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Der Geist mit der blauen Lederjacke: Roman
Der Geist mit der blauen Lederjacke: Roman
Der Geist mit der blauen Lederjacke: Roman
eBook413 Seiten5 Stunden

Der Geist mit der blauen Lederjacke: Roman

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Über dieses E-Book

Laura Sander findet sich als Geist auf ihrer eigenen Beerdigung wieder. Sie ist zwischen den Welten gefangen, weil sie einen noch nicht erledigten Auftrag zu Ende bringen muss. Aber was? Muss sie ihren Mörder überführen, weil die Polizei eine völlig falsche Spur verfolgt oder hat sie zu Lebzeiten etwas getan, was es nun gut zu machen gilt? Und was ist mit ihrem Mann Sebastian geschehen, den sie auf der Beerdigung nirgends gesehen hat?
Ihr neuer Freund auf dem Friedhof, der Geist von Oliver Sommerfeld, muss sich erst an sein Leben erinnern, bevor er sich auf die Suche nach seiner letzten Aufgabe begeben kann.
Julia Sommerfeld hingegen, quicklebendig und in Sorge um ihren verschwundenen Bruder, recherchiert auf eigene Faust und kommt seinen Mördern dabei gefährlich nahe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Jan. 2020
ISBN9783749762729
Der Geist mit der blauen Lederjacke: Roman
Autor

Melitta Gögge

Melitta Gögge, Jahrgang 1969, entdeckte ihre Leidenschaft für das Schreiben bereits in jungen Jahren, als sie Gedichte, Geschichten und Artikel für eine Schülerzeitung schrieb. Kreatives Schreiben war für sie schon immer der perfekte Ausgleich zum Bürojob. Bis zur nächsten Veröffentlichung sollten jedoch noch viele Jahre vergehen. Ihr erster Roman "Der Geist mit der blauen Lederjacke" erschien 2020 im Tredition Verlag. Sie lebt und arbeitet heute in Freising.

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    Buchvorschau

    Der Geist mit der blauen Lederjacke - Melitta Gögge

    4. Juni

    »Ich gehe jetzt zur Polizei«, sagte Julia Sommerfeld.

    »Die werden aber nichts unternehmen«, entgegnete Benjamin, hielt Julia zurück, die sich gerade ihre Tasche vom Garderobenhaken geschnappt hatte und zur Tür hinaus geeilt war. »Oliver ist ein erwachsener Mann, der sich frei bewegen kann, ohne sich bei dir abzumelden.«

    »Das ist aber nicht seine Art. Selbst wenn er die Nacht spontan anderswo verbracht hätte, hätte er angerufen oder eine kurze Nachricht geschickt. Oliver schaltet sein Handy nie aus. Nie!«

    »Julia! Das weißt du, das weiß auch ich, aber die Polizei wird dich nicht ernst nehmen. Die werden dich nach Hause schicken und du darfst in einer Woche wiederkommen.«

    »Das werden wir ja sehen!«, sagte Julia trotzig und stapfte die Treppe hinunter. Das piekfeine Paar, das im Erdgeschoss auf den Aufzug wartete, tat so, als ob es das Gespräch im Treppenhaus nicht mitgehört hatte. Sie zog, kaum sichtbar, eine Augenbraue hoch, er rückte seine elegante Ledermappe unter dem Arm zurecht und drückte ungeduldig auf den Knopf, weil der Aufzug immer noch nicht kam.

    Auf dem Polizeipräsidium kümmerte sich sofort eine einfühlsame Polizistin um Julia und Benjamin. Sie stellte sich als Polizeiobermeisterin Wagner vor, bat die beiden in ihr Büro und fragte nach ihrem Anliegen.

    »Ihr Bruder ist verschwunden, sagten Sie?«

    »Ja, ich erreiche ihn nicht mehr. Er ist nicht nach Hause gekommen und sein Handy ist ausgeschaltet. Das ist absolut untypisch für ihn!«, sagte Julia.

    »Wie alt ist Ihr Bruder, Frau Sommerfeld?«

    »Er ist zweiunddreißig! Ich weiß, er ist erwachsen und kann machen was er will, aber glauben Sie mir, das ist bisher noch nie passiert!«

    »Sie und Ihr Bruder wohnen also in einer gemeinsamen Wohnung?«

    »Ja, wir haben sie vor zwei Jahren zusammen gekauft.«

    »Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«, wunderte sich die Polizistin.

    »Für Außenstehende vielleicht schon. Unsere Eltern sind früh gestorben, wir mussten zusammenhalten, denn wir hatten ja nur noch einander. Mein Bruder und ich haben uns immer gut verstanden und haben auch jetzt eine sehr enge Bindung und wir wissen immer, wo der andere sich gerade aufhält.«

    »Was macht ihr Bruder beruflich?«

    »Er ist freischaffender Journalist.«

    »Meinen Sie den Oliver Sommerfeld, der kürzlich diesen Umweltskandal aufgedeckt hat? Ich habe darüber gelesen.«

    »Ja, genau den. Glauben Sie mir, mein Bruder ist absolut zuverlässig und wenn er sich nicht meldet, ist ihm bestimmt etwas zugestoßen.«

    »Frau Sommerfeld, ich kann Ihre Sorge gut verstehen. Aber sehen Sie, die meisten vermissten Erwachsenen tauchen nach ein paar Stunden oder Tagen wieder auf und es gibt eine einfache Erklärung für ihr Verhalten: Handy verloren, Akku leer oder einfach nicht daran gedacht, sich zu Hause zu melden.«

    »Das würde Oliver nie passieren! Sein Handy ist ihm heilig. Darin sind alle seine Kontakte, seine Informanten, er ist ständig für sie erreichbar, er kann seinen Akku im Auto aufladen und er würde sein Handy niemals ausschalten!«

    »Ist er mit einem Auto unterwegs gewesen?«

    »Ja, er ist morgens weggefahren. Er hatte einen Arzttermin, danach wollte er wieder nach Hause kommen und an seinem Artikel weiter schreiben, weil der Abgabetermin dieses Mal so knapp ist. Er arbeitet immer von zu Hause aus.«

    »Ist Ihr Bruder krank?«

    »Nein«, winkte Julia ab, »er braucht neuerdings eine Lesebrille und war deswegen beim Augenarzt.«

    »Wissen Sie, ob er den Termin wahrgenommen hat?«

    »Ja, ich habe beim Arzt angerufen und nachgefragt. Er hat die Praxis gegen zehn Uhr verlassen.«

    »Was ist mit einer Freundin?«

    »Er hat keine feste Freundin. Er hat auch nicht viele Freunde, und die paar, die er hat, habe ich alle schon kontaktiert, aber niemand hat ihn gestern gesehen oder mit ihm gesprochen.«

    »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Herrn Sommerfeld?«, fragte die Polizistin, an Benjamin gerichtet.

    »Ach, das ist schon eine ganze Weile her. Zwei Wochen vielleicht.«

    »Sie sind also nur mit Frau Sommerfeld und nicht mit Herrn Sommerfeld befreundet?«

    »Oliver und ich verstehen uns ganz gut, aber ich arbeite zeitweise im Ausland, manchmal ist Oliver unterwegs, wenn ich bei Julia bin.«

    »Sie und Frau Sommerfeld sind ein Paar?«

    »Ja.«

    Dann wandte sie sich wieder an Julia.

    »War er nach dem Arztbesuch noch einmal zu Hause?«

    »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe versehentlich das Küchenfenster weit offen gelassen, bevor ich zur Arbeit gefahren bin. Er hätte es bestimmt zugemacht, wenn er zu Hause gewesen wäre.«

    »Was für ein Fahrzeug fährt Ihr Bruder?«

    »Einen dunkelblauen Volvo Kombi. Das Auto ist auch nicht da!«

    Die Polizistin ließ sich ein Foto von Oliver geben, nahm die Personalien und die Fahrzeugdaten auf, druckte die Anzeige aus und legte sie Julia zur Unterschrift vor. Dann begleitete sie die beiden hinaus und versprach, sich um die Anzeige zu kümmern.

    »Wir werden zunächst überprüfen, ob Ihr Bruder möglicherweise in einen Unfall verwickelt war und wir werden versuchen, sein Handy zu orten. Die meisten Vermisstenfälle gehen gut aus, glauben Sie mir«, versuchte sie Julia zu beruhigen.

    »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!«, mahnte auch ihr Freund, als sie wieder draußen waren.

    »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, Benjamin!«

    6. Juni

    Laura Sander, geb. Hoffmann – da stand ihr Name unter einem schwarz gerahmten Foto. Es war vom letzten Sommer, sie und Sebastian waren gerade auf Hochzeitsreise gewesen, da trug sie ihre rotblonden Haare noch lang, hatte eine leichte Sonnenbräune und Sommersprossen im Gesicht. Es beunruhigten sie aber die Zahlen darunter. Sie sahen aus, als wären es Angaben von Geburts- und Todestag in einer Traueranzeige. Eine Frau, die nur 34 Jahre alt werden durfte. Das Bild stand vor einem geschlossenen, weißen Sarg, auf dem ein riesiger Kranz aus Pfingstrosen lag. Ihre Lieblingsblumen. Auf dem Boden standen noch mehr Kränze und Sträuße, sie las auf den Schleifen immer wieder »Wir werden dich vermissen« oder »Wir werden dich nie vergessen«. Im Hintergrund lief leise Musik, Balladen von Bryan Adams, ihrem Lieblingssänger und auf die Wand hinter dem Sarg wurden Fotos von ihr projiziert, sorgfältig ausgesuchte Bilder aus Kindertagen, von Familienfesten und Schulausflügen, von ihrer Hochzeit, Urlaubsfotos mit Freunden und Familie.

    Nun stand sie hier, vor diesem Sarg und hatte keine Ahnung, was los war. Sie sah sich um, da saßen ihre Eltern, Großeltern und ihre beiden Brüder, Lukas und Leon, Sebastians Eltern, Ingrid und Arthur, seine Schwester Juliane, dahinter ihre vier besten Freundinnen.

    Susanne, Simone, Andrea, Elke und sie waren eine Mädchenclique seit der Schulzeit. Alle hatten verweinte Augen, sogar ihr Bruder Lukas. Sie beide hatten nie ein besonders inniges Verhältnis zueinander gehabt, was an dem großen Altersunterschied von 16 Jahren lag.

    »Was ist hier los?« fragte sie ihren Vater. Sie rüttelte die Trauergäste an der Schulter, aber keiner reagierte darauf. Auch die Menschen im hinteren Teil der Kapelle saßen still da, einige weinten, andere tuschelten leise miteinander. Hinter der letzten Stuhlreihe standen einige uniformierte Polizisten und noch mehr dunkel gekleidete Menschen, sogar draußen vor der Tür standen sie in Zweierreihen, weil der Platz in der Kapelle nicht mehr ausreichte. Laura rannte hinaus.

    »Hallo! Ich bin hier! Warum spricht niemand mit mir?« schrie sie eine junge Frau an. Aber diese kramte weiter in ihrem Rucksack auf der Suche nach einem frischen Taschentuch.

    »Bemühe dich nicht«, sagte ein alter, bärtiger Mann, der etwas abseits auf einem Grabstein saß, »sie sehen und hören dich nicht.«

    »Aber warum sehen Sie mich?« fragte Laura.

    »Weil ich auch tot bin, genau wie du.«

    Jetzt begriff sie es erst: sie war auf ihrer eigenen Beerdigung. Und jetzt sah sie auch, dass sie selbst etwas blass und durchsichtig war, genau wie der Mann, der auf dem Grabstein saß. Neben ihm saß eine durchsichtige Frau, beide hatten Schlafanzüge an. Noch mehr blasse Gestalten standen da und verfolgten neugierig das Geschehen. Einige lächelten müde, einige murmelten, es sei doch immer wieder das gleiche mit diesen Neuen.

    »Wenigstens ist diesmal richtig was los«, sagte ein anderer Mann, er trug einen weißen Anzug mit einem kirschroten Einstecktuch, schwebte ins Innere der Friedhofskapelle und hockte sich mitten in den Gang auf den Boden.

    Offenbar war sie beliebt gewesen. Oder waren die vielen Menschen aus Neugier zur Beerdigung gekommen? Die Erkenntnis, dass es ihre eigene war, musste Laura erst verinnerlichen. Aber wo war ihr Mann Sebastian? Sie hatte ihn weder in der Kapelle, noch draußen gesehen. Sie ging wieder hinein, starrte die Leute reihum an, aber keiner von ihnen war Sebastian. Laura beschloss, an ihrer eigenen Trauerfeier teilzunehmen, um mehr zu erfahren und hockte sich neben den Mann mit dem weißen Anzug.

    »Haben Sie Geduld und passen Sie gut auf, was um Sie herum geschieht«, sagte er in einem väterlichen Ton. »Sie werden irgendwann wissen, warum Sie zwischen den Welten gefangen sind.«

    »Zwischen den Welten? Welche Welten?«

    »Die Welt der Lebenden und die der Toten. Sie haben noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, sonst wären Sie gar nicht hier.«

    Laura verstand nichts davon, beschloss aber, seinem Rat zu folgen und aufmerksam zu beobachten, was geschah, denn gerade ging die Pastorin auf das Rednerpult zu, das neben dem Sarg stand. Die Musik und auch das Stimmengemurmel verstummten allmählich. Stattdessen setzte Orgelmusik ein und die Trauergemeinde stimmte ein Lied an. Danach hielt die Pastorin eine kurze Ansprache, in der es hauptsächlich um Laura und ihre Familie, die glückliche und unbeschwerte Kindheit und die große Liebe ihres Lebens Sebastian ging, eine Liebe die durch einen tragischen Schicksalsschlag viel zu kurz war. Laura versuchte sich zu erinnern, aber es waren nur ein paar bruchstückhafte Bilder in ihrem Kopf. Was war mit ihr passiert? Was war mit Sebastian passiert?

    »Ich erinnere mich nicht mehr an die letzten Tage«, sagte sie leise.

    »Das ist normal«, antwortete der Mann mit dem weißen Anzug, »die Erinnerung kommt wieder. Mit jedem Gesicht, in das Sie blicken, mit jedem Gebäude, vor dem Sie stehen, mit jedem Duft oder Geräusch. Ihre toten Sinne müssen erst wieder erwachen.«

    Die Pastorin hatte ihre Rede beendet. Ihre Freundin Simone stand auf, schritt mit gesenktem Kopf zum Mikrofon und las ein langes Gedicht über Freundschaft vor. Sie kämpfte mit den Tränen und die letzte Strophe war wegen der Weinkrämpfe kaum noch zu verstehen. Es folgte ein weiteres Lied, dann ging ein Mann ans Rednerpult. Er stellte sich den Anwesenden als Ulf Heine, Sebastians Vorgesetzten, vor und hielt zunächst eine Lobrede auf Sebastian, Laura und ihre private Freundschaft. Er machte noch mehr Andeutungen auf ihr viel zu kurzes Leben, das so tragisch endete, offenbar wussten alle Anwesenden, was er meinte – nur sie nicht.

    Ein anderer Mann betrat nun das Rednerpult, Laura war aufgefallen, dass er auf dem Weg dahin humpelte.

    »Mein Name ist Christian Hollweck. Sebastian und ich sind langjährige Partner und enge Freunde. Wenn Lauras Auto an jenem Morgen nicht kaputt gegangen wäre, dann läge vielleicht ich jetzt in diesem Sarg.«

    Laura horchte auf.

    »Wie ihr wisst, arbeiten wir bei der Polizei. Wir sind einem gefährlichen Schmugglerring auf der Spur und wir vermuten, dass der Anschlag auf Sebastians Auto auf deren Konto geht. Wir müssen es nur noch beweisen…«

    Sebastian und sie arbeiteten beide bei der Polizei, fiel Laura wieder ein. Sie arbeitete in der Personalverwaltung, er war Kriminaloberkommissar in der Abteilung Rauschgiftdelikte. Normalerweise fing ihr Dienst früher an als seiner und daher fuhren sie niemals zusammen zur Arbeit. An diesem Morgen machte ihr Auto komische Geräusche, es stank und qualmte aus dem Motorraum und so beschloss Sebastian, Laura zur Arbeit zu fahren und in der Stunde bis zu seinem Dienstbeginn seinen liegengebliebenen Bürokram zu erledigen. Die Fahrgemeinschaft mit Christian sagte er für diesen Tag ab.

    Ihr Haus stand auf einer Anhöhe, in einer kopfsteingepflasterten Sackgasse, welche in eine stark befahrene, vierspurige Straße mündete. Als Sebastian bergab fuhr, merkte er, dass die Bremsen nicht funktionierten, das Auto immer mehr an Tempo zulegte, er konnte an der roten Ampel nicht anhalten, wurde beim Einfahren in die Hauptstraße von einem PKW erfasst und gegen einen LKW auf der Linksabbiegerspur geschleudert. Sie sah plötzlich Sebastians blutverschmiertes Gesicht, hörte sein schmerzvolles Stöhnen und die Geräusche der Straße, das Hupkonzert hinter der Unfallstelle und das Martinshorn. Das letzte woran Laura sich erinnerte, waren die Worte des Notarztes, der sie fragte, ob sie wisse, wie sie heiße und was passiert sei. Darauf konnte sie ihm aber keine Antwort mehr geben.

    Ein Autounfall hatte ihr eigenes Leben beendet. Aber wo war Sebastian?

    »…die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.«

    Die letzten Worte der Pastorin rissen Laura aus ihren Gedanken.

    Die Trauergemeinde bahnte sich langsam ihren Weg durch die Friedhofspfade. Es war ein langer Weg bis zum Grab, Laura lief nebenher und schaute sich die Leute reihum an, in der Hoffnung, etwas zu entdecken, das ihrer Erinnerung auf die Sprünge half. Die meisten Gesichter konnte sie vage ihrem Bekanntenkreis zuordnen: da waren ein paar Frauen aus ihrem Fitnesskurs, einige Nachbarn, Kollegen. Die junge Frau, die sie vor der Kapelle angeschrien hatte, war eine neue Kollegin, sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich richtig kennen zu lernen.

    Einige der Leute kannte sie sogar mit Namen. Da war zum Beispiel die Familie Möller, die Mieter der anderen Doppelhaushälfte neben ihren Eltern. Und Sebastians bester Freund Daniel mit seiner Frau Astrid. Nach der Beerdigung strömten alle in die nahegelegene Gastwirtschaft, in der das Totenmahl stattfand. Nachbarn und Kollegen waren mitgegangen, die Freundinnen und die ganze Familie. Die Stimmung war bedrückend, ihre Eltern hielten sich die ganze Zeit fest an den Händen, als ob sie Angst hätten, sonst einander zu verlieren. Die Menschen saßen oder standen in Grüppchen beisammen, einige kamen, um ihren Eltern und Brüdern noch einmal ihr Beileid auszusprechen und immer wieder zu betonen, wie sehr sie Laura vermissen werden.

    Diese beobachtete das Geschehen erst aus sicherer Entfernung von der Tür aus. Trauergäste betraten und verließen den Raum, ohne sie wahrzunehmen. Die Bedienung war mehrmals an ihr vorbeigelaufen, ohne auf sie zu achten.

    Als Laura sich sicher war, dass wirklich niemand sie sehen konnte, ging sie durch den Raum und belauschte die Gespräche. Die Leute redeten über alltägliche Dinge wie ein neues Auto, Urlaubspläne für die nahenden Sommerferien, Eheprobleme. Die meisten Gespräche drehten sich aber um sie selbst, um den Unfall und um Sebastian - der im Koma lag.

    Lauras Schwiegereltern und Juliane waren die ersten, die diese traurige Veranstaltung wieder verließen. Laura vermutete, dass sie ins Krankenhaus fahren würden, um Sebastian zu besuchen. Es war ihre Chance, herauszufinden, wo er sich aufhielt und wie es um ihn stand. Im letzten Augenblick konnte sie sich auf die Rücksitzbank flüchten, bevor Juliane die Autotür zuknallte.

    Wie erwartet, bog Arthur in Richtung Klinikum ab und steuerte den erstbesten Parkplatz an. Laura folgte ihnen und versuchte, sich den Weg einzuprägen, um beim nächsten Mal auch alleine hierher zu finden. Vor dem Krankenzimmer saß ein uniformierter Polizist und bewachte die Tür. Stand Sebastian unter Polizeischutz, weil man einen erneuten Anschlag auf ihn befürchtete? Aus dem Zimmer kam gerade ein Pfleger. Als er die Besucher entdeckte, blieb er stehen und sagte:

    »Es gibt Neuigkeiten, Sie sollten unbedingt mit dem Oberarzt sprechen. Ich sage ihm, dass Sie hier sind.«

    Sebastians Mutter eilte daraufhin ins Zimmer, nahm seine Hand und streichelte sie.

    Laura sah Sebastian an. Er war verändert. Seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe war blass geworden und er hatte mehr graue Strähnen als sonst. Seine langen, schlanken Finger wirkten dünn und knöchern. Sie hatte im Vorbeifahren an einer Apotheke das Datum und die Uhrzeit gesehen: es war der 6. Juni 2014. Zwischen ihrem Todestag und der Beerdigung waren etwas mehr als 3 Wochen vergangen. Seit dieser Zeit also lag Sebastian im Koma.

    Laura erinnerte sich plötzlich daran, dass der 7. Juni eine Bedeutung für sie hatte, sie wusste aber nicht, was genau. Vielleicht müsste sie den morgigen Tag noch auf der Erde erleben, um das Ereignis nicht zu verpassen, das an diesem Tag stattfinden sollte. Nur was?

    ***

    Es klopfte kurz an der Tür und der Oberarzt betrat schwungvoll den Raum, kam auf die Besuchergruppe zu, gab allen außer ihr die Hand und fragte, ob sie gerade von der Beerdigung kämen.

    »Ja«, sagte Juliane, »es war eine sehr schöne Trauerfeier. Es waren so viele Menschen da, ich wusste gar nicht, dass Laura so viele Bekannte hatte. Wenn sie das gesehen hätte, wäre sie bestimmt erstaunt gewesen.«

    Und wie, dachte Laura.

    »Es gibt leider schlechte Nachrichten«, sagte der Oberarzt dann und sah in Sebastians Krankenakte. »Die Schwellung des Gehirns geht nur sehr langsam zurück. Wir werden das künstliche Koma verlängern müssen.«

    »Was heißt das genau?«, fragte Ingrid.

    »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Frau Sander, so tragisch der Tod Ihrer Schwiegertochter auch ist, aber ihr ist das erspart geblieben, was Ihren Sohn erwartet. Er wird für den Rest seines Lebens ein Pflegefall sein, er wird nie wieder sprechen können, nie wieder laufen, nicht mehr alleine atmen. Durch die Schädigung des Gehirns könnte er seine restlichen Lebensjahre im Wachkoma verbringen. Es tut mir sehr Leid, Ihnen das sagen zu müssen.«

    Laura war geschockt! Der sonst so aktive und lebenslustige Sebastian sollte nie wieder ein normales, eigenständiges Leben führen? Nie wieder Sport treiben? Nie wieder reisen? Nie wieder mit ihr und Freunden feiern? Ingrid weinte leise und streichelte immer wieder Sebastians Hände. Laura stand auf der anderen Seite des Bettes und berührte seine Haare, konnte aber nichts spüren. Ihre Sinne waren noch nicht wieder ganz funktionsfähig. Sie beschloss, ein anderes Mal wiederzukommen und zu versuchen, Zwiesprache mit Sebastian zu halten. Manchmal hatten sie sich ohne Worte verstanden, vielleicht klappte es auch jetzt. Der Arzt verließ den Raum und Laura nutzte diese Gelegenheit zum Verschwinden. Draußen fiel ihr ein nervöser Mann auf, der aus dem Aufzug stieg, sich kurz umsah und sofort kehrt machte, als er die Wache erblickte. Sie rannte die Treppe hinunter und konnte noch sehen, wie er in einen wartenden schwarzen BMW stieg, sich kurz mit dem Fahrer unterhielt und das Auto dann rasch davon fuhr. Vielleicht hatten diese beiden Männer etwas mit dem Unfall zu tun.

    ***

    Laura ging wieder zurück zum Friedhof. Manchmal waren ihre Schritte fest, manchmal schwebte sie über dem Boden. Einmal sah sie einen Mann, der auch so durchsichtig war wie sie, er hatte Laura aber nicht bemerkt, denn er stand mit dem Rücken zur Straße und betrachtete das Schaufenster eines Ladens, das gerade umdekoriert wurde. Er lächelte wehmütig. War auch er auf der Suche nach seiner letzten, unerledigten Aufgabe? Welche Rolle spielte dieser Laden? Welches war ihre letzte Aufgabe? Ging es nur darum, den 7. Juni zu erleben oder hatte sie noch etwas Wichtigeres zu erledigen? Laura überlegte fieberhaft, ob es in ihrem Leben etwas gab, was sie unbedingt erreichen wollte? Oder gab es einen Ort, den sie unbedingt sehen wollte? Ihr fiel nichts ein. Es machte auch keinen Sinn, denn bei allem, was sie noch vorgehabt hätte, wäre Sebastian mit von der Partie gewesen und das ging ja nun nicht mehr. Hatte sie vielleicht jemandem Unrecht getan oder ein Versprechen nicht eingelöst? War es ihre letzte Aufgabe, etwas gut zu machen, was sie zu Lebzeiten nicht mehr geschafft hatte? Oder spielte ihre Familie eine Rolle dabei? Der Mann mit dem weißen Anzug hatte gesagt, dass sie nur Geduld haben müsse, ihre Erinnerung käme Schritt für Schritt wieder.

    Auf dem Friedhof musste sie ihr Grab gar nicht erst suchen, wie durch eine magische Anziehungskraft ging sie durch die Reihen. Einige durchsichtige Gestalten saßen auf den Grabsteinen oder standen in Grüppchen zusammen. Der Mann mit dem weißen Anzug lehnte an einem Baumstamm und starrte auf einen unfertigen Grabstein.

    Als Laura an ihm vorbei kam, fragte er freundlich lächelnd:

    »Fühlen Sie sich schon heimisch?«

    »Noch nicht so ganz«, sagte sie und lächelte zurück. »Warum tragen Sie eigentlich einen weißen Anzug?«

    »Aus dem gleichen Grund, warum viele hier einen Schlafanzug tragen und Sie eine weiße Jeans, eine geblümte Bluse und eine hellblaue Lederjacke. Steht Ihnen gut!«

    »Sie meinen, jeder behält die Kleidung, die er bei seinem Ableben getragen hat?«

    »Ja.«

    Laura dachte daran, dass Sebastian bloß nicht sterben durfte, solange er noch das Krankenhaushemd trug, das hinten offen war.

    »Wieso ein weißer Anzug?«

    »Ich war Schauspieler. Ich hatte einen Herzinfarkt während der Generalprobe.«

    »Welche Rolle haben Sie gespielt?«

    »Die eines alternden Gigolo.«

    Laura musste lachen, denn diese Rolle passte so gar nicht zu seiner gutmütigen, väterlichen Art.

    Eine ältere Frau gesellte sich zu ihnen, sie war im Schlaf gestorben, denn sie war barfuß, trug ein Nachthemd und ein Haarnetz über den Lockenwicklern. Sie kam Laura irgendwie bekannt vor.

    »Was ist mit Ihnen passiert?«

    »Mein Mann und ich hatten einen Autounfall, er liegt noch im Koma.«

    »Das tut mir Leid. Wird er überleben?«

    »Ich weiß es nicht.«

    »Vielleicht warten Sie ja hier auf ihn!«

    »Wieso?«

    »Nun, Sie sind ja nicht umsonst zwischen den Welten gefangen. Sie haben eine Aufgabe zu erfüllen. Das könnte eine sein.«

    »Das würde aber bedeuten, dass ich noch sehr lange hier wäre.«

    »Schon möglich. Fragen Sie doch mal den Dietmar, der wird noch ein paar Monate hier sitzen.«

    Ohne eine weitere Erklärung drehte sie sich um und ging weiter. Der Mann mit dem weißen Anzug war auch verschwunden und so schwebte Laura hinüber bis zu ihrem Grab. Zwei Friedhofsbedienstete waren gerade damit beschäftigt, die vielen Kränze und Blumen auf dem frisch aufgeschütteten Erdhaufen zu verteilen, einer schlug mit einem großen Gummihammer ein weißes Holzkreuz in den Boden, auf dem in schwarzen Lettern ihr Name, ihr Geburtstag und ihr Todesdatum standen.

    »Die arme Frau, noch so jung«, murmelte er und bekreuzigte sich. »Wer weiß, ob sie das Schwein jemals kriegen.«

    Laura las die Inschriften auf den Bändern noch einmal. Der schönste Kranz war von ihrer Familie: weiße und rosafarbene Pfingstrosen. Ihre Schwiegereltern hatten sich für weiße Lilien entschieden und ihre besten Freundinnen für bunte Sommerblumen. Auf dem Grab neben ihr stand ein riesiger Blumenstrauß und auf einem Gedenkstein war ein sehr persönlicher Spruch graviert. Ihr Nachbar war auch sehr jung gestorben, er hatte seinen dreißigsten Geburtstag vor ein paar Wochen gerade noch erleben dürfen. Laura war schon gespannt, ihn kennen zu lernen und seine Geschichte zu erfahren. Er hieß Dietmar und wenn es der Dietmar war, von dem die alte Frau gesprochen hatte, dann würde er noch mehrere Monate hier auf dem Friedhof verbringen.

    Weil ihr langweilig war, beschloss Laura, sich noch ein wenig auf dem Friedhof umzusehen. Sie war schon oft hier gewesen, an den Gräbern ihrer verstorbenen Großeltern mütterlicherseits und Sebastians Tante Hildegard, von der er vor knapp drei Jahren das Haus geerbt hatte. Sie war kinderlos und Sebastian war ihr Lieblingsneffe gewesen. Die anderen waren auch nicht leer ausgegangen, aber auf das Haus hatten viele spekuliert. Die anderen hätten es meistbietend verscherbelt, ruhige Innenstadtlage war bestimmt ein Vermögen wert, selbst in dem abgewohnten Zustand, in dem sie es hinterlassen hatte. Sebastians Herz hing an diesem Haus, und Hildegard wusste das auch.

    Laura sah den Friedhof nun mit ganz anderen Augen. Früher waren es Namen und Jahreszahlen gewesen, gelegentlich ein Foto auf einem Grabstein und ein flüchtiger Eindruck, den ein besonders schön gepflegtes oder ein stark vernachlässigtes Grab im Vorbeigehen hinterlassen hatte. Jetzt waren es Lebensgeschichten hinter den vielen durchsichtigen Gestalten, die hier weilten.

    Die alte Frau mit dem Haarnetz saß auf einer Bank und rief einer anderen Frau zu:

    »Er ist jetzt weg, er hat es geschafft!«

    »Wer?«

    »Na der Gregor.«

    »Was ist Ihr Auftrag?« fragte Laura die Frau auf der Bank. Sie überlegte fieberhaft, woher sie sie kannte.

    »Ich weiß es noch nicht, aber der Gregor hat es jetzt geschafft!«, sagte sie noch einmal. »Warum sind Sie so jung gestorben? Waren Sie krank?«

    »Nein, ich hatte einen Autounfall«, sagte Laura. Diese Frau hatte anscheinend nicht mehr das beste Gedächtnis.

    »Da ist heute eine junge Frau beerdigt worden, die wurde ermordet!« Das klang sehr brachial. Natürlich war der Unfall genaugenommen ein Mordanschlag. Aber wie diese Frau das sagte, hörte es sich an, als sei sie hinterrücks gemeuchelt worden.

    »Ich weiß. Das bin ich. Ich bin die, die heute beerdigt wurde« sagte Laura noch einmal. Die alte Frau hatte vergessen, dass sie ihr vor ein paar Minuten schon von dem Unfall erzählt hatte.

    »Ach, Sie sind das? Das ist ja ein Ding! Wissen Sie was, Sie müssen bestimmt Ihren Mörder finden!« rief sie enthusiastisch, obwohl sie vorher noch davon überzeugt war, dass Laura hier auf Sebastian warten müsste.

    »Das glaube ich nicht, das wird die Polizei schon erledigen. Verdächtige gibt es ja bereits!«

    »Aber einen Grund hat es ja, dass Sie noch nicht nach drüben dürfen. Der Gregor, der hat es geschafft!«

    Bevor die Frau näher auf diesen Gregor eingehen konnte, ging Laura zurück zu ihrem Grab und wartete auf ihren Nachbarn.

    Es dauerte gar nicht so lange, bis er kam. Auch er trug einen Schlafanzug und war barfuß. Seine Haare waren ausgefallen, das Gesicht hager und blass, er winkte Laura schüchtern zu und setzte sich auf seinen Grabstein.

    »Ich bin Laura, ich bin neu hier.«

    »Ich bin Dietmar«, sagte er. »Du hattest eine schöne Beerdigung, erzählt man sich.«

    »Na ja, was ist schon eine schöne Beerdigung? Es waren viele Leute hier, es wurden sentimentale Reden gehalten. Findest du das schön?«

    »Ja, schon. Das ist das Gute, wenn man jung stirbt. Da gibt's noch viele Verwandte und Freunde, die kommen. Stimmt es, dass du ermordet wurdest?«

    »Genau genommen ja. Jemand hat einen Anschlag auf das Auto meines Mannes und seines Kollegen verübt. Nur leider saß ich in dem Auto drin. Mein Mann ist, na ja, er war Polizist.«

    »Ist er auch gestorben?«

    »Nein, er liegt seit dem Unfall im Koma. Der Arzt sagte, dass er nie wieder gesund werden wird.«

    »Das ist ein gefährlicher Beruf. Würde ich niemals machen.«

    »Was hast du denn beruflich gemacht?«

    »Ich habe noch studiert. Medizin. Aber ich konnte mein Studium wegen meiner Krankheit nicht so konsequent durchziehen.«

    »Was hattest du?«

    »Leukämie. Wurde im fünften Semester festgestellt.«

    »Das tut mir Leid!« sagte Laura mitfühlend.

    »Nun, ich konnte mich wenigstens auf den Tod vorbereiten. Du nicht.«

    »Stimmt auch wieder. Aber ich glaube, es stirbt sich dadurch nicht leichter.«

    »Keine Ahnung, ich habe ja keinen Vergleich. Aber meine Frau hatte viel mehr Angst vor dem Tod als ich.«

    »Stimmt es, dass du noch monatelang hier auf dem Friedhof warten musst?«

    »Mmmhmmm…«. Er nickte. »Ich werde Vater. Ich habe mir so sehr gewünscht, mein Kind wenigstens einmal zu sehen, bevor ich sterbe. Meine Frau ist jetzt im fünften Monat schwanger. Ich warte also auf die Geburt meines Kindes. Und du?«

    »Ich weiß es nicht, ich suche noch einen Anhaltspunkt.«

    »Vielleicht musst du deinen Mörder finden«, sagte Dietmar.

    »Das hat die alte Frau da drüben auch gesagt.« Laura drehte den Kopf in die Richtung, wo sie sich mit ihr unterhalten hatte. »Ach übrigens, Gregor ist jetzt weg. Falls du es noch nicht mitbekommen hast.«

    »Aha…«, sagte Dietmar, auch ihn schien dieser Gregor nicht zu interessieren.

    »Woran merkt man, dass jemand seinen letzten Auftrag erledigt hat?«

    »Schau dich mal um, einige Gräber umgibt ein leichter Schimmer, das heißt, dass derjenige noch hier weilt. Wenn der Auftrag erledigt ist, verschwindet der Schimmer.«

    Laura blickte über den Friedhof und tatsächlich leuchteten einige Gräber auf sonderbare Weise.

    »Warum bist du jetzt nicht bei deiner Frau?«

    »Es geht nicht. Wenn man seinen letzten Auftrag nicht gleich erledigen kann, muss man die Hälfte seiner Zeit auf dem Friedhof verbringen, die andere Hälfte darf man sich außerhalb frei bewegen. Dann bin ich immer bei meiner Frau. Ich beobachte sie, wie sie ihr neues Leben meistert. Sie ist sehr tapfer. Sie stürzt sich in Arbeit, um sich abzulenken. Aber sie weint auch viel, wenn sie alleine ist.«

    »Was meinst du mit Hälfte der Zeit?«

    »Die Zeit deiner Abwesenheit musst du anschließend hier absitzen. Bist du zwölf Stunden weg, musst du die nächsten zwölf Stunden hierbleiben. Bleibst du 3 Tage weg, sitzt du die nächsten 3 Tage hier fest.«

    »Wer will denn kontrollieren, wie lange wir uns draußen aufgehalten haben?«

    »Keine Ahnung, vielleicht der Schwarze Mann«, lachte Dietmar. Laura fand das albern. Sie glaubte nicht an den unheimlichen Schwarzen Mann. Wer sollte das sein? Andererseits hatte sie früher auch nicht an Geister geglaubt und war nun selbst einer.

    »Alle halten sich an diese Regel. Aber keine Sorge, die Zeit hier vergeht schnell. Es ist immer was los. Tagsüber sind die Trauerfeiern und Beerdigungen, dann kommen die trauernden Verwandten und bringen Blumen und nachts treiben sich hier Jugendliche herum, die sich und anderen ihren Mut beweisen müssen.«

    »Auf geht’s«, sagte Laura, »lass uns jemanden erschrecken.« Ihre Unternehmungslust war geweckt.

    »Heute nicht, vielleicht ein anderes Mal.« Er schloss die Augen und Laura verstand, dass er jetzt mit sich und seinen Gedanken alleine sein wollte. Da sie noch keinen Grabstein hatte, suchte sie sich eine Bank, setzte sich hin, dachte nach und vergaß die Zeit.

    ***

    Benjamin zerrte eine junge, zierliche Frau die Treppe hinauf. Obwohl sie sich bemühte, schnell zu gehen, immer zwei Stufen

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