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Wimmerholz
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eBook436 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Nach einer wahren Begebenheit - Mai 1945 - Königsberg. Die legendäre Hauptstadt Ostpreußens ist Ausgangspunkt einer Odyssee über das mystische Gotland bis nach Småland. Feldwebel Martin Greven, seine junge Liebe Greta Sandberg und die 10-jährige Lena ahnen nicht, dass sie wegen des Schlüssels zu einem der mysteriösesten Schätze der Welt von einem Geheimbund gejagt werden. Währenddessen werden Martins Kameraden in Schweden interniert - mit dem Versprechen, sie nach Deutschland zu entlassen. Sie wissen nicht, dass die Regierung in Stockholm längst andere Pläne hat. Was folgt, ist absolut unfassbar. Der "Blutige Freitag" zählt zu den traumatischsten Erlebnissen Schwedens in der Nachkriegszeit. In Deutschland hingegen kennt kaum jemand die dramatischen Begebenheiten um die deutschen Soldaten. Eingebettet in diese historischen Ereignisse entwickelt sich die Geschichte um Liebe und Hoffnung, Leben und Tod - und hält den Leser bis zur letzten Seite gefangen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. März 2014
ISBN9783849577667
Wimmerholz
Autor

Michael Paul

Michael Paul, Dr. phil., ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, Mitglied des Arktisdialogs des Alfred-Wegener-Instituts, Leiter des Gesprächskreises maritime Sicherheit der SWP und war 2018-2019 Mitglied des Experten­teams im Themenzyklus „Meere und Ozeane“ des Runden Tisches der Bundes­regierung. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt über Russland in der Arktis sowie als „Grundlage­n­werk“ (taz): Kriegsgefahr im Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen Rivalität, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 2017. 

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    Buchvorschau

    Wimmerholz - Michael Paul

    1

    Der Koffer stand gepackt im Flur. Es war Freitag, halb neun Uhr an einem Morgen im Juni 1998. Carl blickte nochmal auf das Flugticket.

    „Visby - Tallin, Gate A, schließt um 9 Uhr 40. Alles klar, das kann ich mir merken".

    Er klang gut gelaunt und steckte das Ticket zusammen mit der Einladung zum „Internationalen Kongress für mittelalterliche Geschichte" in die Innentasche des braunkarierten Jacketts.

    „Ich denke, ich bin soweit!", sagte er, während seine Hände prüfend alle Taschen seiner Jacke nochmals abtasteten.

    „Du hast einen wunderbaren Tag erwischt. Der Flug nach Tallin wird sicher ruhig werden", sagte Lena, während sie ihm das Jackett auf dem Rücken glatt strich.

    Wie jedes Mal, wenn Carl verreiste, blickte er nochmal zurück und warf einen Blick durch das große Wohnzimmerfenster ihres alten gemütlichen Häuschens in der Nygatan. So gerne er auch verreiste und seiner Forschung nachging, so sehr hasste er es, nach fast vierzig Jahren immer noch, Lena zu verlassen - auch wenn es diesmal nur für vier Tage sein sollte.

    „Montagabend bin ich zurück, mein Schatz. Was hast du außer dem Kirchenkonzert noch vor?", fragte er Lena. Zu sehr hatte es ihn geärgert, dass er ausgerechnet am Sonntag nicht da sein konnte, wenn seine Frau mit ihrem Chor das große jährliche Konzert hatte. Sie leitete den Chor seit acht Jahren mit großem Erfolg, und der Dom war außer an Heiligabend nur zu diesem Konzert überfüllt, darüber witzelte sie gerne. Ausgerechnet dieses Jahr, wenn sie das erste Mal seit Langem wieder ein Solo selbst spielte, konnte er nicht dabei sein.

    Die Akustik des mittelalterlichen Gebäudes ließ einen großartigen Klang für Lenas Violine erwarten. Es würde gewiss der Höhepunkt des Konzerts, da war sich Carl sicher. Das geplante Stück hatte sie zuletzt in ihrer Zeit an der Philharmonie in Stockholm als erste Geigerin gespielt.

    „Heute habe ich noch zwei Schüler, Emma und Björn, gab sie zur Antwort, „und morgen will ich im Dom für Sonntag einiges vorbereiten.

    Carl nahm seinen Trolley, hängte die Laptoptasche um und gab ihr einen innigen Kuss. Sie umarmten sich lange und Lena sah ihm zu, wie er ins Taxi stieg.

    „Ruf mich an oder schick eine SMS, wenn du angekommen bist", rief sie ihm zu. Er nickte, winkte ihr zu, und das Taxi fuhr die enge Nygatan langsam über das Kopfsteinpflaster davon.

    Seit 1970 bewohnten sie nun das kleine gelbe Haus. Im Erdgeschoß rechts hatte Lena ihren Musikraum eingerichtet, mit einem Klavier, verschiedenen Streichinstrumenten, Notenständern und einem grau-rot gestreiften Sofa. „Musikskola Lena Persson" stand auf dem glänzenden Messingschild an der Tür. Obwohl sie Karriere gemacht hatte in verschiedenen bekannten Orchestern, war doch diese kleine Musikschule und die Arbeit mit den Kindern und dem Domchor für sie der Höhepunkt ihrer Laufbahn. Lena konnte sich nichts Schöneres vorstellen und ihre Schüler liebten sie. Neben dem jährlichen Kirchkonzert organisierte sie im Rahmen der Kulturtage ein großes Symphoniekonzert in der St.- Nikolai-Ruine, einer der zehn großen mittelalterlichen Kirchenruinen, die das Stadtbild Visbys prägen.

    Die Doppelstunde mit Emma, einem neunjährigen Mädchen, verlief wie immer. Sie hatte ihre Etüden geübt, aber mancher Halbton und insbesondere das Vibrato ließen erahnen, welche Ausdauer und Hartnäckigkeit noch notwendig sein würden, um aus Emma eine Geigenspielerin zu machen; womöglich sogar eine gute, denn sie hatte Talent. Mit großer Geduld begannen sie die Übungen immer wieder von vorne, wenn die Geige ein unerwünschtes Nebengeräusch erzeugte.

    Das Mädchen erinnerte Lena sehr an sich selbst, als sie in dem Alter war. Als sie auf dem elterlichen Gut in Ostpreußen mit der Geige heimlich unter dem Scheunendach übte - weil Vater und Mutter bereits eine Karriere als große Opernsängerin für sie vorgesehen hatten und es nicht gerne sahen, wenn sie ihre Zeit mit der Geige vergeudete, statt Tonleitern rauf und runter zu singen. Die Arbeiter auf dem Gut hatten es hingegen geliebt, wenn Lena spielte. Es war eine willkommene Unterhaltung und Abwechslung bei der harten Arbeit auf dem Gut. Selbst den polnischen und französischen Zwangsarbeitern konnte sie damit die schwere Zeit etwas erleichtern.

    Emma setzte gerade zum dritten Mal für die Etüde in E-Dur an, als es an der Tür klingelte. Lena wunderte sich, denn sie erwartete keinen Besuch und die nächste Unterrichtsstunde war erst am Nachmittag.

    „Emma, wir machen Schluss für heute! Das war ganz großartig. Bitte übe die drei Etüden weiter und nächstes Mal spielen wir sie mal gemeinsam, was hältst du davon?", fragte Lena lächelnd, während sie sich vom Sofa erhob. Die Augen des Mädchens strahlten. Es galt unter Lenas Schülern als Auszeichnung, wenn ihre Lehrerin mit ihnen zusammen spielte. Das machte sie nur in besonderen Fällen. Beseelt packte Emma ihre Geige in den Instrumentenkoffer und folgte Lena zur Tür.

    „Bis nächsten Dienstag!", verabschiedete sich Emma, ohne sich noch mal umzuschauen und fegte durch die Tür, kaum dass Lena sie geöffnet hatte.

    „Lena Persson?, fragte der Postbote, der etwas verdattert vor der Tür stand, weil ihn das kleine Mädchen fast umgerannt hatte, „oder Lena Greven?

    „Eigentlich beides", antwortete Lena neugierig, während der Mann einen Briefumschlag aus seinem Fahrradkorb zog.

    „Ja, was denn nun?", fragte er etwas irritiert.

    „Persson ist mein Nachname, Greven einer meiner Mädchennamen", antwortete Lena ruhig.

    „Ach, Sie haben auch noch mehrere Mädchennamen?", wunderte sich ihr Gegenüber brummig, was Lena eher amüsierte. Er war wohl neu auf der Tour und heftig in Zeitnot, da er ja die Route noch nicht kannte.

    „Das ist eine längere Geschichte. Möchten Sie sie hören?", fragte Lena. Sie konnte nicht widerstehen, den armen Briefträger etwas zu necken.

    „Nein, danke, kam es prompt zurück, „ich habe ein Einschreiben für Sie, unterschreiben Sie bitte hier. Er hielt ihr einen Quittungsblock und einen Kugelschreiber hin, Lena unterschrieb und er übergab ihr einen Briefumschlag. Mit einem knurrigen „Tack så mycket" schwang er sich aufs Fahrrad und rollte zwei Häuser weiter. Lena schaute ihm amüsiert nach, ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich.

    Sie betrachtete den Umschlag. Er trug ein Wappen und daneben prangte die Adresse eines Notars: Anders Holmquist, Strandvägen 17, 104 40 Stockholm.

    „Oh, eine sehr gute Adresse. Aber Holmquist … nie gehört", wunderte sich Lena und ging hinaus auf die Terrasse. Sie setzte sich in einen der Korbsessel und schlitzte den Umschlag vorsichtig mit dem silbernen Brieföffner auf, den sie von der Kommode im Flur mitgenommen hatte. Sie nahm den Brief heraus und begann zu lesen:

    Sehr geehrte Frau Persson,

    in einer vertraulichen testamentarischen Angelegenheit möchte ich Sie gerne bei Ihnen in Visby aufsuchen, um einer unserer Kanzlei aufgetragenen Pflicht nachkommen zu können. Mein Reiseplan der nächsten Tage ermöglicht mir leider nur, am Montag, den 15.06.1998 um 14 Uhr zu Ihnen zu kommen. Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Termin wahrnehmen können. Bitte verzeihen Sie mir die sehr kurzfristige Reiseplanung. Ein notwendiger Anschlussflug lässt mir bedauernswerter Weise keine andere Möglichkeit und ich möchte den mir übertragenen und mir persönlich sehr am Herzen liegenden Auftrag schnellstmöglich erledigt wissen.

    Bitte bestätigen Sie den Termin telefonisch in meinem Büro, die Nachricht wird mich dann erreichen.

    Mit freundlichen Grüßen

    Anders Holmquist

    Notar

    „Das klingt ja geheimnisvoll, dachte Lena und überlegte, worum es wohl gehen könnte. „Eine testamentarische Angelegenheit, murmelte sie vor sich hin. Hatte sie etwas geerbt? Von wem? Ihre Eltern waren vor wenigen Jahren gestorben, und sie hatte keine Idee, was dahinter stecken könnte.

    Lena ging zurück ins Haus, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer. Nach zweimaligem Klingeln meldete sich eine freundliche junge Frauenstimme:

    „Notariat Holmquist, was kann ich für Sie tun?".

    „Hier spricht Lena Persson, ich habe ein Einschreiben bekommen von Herrn Notar Holmquist, und wollte den Termin am Montag um 14 Uhr hier in Visby bestätigen".

    „Persson …, eine Pause setzte am anderen Ende der Leitung ein, ach ja, Frau Greven, oder?, fragte die Stimme und fuhr ohne auf eine Antwort wartend fort: wir haben eine Weile suchen müssen, bis wir Sie gefunden haben. Daher hat Sie der Brief leider auch erst jetzt so kurzfristig erreicht. Bitte entschuldigen Sie."

    „Worum geht es denn?", fragte Lena, wohl ohne die Erwartung zu haben, dass die eifrige Sekretärin ihr die Angelegenheit am Telefon erklären würde.

    „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber Herr Holmquist wird Ihnen ja am Montag alles erläutern. Es geht um das Testament von Herrn Olof Bengtsson." Lena zuckte zusammen, als die Stimme am anderen Ende der Leitung diesen Namen sagte. Sie bedankte sich und legte auf.

    „Olof Bengtsson? Das kann doch nicht wahr sein!, dachte sie. „Holt mich die Geschichte meiner Jugend nun wieder ein, nach so vielen Jahren?.

    Die Gedanken beunruhigten sie. Sie ging in die Küche und kochte sich erst einmal einen grünen Tee. Das tat sie immer, wenn sie Ruhe zum Nachdenken brauchte. „Wahrscheinlich ist es etwas Gutes", beruhigte sie sich und schmunzelte über sich selbst.

    Um zwölf Uhr summte das Handy, eine SMS von Carl, dass er gut angekommen war. Um vierzehn Uhr kam Björn, ein leidlich begabter Klavierschüler, Sohn des Apothekers zwei Straßen weiter. Der Apotheker war überzeugt, dass sein Sohn das Talent für einen großen Pianisten habe. Lena war da nicht so sicher. Nach diversen „Für Elise" und einigen Übungen aus der russischen Klavierschule Nummer vier holte sich Lena die Noten für das Sonntagskonzert, weil sie diese nochmal genau durchgehen wollte.

    Carl hatte sie zurückgeschrieben, dass er sie abends vor 22 Uhr noch anrufen möge. Aber sie wusste schon, dass das nur selten klappte. Nicht, weil er nicht an sie dachte, sondern einfach, weil der Kongress meist bis spät in die Nacht ging - wenn auch verlagert vom Konferenzsaal zur Hotelbar - und er sie spät, wenn er endlich ins Hotelzimmer kam, nicht mehr aufwecken wollte. Sie nahm ihm das nicht übel, denn sie wusste, dass die Kontakte und Gespräche gerade abends oft wertvoller für Carl waren als irgendwelche langweiligen Vorträge tagsüber.

    So war es auch diesmal. Sie hatten sich nicht mehr gesprochen und Lena ging mit den Gedanken über diesen merkwürdigen Brief früh ins Bett. Von Olof Bengtsson hatte sie nur noch eine ganz schemenhafte, vage bildliche Vorstellung. Schließlich hatte sie ihn als Zehnjährige vor über 50 Jahren das letzte Mal gesehen.

    Am nächsten Morgen rief Carl aus Tallin an, zwischen Frühstück und dem ersten Vortrag über die Ergebnisse von Ausgrabungen in Mittelengland. Viel Zeit hatte er nicht und im Hintergrund war das rege Treiben in der Hotellobby zu hören. Lena erzählte ihm kurz von dem Brief, aber Carl konnte sie nur schwer verstehen.

    „Warte den Besuch des Notars ab, dann wird sich gewiss alles aufklären. Sicher wird alles gut! Und am Dienstag komme …", dann brach die Verbindung ab.

    So stürzte sich Lena in die Vorbereitungen für ihr Konzert am Sonntag, und die vielen Aufgaben, Anrufe und Dinge, die noch schnell organisiert werden mussten, ließen sie den Brief wieder etwas vergessen.

    Sonntagabend rief Carl an, es war schon fast Mitternacht.

    „Und, wie war dein Konzert?", fragte er.

    „Mein Schatz, es war einfach wunderbar, großartig! So schade, dass du nicht dabei sein konntest. Die Leute waren begeistert und die Stimmung war einfach wieder unglaublich!", schwärmte Lena. Wie immer war ihr ihre Begeisterung und Leidenschaft für die Musik sofort anzumerken. Dafür liebten sie ihre Freunde, ihre Schüler und natürlich Carl.

    „Oh, habe ich ‚unglaublich‘ gesagt?, lachte Lena los, „das sollte man wohl zu einer Veranstaltung in einem Dom besser nicht sagen. Wenn das Pastor Eriksson hören würde!

    Sie mussten beide herzhaft lachen. Lena war müde nach dem Konzert und so bezeugten sie sich noch ihre gegenseitigen Liebe, schickten sich einen Kuss durch die Leitung und verabschiedeten sich. Lena fiel ins Bett und schlief sofort ein.

    Montagmorgen holte sie der geheimnisvolle Brief wieder ein. Es war ein herrlicher, warmer Sommertag und so setzte sie sich nach dem Frühstück mit einer zweiten großen Tasse Kaffee auf die Terrasse in einen der beiden Liegestühle. Sie beobachtete die großen weißen Möwen, die über den Dächern der Stadt im blauen Himmel kreischend ihre Kreise zogen und sich gegenseitig jagten.

    Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Dann dachte sie wieder an den Brief und den Notar, der später kommen sollte, und an Olof Bengtsson. Er war damals ein guter Freund ihrer Eltern gewesen. Ihr Vater war vor drei Jahren gestorben, ihre Mutter erst letztes Jahr. Ihr Bruder Johannes hatte später den Hof in Grötlingbo weitergeführt, während sie für ein spätes Musikstudium nach Stockholm gegangen war.

    Sie schlief ein und im Traum sah sie sich als kleines Mädchen auf dem Hof in Grötlingbo, wo sie mit Martin und Greta gelebt hatte, und mit Åke, ihrem lieben Großvater und Sven, Gretas Bruder.

    Sie sah die große Herde Gotlandschafe mit ihrem festen grauen Pelz und den schwarzen Köpfen an sich vorbeiziehen, die wachenden bellenden Hunde, die sie so geliebt hatte. Sie sah sich auf dem Pferd durch die Herde reiten. Dann wechselten die Bilder in immer schnellerer Folge, wurden düsterer, bedrohlicher. Sie lief unter dunklen Gewitterwolken über scheinbar unendliche Weizenfelder und plötzlich hörte sie von irgendwoher Musik. Die Arbeiter auf dem Feld in ihren zerlumpten Jacken und mit ihren verdreckten Gesichtern lachten und winkten ihr zu. Auf einmal saß sie alleine draußen auf dem Meer in einem kleinen Fischerboot, das mit eiskaltem Wasser voll lief. Lena wurde trotz der warmen Sonnenstrahlen kalt und sie begann zu zittern. Dann rannte sie plötzlich panisch durch enge Gassen einer alten Stadt voller Ruinen, hinter ihr eine übergroße dunkle Gestalt, überall Rauch, Schreie, Soldaten, Schüsse. Sie fühlte die Bedrohung, bekam Angst. Ihre Hände krampften sich zusammen. Als neben und über ihr ein Haus einstürzte, schreckte sie hoch.

    Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, sie atmete schnell und ihr Puls raste. Lena stand auf, lief etwas durch den Garten und versuchte sich zu beruhigen. So lange schon hatte sie diese Bilder nicht mehr gesehen, und war so froh darüber gewesen. Nun waren sie plötzlich wieder da.

    Kurz nach zwei klingelte es an der Tür. Lena öffnete und der graumelierte ältere Herr im dunkelblauen Anzug mit adrett gebundener roter Krawatte stellte sich freundlich als Notar Anders Holmquist aus Stockholm vor. Er trug eine Aktentasche und ein längliches, verschnürtes Paket unter dem Arm. Er stellte die Aktentasche kurz ab, um Lena zur Begrüßung die Hand geben zu können. Er bedankte sich dafür, dass Lena so kurzfristig Zeit für ihn hatte und entschuldigte sich für die kurze Vorwarnzeit. Lena bat ihn herein und verschwieg, dass sie ganz froh war, dass nicht noch mehr Tage zwischen dem Brief und dem Besuch gelegen hatten. Sie setzten sich auf die Terrasse und Holmquist bewunderte die Aussicht. Durch die Lage oberhalb des Doms reichte das Panorama über die Altstadt mit ihren verwinkelten und eng stehenden kleinen Häuschen bis hinaus aufs Meer.

    „Ein schönes Häuschen haben Sie hier, Frau Persson", begann er das Gespräch und stellte das Paket und seine Tasche neben seinem Stuhl ab.

    „Ja, das stimmt. Wir wohnen hier nun schon seit 1970, und fühlen uns richtig wohl", antwortete Lena, während sie auf die Kaffeekanne auf dem Tisch wies.

    „Ja, gerne, um die Zeit passt ein Kaffee immer gut", nahm der Notar die Einladung an.

    „Nun, Herr Holmquist, Sie sind sicher nicht mit der Fähre nach Gotland gekommen, um mit mir über die Schönheit der Stadt zu sprechen oder Kaffee zu trinken", lenkte Lena das Gespräch freundlich auf den eigentlichen Grund des Besuchs, während sie ihm einschenkte.

    „Frau Persson, ich bin in einer offiziellen Angelegenheit hier, es ist aber auch ein mir sehr am Herzen liegender letzter Freundschaftsdienst. Olof Bengtsson war ein guter Freund meines Vaters Peter, und als Notar hat er meinen Vater in seinem Testament mit einer, sagen wir, etwas ungewöhnlichen Sache beauftragt.

    „Demnach ist Herr Bengtsson tot?", fragte Lena nach.

    „Ja, er ist vor einigen Jahren verschieden. Er hatte ein sehr schönes erfülltes Leben und wurde 94 Jahre alt. Er starb im Frühsommer 1983. Er hatte eine erfolgreiche diplomatische Laufbahn absolviert, wurde nach dem Krieg Botschafter in der Schweiz und dann bis zu seiner Pensionierung Staatssekretär für Schweden bei der UN in New York. Er hat sich besonders für die Menschenrechte und die Einhaltung der Genfer Konvention bei Kriegsgefangenen engagiert", begann Holmquist zu erklären. Lena runzelte die Stirn.

    „Herr Holmquist, Sie haben doch nicht 15 Jahre gebraucht, um meine Adresse ausfindig zu machen, oder? Sie steht im Telefonbuch."

    „Nein, nein, lassen Sie mich bitte weiter ausführen", erwiderte der Notar, sichtlich bemüht, sehr einfühlsam mit Lena umzugehen.

    „Olof hat mich gebeten, Ihnen nach seinem Tod diesen Brief und dieses Paket persönlich zu überbringen, aber nicht, bevor auch Ihre Eltern verstorben sind. Das Paket hat er schon vor vielen Jahren bei meinem Vater hinterlegt. Mein Beileid zum Tod Ihrer Eltern."

    Lena nickte verwirrt. Holmquist legte behutsam einen Briefumschlag auf den Tisch, der mit einem Wachssiegel verschlossen war.

    „Bitte fragen Sie mich nicht, warum er das so wollte. Ich weiß es auch nicht. Leider haben wir erst vor Kurzem vom Tod Ihrer Mutter erfahren und dann nach Ihnen gesucht. Und deshalb bin ich nun hier."

    Lena verstand überhaupt nichts mehr. Was sollte das für einen Sinn haben?

    „Und was haben Sie mir mitgebracht?"

    „Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Olof hat meinem Vater das Paket bereits so verschlossen nach dem Krieg gegeben. Seither haben wir es verwahrt und nun kann ich es Ihnen überreichen. Mit seinem Testament zusammen kam noch dieser Brief an Sie dazu." Sie betrachteten das rätselhafte Paket eine Weile schweigend, bis sich der Notar räusperte.

    „Sie erlauben, dass ich mich nun verabschiede, Frau Persson? Und lassen Sie mich noch sagen, dass Olof in den höchsten Tönen von Ihren Eltern gesprochen hat. Er muss sie sehr gemocht haben, auch wenn sie wohl keinen Kontakt mehr hatten."

    Beide standen auf und Lena begleitete ihn zur Tür.

    „Ich denke, wir werden in Kürze nochmal telefonieren", sagte Holmquist, während er Lena die Hand schüttelte und dann die Straße hinunter zum Hafen ging. Lena kam nicht mehr dazu, zu fragen, warum sie denn nochmal telefonieren sollten.

    Sie ging zurück auf der Terrasse und nahm im Vorbeigehen das Paket aus dem Flur mit, das der Notar dort abgestellt hatte. Es war erstaunlich leicht für seine Größe. Nun betrachtete sie den Briefumschlag mit dem roten Siegel, der auf dem Tisch lag, und das Paket, das sauber in braunes Packpapier verpackt und mit einer stabilen Kordel verschnürt war. Sie versuchte, sich ein Bild daraus zu machen, was der Notar ihr gerade erzählt hatte, doch sie konnte die Bruchstücke an Informationen nicht zu einem Ganzen zusammenfügen.

    So setzte sie sich wieder in ihren Stuhl an den Tisch unter dem Sonnenschirm, nahm ihre Tasse in die Hand und betrachtete den Umschlag auf dem Tisch, fast so, als hoffte sie, dass der Brief von selbst aufginge und ihr von sich aus sein Geheimnis enthüllte.

    Schließlich nahm sie den Brief, brach das Siegel durch, nahm ihren Kaffeelöffel und öffnete mit dem Stiel vorsichtig den Umschlag. Sie begann zu lesen.

    2

    Der Sommer 1944 kündigte sich in Ostpreußens Hauptstadt Königsberg mit schönen, warmen Tagen an. Es war eine Wohltat nach dem brutalen Winter, und das urbane Treiben in der Provinzhauptstadt blühte auf. Der Krieg hatte sich längst gegen Deutschland gewendet, die Ostfront rückte unaufhaltsam gen Westen. Ostpreußen hingegen war bis zu diesem Sommer weitgehend verschont geblieben. Auch wenn Stalingrad erste Zweifel am Endsieg aufkommen ließ, so hielten es doch viele immer noch für ausgeschlossen, dass der große Sieg gefährdet sei oder gar der Russe nach Ostpreußen käme. Die Propaganda sorgte scheinbar für Beruhigung im Volk. Niemand in Königsberg konnte - oder wollte - erahnen, was ihnen bevorstand und dass sie ihre Heimat bald für immer verlieren würden.

    Martin, Hannes und Paul saßen auf einer kleinen Mauer im Innenhof der Kaserne. Es war eines der Forts im Verteidigungsring rund um Königsberg. Schon im 19. Jahrhundert erbaut, umgab die militärische Anlage ein breiter Wassergraben und viele der roten Backsteingebäude waren unter Erdwällen verborgen.

    Sie hatten Dienstpause und redeten über dies und das, meist über die Heimat, den Krieg, manchmal auch über Mädchen. Sie hatten sich bereits in der Grundausbildung kennengelernt und waren schnell Freunde geworden.

    Martin Greven kam aus Köln und war froh, dass er hier im Fort eingesetzt war, auch wenn es fern von seiner alten Heimat im Westen war. Als Feldwebel war er der Dienstgradhöchste der Freunde. Ihn hatte es nie an die Front gezogen, nie in den angeblichen Kampf um Ehr und Vaterland. Er strebte nicht nach einem aufregenden oder gefährlichen Leben, brauchte kein Abenteuer. Wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, wäre er vermutlich - nach den Plänen seiner Mutter - irgendwann in einer Amtsstube gelandet. Aber trotz der widrigen Umstände war er loyal, insbesondere gegenüber General von Schultzendorff, seinem Vorgesetzten.

    Auch seine beiden Freunde wollten nur schnell wieder zurück in die Heimat, aber ihre Motive dafür konnten kaum unterschiedlicher sein.

    Hannes war ein liebenswerter, sensibler Mensch, der immer gute Laune zu haben schien. Martin kannte keinen besseren Streitschlichter als ihn. Er konnte immer für Ausgleich sorgen, sich in die verschiedenen Sichtweisen einfühlen und eine Lösung vermitteln. Er kam aus Hamburg und hatte noch lange als „unabkömmlich" in der Firma seines Vaters gearbeitet, bevor er doch noch eingezogen wurde. Die Trennung von seinen beiden jüngeren Schwestern, den Zwillingen, und den Eltern machte ihm zu schaffen.

    Paul hingegen kam aus dem Ruhrgebiet, aus Essen. Martin und Hannes waren sich nicht sicher, ob er wegen der Stadt oder eher nur wegen „Rot-Weiß, seiner Fußball-Mannschaft, zurück wollte. Er war ein robuster Charakter, sehr anpassungsfähig und nach Einschätzung seines damaligen Trainers einer der talentiertesten jungen Spieler in der Stadt, wenn auch mit ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, hätte er in „der Ersten von Rot-Weiß spielen können.

    Mit seinen beiden Freunden verbrachte Martin die wenige Freizeit, die ihm zwischen den Diensten blieb. Ihre Freundschaft war mehr als die übliche Kameradschaft. Sie hatten das Gefühl, sich schon ewig zu kennen und standen immer füreinander ein.

    An einem dieser herrlichen Junitage wurde im prächtigen Schloss in Königsberg ein Empfang gegeben. Gauleiter Erich Koch hatte geladen und hohe Militärs, Parteigenossen, der Adel und angesehene Persönlichkeiten der Gesellschaft waren gekommen.

    Als Fahrer hatte Martin seinen General Heinrich von Schultzendorff zum Schloss gefahren. Oft war Feldwebel Martin Greven als Ordonanz und Fahrer für den General im Einsatz, wenn er nicht in der Schreibstube des Forts vor den Toren der Stadt Berichte tippte, Unterlagen analysierte, Material organisierte oder Depeschen übermittelte. Er war froh über diese Position, erschien ihm doch dieser frontferne Einsatz als sicher und nicht so gefährlich.

    Martin schätzte den General, Oberstleutnant von Schultzendorff immer sehr. Ein bisschen war er sogar so etwas wie ein Vaterersatz geworden, nachdem sein Vater schon früh im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen war, da war Martin gerade mal sieben Jahre alt gewesen. Seine Mutter war Ende Mai 1942 beim Bombardement der Briten auf Köln ums Leben gekommen und auch damals hatte der General ihn unterstützt und vier Tage Fronturlaub gegeben. Auf den langen Fahrten im Kübelwagen, die er oft mit dem General zu unternehmen hatte, hatten sie viel miteinander geredet, über Privates ebenso wie über Politik.

    Der Schlosshof war mit haushohen roten Hakenkreuzfahnen geschmückt. Nachdem er im großen Bogen durch den Innenhof des alten Schlosses gefahren und der General ausgestiegen war, stellte Martin den Wagen neben einem der vielen anderen auf der Südseite des Hofs ab, gegenüber dem Eingang zu den Gewölben des berühmten Weinlokals im Schloss, dem „Blutgericht". Er beobachtete, wie Männer in Gehröcken, Frack oder Uniformen das Schloss betraten. Ihre weiblichen Begleitungen beeindruckten mit ihren Abendkleidern und extravaganten Hüten.

    Den Fahrern war ein Nebenraum des Festsaals zugewiesen worden, durch dessen angelehnte Verbindungstür sie einen Blick in den Festsaal werfen konnten und für ihre Dienstherren so jederzeit abrufbereit waren.

    Aus dem Festsaal war ein Tusch der Kapelle erklungen und der erste Redner war, wie unschwer am Ton zu erkennen, der Gauleiter. Seine Ambitionen, seinem großen Vorbild aus dem Reich nachzueifern, drückten sich in Stimme, Betonung und der Lautstärke seiner Rede unverkennbar aus. Nicht umsonst nannten ihn alle hinter vorgehaltener Hand etwas spöttisch den „Führer von Ostpreußen". Er begrüßte die Gäste und begab sich dann auf einen verbal ausschweifenden Ausflug durch die übliche Propaganda, und dankte dem Führer für dessen grenzenlose Selbstaufopferung und Unterstützung Ostpreußens. Martin hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend, während er ihm zuhörte.

    Koch schloss seine Ansprache mit den Worten:

    „Und so übergebe ich das Wort nun an unseren sehr geschätzten, obersten Hüter unserer einzigartigen preußischen Kunstsammlungen, Herrn Direktor Dr. Alfred Rohde! Bitte schön!"

    Mit einer gönnerhaften Geste bat er den kleinen unscheinbaren Mann mit der runden Brille in seinem bubenhaften Gesicht auf die Bühne, während alle ihrem Provinzführer pflichtbewusst applaudierten.

    Martin horchte auf und sah durch den Spalt der Tür in den Saal. Über die Köpfe hinweg konnte er die Bühne sehen. Er hatte mal in der „Preußischen Zeitung" einen interessanten Artikel über Dr. Rohde und die Prussia-Sammlung gelesen, die im Schloss ausgestellt war. Eigentlich interessierte sich Martin nicht besonders für Kunst, Gemälde und Museen, aber irgendwie war er an diesem Artikel hängengeblieben.

    Dr. Rohde sprach mit warmer, sympathischer Stimme, nicht sehr laut, und man musste sich anstrengen, um in dem großen Saal etwas zu verstehen. Offenkundig fühlte er sich vor so vielen Menschen nicht sehr wohl, war kein Mann für die Bühne. Martin ging währenddessen zu dem kleinen Buffet, das für die Fahrer aufgebaut worden war und folgte weiter der Reede von Dr. Rohde. Als er sich wieder auf seinen Stuhl neben der Tür gesetzt hatte, kündigte dieser gerade ein Kind an, das nun ein ganz besonderes Lied vortragen würde. Im Saal wurde es vollkommen still und Martin öffnete den Türspalt etwas weiter, um besser zuschauen zu können.

    Martin sah das Mädchen, wie sie in ihrem feinen blauen Faltenrock und der weißen Bluse auf die Bühne stieg, einer der Musiker ihr das Mikrofon einstellte und die berühmten ersten Töne der Trompete zu „Lili Marleen durch das Schloss hallten. Als die Kleine dann mit ihrer kristallklaren Stimme mit „Unter der Laterne, vor dem großen Tor begann, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Auch die Ordonanzen im Nebenraum waren sichtlich berührt von der jungen Dame, obwohl man das Lied schon so oft gehört hatte. Ein tosender Applaus folgte.

    Einige Zeit später ließ General von Schultzendorff nach Martin rufen. Der General stand mit Dr. Rohde zusammen, als Martin dazukam.

    „Ich denke, wir fahren dann, Feldwebel. Bitte holen Sie den Wagen!", gab er das Zeichen zum Aufbruch. Doch bevor Martin etwas hatte sagen können, kam ein elegantes Ehepaar auf Dr. Rohde zu.

    „Darf ich vorstellen? Baron Claus von Tarnitz und seine Frau Martha", sagte Dr. Rohde.

    „General von Schultzendorff, es ist mir eine Ehre, stellte sich der General vor und begrüßte die Baronin mit einem Handkuss. „Mein Adjutant, Feldwebel Greven, stellte er Martin kurz vor.

    „Das sind die Eltern der kleinen Lena, die so wunderbar die ‚Lili Marleen‘ gesungen hat, erklärte Dr. Rohde, „Ganz, ganz außergewöhnlich für ein zehnjähriges Mädchen, oder?

    Der General lächelte und nickte zustimmend.

    „Dr. Rohde, Sie müssen uns helfen!, reagierte der Baron aufgeregt, „Wir können Lena nirgends finden. Ich befürchte, sie hat sich im Schloss verlaufen. Und wir kennen uns hier ja auch nicht aus.

    „Greven, übernahm von Schultzendorff gleich das Kommando, „helfen Sie doch Dr. Rohde bei der Suche. Niemand kennt sich schließlich so gut im Schloss aus wie er! Baronin, machen Sie sich bitte keine Sorgen, wir werden Ihre Tochter sicher umgehend finden!

    So liefen Dr. Rohde und Martin durch die Gänge und Säle des Schlosses, doch sie konnten das Mädchen nicht finden.

    Sie liefen bis in die Gewölbekeller und riefen immer wieder laut ihren Namen. In einem der Kellergänge stolperte Martin über eine Kiste, bevor Dr. Rohde das Licht anmachen konnte. Vor Martin standen zwanzig bis dreißig lange, nach frischem Holz riechende und vernagelte Holzkisten. Sie trugen keine Aufschrift, aber ihm fiel ein ungewöhnliches Symbol auf, das auf allen Kisten an den Kopfseiten aufgemalt war. Dr. Rohde erklärte, dass darin einer seiner Schätze verpackt sei.

    „Ich muss Vorsorge treffen gegen die anrückende Front. Aber bitte kein Wort darüber zu Erich Koch, der glaubt ja immer noch an den Endsieg."

    In Dr. Rohdes Gesicht las Martin eine Mischung auch Zynismus und Resignation zugleich. Martin zwang sich bei der sarkastischen Bemerkung zu einem höflichen Lächeln, und sie liefen die Treppen wieder hinauf. Von oben schallte die Tanzmusik herunter, die Stimmung im Festsaal war offenbar ausgelassen.

    Plötzlich hörten sie durch den Spalt einer angelehnten doppelflügeligen Tür den Klang einer einzelnen Geige.

    „Der Moskowitersaal, natürlich!", rief Rohde und öffnete vorsichtig die Tür. Der herrliche Saal mit seinem prächtigen Gewölbedach beherbergte gerade die Ausstellung der berühmten Prussia-Sammlung. Dr. Rohde flüsterte Martin zu, dass viele Kunstgegenstände zwischen den Vitrinen, Kanonen und Ritterrüstungen abgestellt worden waren, die normalerweise im Festsaal präsentiert wurden, aber dem Fest für diesen Abend weichen mussten.

    Leise liefen sie in den Saal und lauschten dem klaren Klang der Geige, einer Melodie, die sie noch nie zuvor gehört hatten. Das Lied hatte einen Refrain, den Lena mit ihrer klaren Mädchenstimme leise vor sich hin mitsang:

    „Lenchen, Lenchen Wimmerholz, dein Vaterland, es ist zu stolz, dein Mutterland find keine Ruh„, und der liebe Gott schaut zu!".

    In dem großen Saal hallte die Geige zusammen mit ihrer Stimme so schön, dass die beiden Männer ergriffen stehen blieben und zuhörten. Martin wunderte sich über den Text, den das Mädchen sang. Es kam ihm nicht vor wie ein typisches Kinderlied und er hatte es nie zuvor gehört.

    Langsam gingen sie um die Vitrine, hinter der Lena auf einer alten Kiste saß und spielte. Die Kleine schaute auf und spielte ungerührt weiter. Dr. Rohde strich dem Mädchen übers Haar.

    „Lena, du spielt ja ganz wunderbar Geige! Was war das für ein Lied?", frage Dr. Rohde.

    „Das ist „Lenchen Wimmerholz, antwortete Lena unbekümmert „Das haben die Arbeiter auf dem Gut meiner Eltern für mich gedichtet. Sie singen es, wenn sie auf den Feldern für meinen Vater arbeiten und mich sehen. Sie sind wohl nicht so glücklich, weil sie weg von daheim sind, aber wenn sie singen, geht es ihnen besser.

    „Welches Gut ist das?", fragte Martin.

    „Das Gut von Tarnitz, in der Nähe von Tapiau. Wir haben große Felder und viele wunderschöne Pferde", antwortete Lena. Das war das erste Mal, dass Martin und Lena miteinander sprachen.

    „Komm Lena, deine Eltern vermissen dich schon", sagte Dr. Rohde und sie brachten das Mädchen zurück zu ihren Eltern.

    Martin konnte, als er mit dem General das Schoss verließ, nicht ahnen, dass er zehn Monate später mit dem Kind in einem alten Kahn auf der Ostsee sitzen und ums Überleben kämpfen würde.

    Mit leisen Ruderschlägen ließ die „Erika" den Feuerschein der brennenden Häuser von Pillau hinter sich und erreichte die schützende Dunkelheit der Ostsee. Martin steuerte den alten Kahn, Hannes und Paul ruderten. Martin klappte den Kragen seiner Uniformjacke hoch, während Lena unter der Plane Schutz suchte und sich versteckte.

    Leicht blies der Wind über die See. Die Mainächte konnten noch kalt werden. Sie mussten schnellstens heraus auf die offene See, bevor ein Schiff den unbeleuchteten Kahn rammen würde.

    Pillau war seit Wochen voller Menschen, Hunderttausende, die weg wollten, nur weg! Die Russen standen vor den Toren der Stadt und der ständige Artilleriebeschuss hatte bereits alles in Schutt und Asche gelegt. Königsberg hatten sie längst gestürmt und zwei Tage später sollten sie auch die letzte Hafenstadt Ostpreußens erobert haben. Der Weg über die Ostsee war die letzte Hoffnung der Menschen, die

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