wurden immer düsterer, je länger er in der Dunkelheit über diese einsamen Bergpfade stolperte. War seine überstürzte Flucht nicht doch voreilig gewesen? Andererseits kannte er das Vorgehen und Verhalten der meisten Soldaten durch seine lange Dienstzeit nur zu gut. Auf ihren Kriegszügen fackelten viele nicht lange, wenn es um das Plündern von Dörfern und Städten ging; dabei kam es immer wieder vor, dass etliche Bewohner umgebracht und Frauen vergewaltigt wurden; andere, die man am Leben ließ, wurden gefangen genommen und als Sklaven verkauft. Ob Byzantiner oder Perser, da waren alle gleich brutal vorgegangen, das Soldatenleben verrohte die Menschen und ließ sie gegen das Leid ihrer Mitmenschen abstumpfen. Irgendwann hatte er einmal von dem römischen Soldaten Martin von Tours aus Nordgallien gehört, der sich selbst nach langer Dienstzeit ein gütiges Herz bewahrt und sogar seinen Mantel mit einem Bettler geteilt hatte, der in der Winterskälte am Stadttor kauerte. Danach musste er sogar noch Hohn und Spott seiner Kameraden und der Stadtbewohner ertragen, als er, nur mit einem halben Mantel bekleidet, weiterritt. Die Geschichte hatte Alkaios tief beeindruckt.

    Er hatte sich nun einmal zur Flucht entschlossen, und er musste jetzt mit der Situation fertig werden. Doch das war nicht so einfach. Vor allem machte ihm seine Einsamkeit schwer zu schaffen. Beim Militär hatte er immer Kameraden um sich gehabt. Sie hatten ja nicht nur kämpfen müssen. Sie hatten auch viel zusammen gezecht, gesungen und gelacht. Beliebt war auch das Würfelspiel, bei dem manche fast ihren halben Sold verspielten. Hin und wieder hatte er auch eine Frau gefunden, die für ein paar Nummi bereit war, mit ihm zu schlafen. Wirklich einsam war er eigentlich nie gewesen. Und in dem Jahr, das er auf seinem neuen Hof verbrachte, hatte er so schwer arbeiten müssen, dass er gar nicht zum Nachdenken gekommen war. Abends war er nach Einbruch der Dunkelheit schon bald todmüde eingeschlafen. Natürlich hatte er auch gehofft, dort in den Dörfern der Umgebung bald eine Frau zu finden, die er heiraten und mit der er eine Familie gründen konnte.

    Aber es war eben anders gekommen. Für die Zukunft sah er rabenschwarz. Seinen Hof würde er wohl nie wiedersehen, auf dem würden sich bestimmt bald andere Leute festsetzen; landlose, vertriebene, entwurzelte Menschen gab es in Palästina schließlich mehr als genug. Er betete ein Vaterunser, aber danach ging es ihm auch nicht besser. Das Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit überwältigte seine Seele, es war ihm, als würde er in einen tiefen Abgrund geworfen. Hatte ihn vielleicht auch Gott verlassen?

    Er musste an seine Heimat Thrakien zurückdenken. Ihm fiel wieder ein, wie er als Kind mit seinen Kameraden um die Wette gerannt und auf den grünen Wiesen herumgetobt war. Er hatte immer das Pferd ihres wohlhabenden Nachbarn bewundert. Oft durfte er es füttern und striegeln, gelegentlich sogar auf ihm reiten. In seiner eigenen Familie gab es zwei große, zottige Hunde, die den Hirten halfen, die Ziege und Schafe zu hüten und vor hungrigen Wölfen und Bären zu schützen. Auch er musste manchmal mit Hirtenstab und Proviant losziehen, um den Tag über die Herde zu hüten.

    Er musste jetzt oft an seine Familie in Thrakien denken. Wahrscheinlich waren seine Eltern inzwischen gestorben. Aber seine beiden Brüder und seine Schwester mochten noch dort leben. Schon manches Mal hatte sich Alkaios gefragt, ob es nicht ein Fehler gewesen war, in die kaiserliche Armee einzutreten. In seiner jetzigen Verfassung bereute er seinen damaligen Entschluss zutiefst. Ein seit langer Zeit vergessenes Gefühl des Heimwehs überwältigte ihn. Wehmütig dachte er an seine glückliche Kinderzeit zurück. Wie mochte es seinen Geschwistern inzwischen ergangen sein? Und in der Sterbestunde seines Vaters und seiner Mutter war er nicht da gewesen, um ihre Hand zu halten und sie zu küssen. Aber die Zeit konnte man nun einmal nicht zurückdrehen.

    Doch als altgedienter Berufssoldat besann er sich, wie er und seine Kameraden oft verzweifelte Situationen erlebt hatten. Manchmal waren sie von einer Übermacht der Feinde schon fast umzingelt gewesen, oder sie waren in einen heimtückischen Hinterhalt geraten. Es war auch vorgekommen, dass sie während eines Kampfes so hart bedrängt wurden, dass sie sich vorübergehend in eine Wüste zurückziehen mussten. Aber auf Grund ihrer Umsicht, ihrer Erfahrung und ihrer Zähigkeit hatten sie es immer wieder geschafft, sich aus diesen Notlagen zu befreien. So fasste sich Alkaios auch diesmal ein Herz und schritt tapfer weiter auf dem Pfad, der sich jetzt bergab in eine Schlucht hinunterwand. Allmählich begann die Morgendämmerung, das Dunkel der Nacht zu vertreiben, das Licht des Vollmonds strahlte nicht mehr so hell. Auf einmal kam aus der Höhe direkt oberhalb seines Pfades ein entsetzliches Krachen wie ein schweres Gewitter auf ihn herabgestürzt, Alkaios warf sich unwillkürlich zu Boden und hielt die Hände fest über seinem Kopf. Im nächsten Moment donnerte eine gewaltige Steinlawine direkt neben ihm zu Tal, er hörte noch das Rumpeln der Felsbrocken von ihrer Bahn durch Bäume und Geröll und das Geräusch von berstenden Stämmen und Ästen, dann war alles ruhig. Hastig bekreuzte er sich mehrmals. Diese Berge wollten ihn wohl loswerden, aber er hatte noch einmal Glück gehabt!

    Alkaios war schrecklich müde, das letzte Stück bis ins Tal wankte er nur noch mühsam voran. Da er sich ja vorgenommen hatte, nachts zu marschieren und tagsüber zu schlafen, musste jetzt ein Schlafplatz gefunden werden. Als er in einem Wäldchen zwischen Sträuchern und Farnkräutern herumstöberte, entdeckte er plötzlich ein eigenartiges, schwarzes Loch. Es stellte sich heraus, dass es der Eingang zu einer Höhle war, die ziemlich tief in den Berg hineinzuführen schien. Ob dies eine der Höhlen war, in denen sich vor langer Zeit die jüdischen Aufständischen im Bar Kochba-Krieg vor ihren römischen Verfolgern versteckt hatten? Mit seiner Kohorte war Alkaios manchmal bei der Überquerung des judäischen Gebirges durch diese Schluchten marschiert, die die Berge durchschnitten. Dabei hatte ihm ein Bauer einmal von diesen Höhlen erzählt und ihm eine gezeigt. Aber die Hauptsache war, dass er jetzt einen schönen Unterschlupf zum Schlafen gefunden hatte. Den Geruch von Bären oder Wölfen konnte er nicht wahrnehmen, so dass von daher jedenfalls keine Gefahr drohte. Besonders kalt war es hier auch nicht, und so streckte er sich nach einem kurzen Imbiss aus. Doch obwohl er todmüde war, konnte er nicht gleich einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf.

    Er musste an die letzten Jahre seines Dienstes in der kaiserlichen Armee zurückdenken. Es gab ein Erlebnis, das ihn noch heute immer wieder beschäftigte. Die Byzantiner hatten gerade im Jahr 627 in der Nähe der Ruinen von Ninive ein persisches Heer geschlagen, wobei die meisten Perser, aber auch viele seiner Kameraden gefallen waren. Es sollte die letzte Schlacht dieses erbitterten Krieges gewesen sein, in der sogar der persische General Rhazates den Tod gefunden hatte. Es hatte dann nicht sehr lange gedauert, bis der persische Großkönig Chosrau von seinen eigenen Leuten ermordet wurde. Sein Nachfolger hatte schließlich den byzantinischen Kaiser Herakleios um Frieden gebeten.

    Kurz vor der Schlacht bei Ninive war Alkaios` Abteilung in ein Dorf gekommen, in dem es anscheinend noch genügend Nahrungsmittel gab, so dass der Anführer der Truppe den Befehl gab, das Dorf zu plündern. Die in den endlosen Kriegen abgestumpften und verrohten Soldaten machten mit den Einwohnern kurzen Prozess. Viele töteten sie, den übrigen gelang die Flucht. Es war die übliche Vorgehensweise, aber Alkaios hatte sich nie daran gewöhnen können.

    Am nächsten Tag ritt er von ihrem Feldlager allein noch einmal zu dem Dorf. Es herrschte eine geisterhafte Ruhe, bis auf das Knurren von Schakalen und das Kreischen von Geiern, die sich um die Überreste der Toten balgten. Plötzlich hörte Alkaios aus einem Haus ein ganz leises, klägliches Wimmern. Er sah nach und fand ein kleines, vielleicht fünfjähriges Mädchen, das neben den Leichen seiner Eltern auf dem Boden hockte. Mit großen, angsterfüllten Augen sah die Kleine zu ihm auf und hob abwehrend ihre Ärmchen. Es war ein trostloser Anblick. Alkaios konnte ein wenig Persisch, es gelang ihm, dem Mädchen zu bedeuten, dass es sich vor ihm nicht fürchten müsse. Er flößte ihm etwas Wasser aus seiner Feldflasche ein, und ohne lange zu überlegen, setzte er das Kind vor sich auf sein Pferd und ritt mit ihm bis zur nächsten Kleinstadt, die unzerstört geblieben war.

    Nach einer Weile gelang es ihm, den Bürgermeister zu finden. Der schlotterte vor Angst, als plötzlich ein byzantinischer Unteroffizier vor ihm stand. Aber Alkaios beruhigte ihn. „Das persische Heer ist besiegt, sagte er auf Aramäisch, und es stellte sich heraus, dass der Bürgermeister diese Sprache recht gut sprach. „Wir werden mit unseren Truppen erst einmal vorrücken bis zur Residenz des Großkönigs in Dastagird. Mir scheint, das Ende des Krieges ist gekommen. Deine Stadt wird sicher nicht geplündert werden. Ich habe eine große Bitte. Kennst du irgendjemanden, der dieses Waisenkind aufnehmen und großziehen könnte? Leider ist wohl ihre ganze Familie bei unserem Angriff auf ihr Heimatdorf getötet worden. Noch ein paar Tage, und sie wäre verhungert und verdurstet.

    „Du hast Glück, Grieche, antwortete der Bürgermeister. „Ich kenne ein Ehepaar, deren Kinder bei einem schweren Seuchenausbruch vor einiger Zeit gestorben sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dieses Mädchen gern nehmen werden. Komm, wir gehen gleich zu ihnen! Als das besagte Ehepaar Alkaios` Bitte gehört hatte und das Mädchen ansah, das schreckliche Angst hatte und laut weinte, da strahlten alle beide, Mann und Frau. Die Frau begann vor Rührung auch gleich zu weinen. Sie beugte sich zu dem Kind hinab, küsste es und nahm es auf ihre Arme. Sie redete beruhigend auf die Kleine ein, die allmählich aufhörte zu weinen, und rief freudestrahlend: „Dies ist ein Geschenk des Himmels! Wir danken dir, Grieche, dass du uns das Mädchen gebracht hast. Wir werden es aufziehen, als wäre es unser eigenes Kind!"

    Alkaios war sehr zufrieden gewesen, er gab den beiden zwei Golddenare, dankte ihnen und verabschiedete sich. Zurück im Feldlager erwartete ihn dann ein Donnerwetter seines vorgesetzten Offiziers wegen unerlaubten Fernbleibens von der Truppe. Zur Strafe erhielt er im nächsten Monat keinen Sold, aber das war es wert gewesen. Im Nachhinein fand Alkaios, dass dies die einzige gute Tat seines bisherigen Lebens gewesen war.

    Wenn er gedacht hatte, nun würde er wie ein Stein einschlafen, so hatte er sich gründlich getäuscht. Jetzt fiel ihm wieder eine Sache ein, bei der er sich vor etlichen Jahren allerdings weniger mit Ruhm bekleckert hatte. Im Gegenteil, er hatte sich äußerst schäbig verhalten. Zwischen zwei Feldzügen war seine Einheit eine Zeit lang in Caesarea stationiert gewesen, dort hatte er eine junge Frau kennengelernt, die in der Weinhandlung ihrer Eltern arbeitete. Er fand sie derartig attraktiv, dass er dort mehrmals Wein einkaufte. Er kam mit ihr ins Gespräch, und es dauerte nicht lange, bis er sich in sie verliebt hatte. Auch sie schien auf seine Avancen gern einzugehen. Schließlich drängte er sie, mit ihm zu schlafen. Zuerst war sie strikt dagegen, aber endlich gab sie doch nach unter der Bedingung, dass sie beide demnächst heirateten, worauf Alkaios auch einging. Doch während des nächsten Feldzugs dachte er immer seltener an sie, ließ ihr auch keine Nachricht zukommen. Als er schließlich nach Caesarea zurückkam, erklärten ihm Katharinas Eltern, dass ihre Tochter inzwischen einen Winzer aus Galiläa geheiratet habe, mit dem sie nun an den Ufern des Sees Genezareth lebte. Im Übrigen gaben sie ihm in eisigem Ton zu verstehen, dass er sich nie wieder in ihrem Laden blicken lassen solle. Ziemlich verdattert hatte er die Weinhandlung verlassen, aber er konnte Katharinas Eltern verstehen. Widerwärtig und beschämend hatte er sich der jungen Frau gegenüber verhalten. Obwohl ihn die Erinnerung an Katharina sehr aufgewühlt hatte, war er offenbar mitten in diesen Gedanken plötzlich eingeschlafen, aber im Traum sah er sie, wie sie mit einer Freundin am Hafen von Tiberias stand, über ihn redete, über ihn spottete und ihn verfluchte.

    Als Alkaios wieder erwachte, fühlte er sich erst einmal gekräftigt und belebt, aber es dauerte nicht lange, bis die düsteren Gedanken wieder in seiner Seele kreisten wie ein langsam, aber sich stetig drehender, knirschender Mühlstein. Nachdem er ohne großen Appetit etwas Brot und Dörrfleisch gegessen hatte, trat er ins Freie hinaus. Nach dem Sonnenstand musste es etwa Mittag sein. Er wollte sich ja eigentlich tagsüber immer versteckt halten, aber seine Sehnsucht nach der Gesellschaft anderer Menschen – ganz gleich, ob er sie kannte oder nicht – war so groß, dass er beschloss, gleich weiterzuwandern, bis er auf ein Dorf stieße. Am Grund der Schlucht rieselte und plätscherte ein Gebirgsbach munter und fröhlich in Richtung des Meeres. Alkaios kniete erst einmal nieder, um ausgiebig von dem herrlichen, klaren Wasser zu trinken. Dann betrachtete er die Gegend rings umher. Der Bach schlängelte sich durch ein liebliches, grünes Tal, an seinen Ufern blühten zahlreiche bunte Blumen, vor allem Primeln und Glockenblumen, Vergissmeinnicht , die zarten Anemonen, blaue Lupinen und die leuchtenden Narzissen, die eifrig von den ersten Bienen und Schmetterlingen besucht wurden. Die Luft war mild, Alkaios saugte diese wohltuende Bergluft tief ein in seine Lungen. Die Frühlingssonne beschien diese Landschaft, die sich jetzt so friedlich vor Alkaios ausbreitete, aber in früheren Zeiten schon so viel Leid und vergossenes Blut gesehen hatte. Die letzten Perserkriege waren ja noch gar nicht lange her, und nun standen diesem so oft geschändeten Land wieder neue Kämpfe bevor, die die Menschen von ihrem Land vertreiben und vielen von ihnen den Tod bringen würden. Würde das denn nie aufhören? Alkaios seufzte, die Welt würde sich wohl nie ändern.

    Die bewaldeten Hänge zogen sich sanft bergan, bis weiter oben das graue, geheimnisvolle Reich der Felsen begann, durch das die Steinböcke und auch die kleinen Klippdachse streiften, über dem Adler und Geier kreisten und die Berggeister herrschten. Am Bach führte ein Weg entlang, der nicht so holprig und schmal war wie die Bergpfade, über die sich Alkaios bisher Nacht für Nacht gequält hatte; hier könnte man auch gut mit Eseln und Maultieren vorankommen. Vorsichtig schlug er den Weg in östlicher Richtung ein, weg von der Küstenebene, in der jetzt sicher die arabischen Heere vorrückten. Ganz wehrlos war Alkaios nicht für den Fall, dass ihn Räuber überfallen sollten. Er hatte seinen Speer dabei, der ihm in dem schwierigen Gelände als Wanderstock diente, seinen Jagdbogen, um unterwegs mal ein Wild schießen zu können, außerdem hatte er noch ein langes Messer im Gürtel stecken.

    Auf seinem Weg war er bisher auf keinen einzigen Menschen getroffen. Ob dieses Tal nicht bewohnt war? Das war sehr unwahrscheinlich, Alkaios wusste, dass all diese fruchtbaren Täler besiedelt waren, vor allem von der alteingesessenen Bevölkerung des früheren Südreichs Juda. Während der langen Perserkriege waren zwar viele Menschen getötet oder aus ihren Dörfern vertrieben worden, aber dann müsste er hier wenigstens auf die Ruinen einer Siedlung stoßen. Doch weit und breit keine Menschenseele.

    Bisher hatte Alkaios sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wie die Bewohner reagieren würden, falls er doch noch ein Dorf fände. Er wusste, dass in diesen kleinen Siedlungen im Gebirge ausschließlich Juden lebten, die Griechen wohnten im Allgemeinen in den Städten. Zum Glück hatte er im Lauf der vielen Jahre seines Dienstes in Palästina und den benachbarten Ländern leidlich Aramäisch sprechen gelernt, die Sprache der jüdischen Landbevölkerung, im Übrigen auch die Sprache des Jesus von Nazareth, an den auch er als orthodoxer Christ glaubte. Außerdem sprach er natürlich Thrakisch und Griechisch, vom Lateinischen kannte er nur die in der Armee verwendeten Kommandos. Aber wie würden die Dorfbewohner auf ihn als griechischen Christen reagieren? Immerhin waren die Juden jahrhundertelang von den byzantinischen Kaisern, ihren Beamten und ihrer Armee brutal unterdrückt, gedemütigt und ihrer Bürgerrechte größtenteils beraubt worden. Die meisten hassten die Byzantiner, ihre Unterdrücker; vermutlich würden jetzt sogar viele die Araber als Befreier begrüßen. Würden die Dörfler sich hasserfüllt auf ihn stürzen, um ihn zu töten? Nun, er würde sicher versuchen, sein Leben möglichst teuer zu verkaufen, aber wenn Gott es so bestimmt hatte, dass er hier sterben sollte, dann sollte es eben so sein. Eigentlich war sein Leben ja sowieso keinen Pfifferling wert, so wie er jetzt einsam, heimatlos und mittellos durch ein wildes Gebirge zog, das ihm auch zu verstehen gab, dass er hier nichts zu suchen hatte, dass er unerwünscht war.

    Plötzlich spürte Alkaios einen heftigen Schlag auf den Rücken und gleichzeitig einen brennenden Schmerz in seiner Kehle. Jemand musste sich lautlos wie ein Luchs von hinten an ihn herangeschlichen und ihn angesprungen haben. Der Angreifer hatte beide Hände um seinen Hals gelegt und würgte ihn mit voller Kraft! Reflexartig spannte Alkaios seine Halsmuskeln so stark an, wie er konnte, um nicht vom Würgegriff erdrosselt zu werden. Er geriet nicht in Panik, als alter Kämpe hatte er schon zu viele todbringende Situationen erlebt. Der Angreifer hatte offenbar die Beine angezogen und versuchte so, Alkaios` Leib zu umspannen, er hing an dessen Rücken wie eine Spinne, die ihr Opfer umklammert. Alkaios atmete schwer, allmählich wurde ihm schwindelig, der Angreifer schien Bärenkräfte zu haben. Da warf sich Alkaios zu Boden, es gelang ihm, sich hin und her zu wälzen, so dass der Angreifer unter ihm zu liegen kam. Jetzt lockerte sich dessen Klammergriff. Das nutzte Alkaios aus, um ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte endgültig abzuschütteln.

    Er erhob sich etwas schwerfällig und blickte auf den immer noch am Boden liegenden Angreifer, der jetzt wie erstarrt liegen blieb. Es war ein halbwüchsiger junger Mann, wohl kaum dem Knabenalter entwachsen! Alkaios kniete über dem Jungen nieder und hielt seine Arme fest, doch dieser machte keinerlei Anstalten mehr, weiter zu kämpfen. Er sah Alkaios nur mit wildem Blick an, sein Gesicht war verzerrt und leichenblass. Außerdem schwitzte er stark.

    „Weshalb hast du mich angegriffen?", fragte ihn Alkaios auf Aramäisch. Der Junge gab erst keine Antwort, er blickte weiter starr vor sich hin und murmelte etwas Unverständliches. Plötzlich stieß er einen so durchdringenden, gequälten Schrei aus, dass Alkaios zusammenfuhr und ihm ein eisiger Schauer über den Rücken rann. Doch dann sah er, wie auf einmal ein heftiges Zucken und Krampfen durch den Körper des Jungen lief. Als der Krampf endlich nachließ, brach er ganz unvermittelt in ein hysterisches, unheimlich anmutendes Lachen aus.

    Alkaios ließ den Jungen jetzt los und setzte sich neben ihn ins Gras, behielt ihn aber scharf im Auge. Langsam richtete sich dieser auf und sah Alkaios verwundert an. „Wer bist du?", fragte er mit einer hellen, angenehm klingenden Stimme auf Aramäisch.

    Jetzt begriff Alkaios gar nichts mehr, Doch es dämmerte ihm, dass dieser Junge, der ihn wie ein wildes Tier angegriffen hatte, sich an seine Tat schon gar nicht mehr erinnerte, oder vielleicht nur noch ganz schwach. Er schien jedenfalls nicht gesund zu sein. Alkaios bemühte sich, einen freundlichen Ton in seine Stimme zu legen und fragte: „Wie heißt du denn, junger Mann? Mein Name ist Alkaios. Ich stamme aus Thrakien, das ist ganz weit von hier im Norden, und ich wollte gerade das nächste Dorf in dieser Gegend suchen."

    Der Junge schien jetzt etwas Zutrauen zu fassen und begann stockend zu reden: „Ich heiße Simson und bin in einem Dorf in diesen Bergen geboren. Simsons Stimme klang traurig, auf seinem Gesicht schien ein dunkler Schatten zu liegen, er sah Alkaios nicht an, sondern blickte ins Leere. Plötzlich fing er an zu schluchzen, Tränen rollten über seine Wangen. „Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr, ich habe auch kein Zuhause mehr. Ich bin ganz allein.

    Alkaios fühlte sich auf seltsame Weise angerührt von dem Jungen, der ihm gerade eben noch nach dem Leben getrachtet hatte. Er ergriff Simsons Hand, drückte sie fest und lächelte ihm freundlich zu. „Wie lebst du denn, Simson?, fragte er behutsam, „wie ernährst du dich, und wo schläfst du?

    Simson schwieg eine Weile, dann sah er Alkaios an und sagte bekümmert: „ Ich schlafe in den Höhlen hier im Gebirge, es gibt ja viele davon. Da kann man es auch im kalten Winter aushalten. Und zu essen finde ich immer etwas, Pilze, Beeren und andere wilde Früchte, ab und zu gelingt es mir auch, mit einer selbstgemachten Schlinge einen Hasen zu erbeuten oder in den Bächen einen Fisch zu fangen. Im Winter schleiche ich mich in die Dörfer und versuche, etwas zum Essen zu stehlen."

    Plötzlich klammerte er sich zitternd an Alkaios und stieß mit heiserer Stimme hervor: „Aber die Löwen und die Bären – sie verfolgen mich ständig, immer muss ich vor ihnen auf der Hut sein – aber noch viel schlimmer sind die Geister, die Riesen und die Dämonen aus der Scheol mit ihren bleichen Totengesichtern und ihren grauenhaften Zähnen. Ständig sind sie hinter mir her und greifen nach mir mit ihren langen knochigen Armen. Manchmal wache ich aus dem Schlaf auf, und einer liegt schon neben mir mit seinem geifernden Maul und fängt gerade an, mich anzunagen. Ich habe niemals Ruhe vor ihnen, sie finden mich überall. Am schlimmsten aber ist es, selbst wenn ich keinen sehe, so höre ich doch ihre Stimmen. Sie flüstern mir etwas zu und erteilen mir Befehle. Die muss ich dann ausführen, ob ich will oder nicht. Sie sind viel stärker als ich, sie können mit mir machen, was sie wollen. Ich muss immer gehorchen. Sie hatten mir auch befohlen, dich anzugreifen und zu töten. Seine Lippen zuckten, ein mattes Lächeln war für einen kurzen Moment zu sehen. „Ich bitte dich, Alkaios, begann er flüsternd, während er sich unruhig nach allen Seiten umwandte, „ich flehe dich an, hilf mir! Rette mich vor diesen Ungeheuern!" Und er bückte sich und begann, Alkaios` Hände und sogar seine Füße zu küssen.

    Alkaios war erschrocken und verstört von Simsons Worten, aber er ließ sich nichts anmerken; er ergriff Simsons Hände und sprach zu ihm mit viel Wärme in seiner Stimme: „Hab keine Angst, Simson, du brauchst dich vor keinem Geist und Ungeheuer zu fürchten, ich bin jetzt bei dir, zusammen sind wir stärker als sie, sie können dir nichts anhaben. Sei unbesorgt, wir werden das gemeinsam schaffen. Aber du solltest nicht mehr allein in diesen Bergen leben wie ein wildes Tier. Am besten, du kommst jetzt mit mir, ich werde dich beschützen. Wo ist denn hier das nächste Dorf?"

    Simson blickte Alkaios unruhig und etwas ängstlich an. „Willst du mich denn wirklich mitnehmen? Und kann ich auch bei dir bleiben? Ich bin es nicht mehr gewöhnt, unter Menschen zu sein."

    „Das wird schon wieder, mein Junge. Du wirst sehen, du gewöhnst dich wieder an die Menschen, und die anderen Menschen werden dich auch akzeptieren. Mag schon sein, dass einige erst etwas befremdet sein werden, aber ich bin ja da, ich beschütze dich, ganz gleich, was geschieht, ich lasse dich nicht im Stich."

    Simsons vorher sehr angespannte Gesichtszüge lösten sich jetzt, er nickte mit dem Kopf, schluckte ein paar Mal und begann mit etwas mehr Zuversicht in der Stimme: „Das ist gut so, ja das ist sehr gut, ich will ja auch gar nicht immer allein sein. Wenn du jetzt ins nächste Dorf gehst, gehe ich mit dir. Das Dorf heißt Har Kitron, man geht von hier im Tal nur etwa eine Stunde in Richtung der Sonne, wo sie im Mittag steht."

    Alkaios umarmte Simson, dessen Schicksal sein Herz gerührt hatte, sie standen auf, Alkaios nahm seine Sachen, und sie gingen los, weiter nach Südosten. Der Thraker sah sofort, dass Simson schon lange hier gelebt haben musste. Er bewegte sich in dem felsigen, mit Ranken, stachligen Büschen

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