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Die erste Tochter
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eBook329 Seiten4 Stunden

Die erste Tochter

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Über dieses E-Book

Der reiche Geschäftsmann Maschmann wird in seinem Landhaus in Apensen tot aufgefunden, gestorben durch eine Kugel aus seiner eigenen Pistole, mit einem Stempelabdruck gebrandmarkt. Derselbe Stempelabdruck auf dem Bauch eines ehemaligen, dementen Richters weist auf eine Verbindung zwischen den beiden Männern hin.
Hauptkommissar Michael Andersen und sein Team gehen jeder Spur nach. Als Oberkommissarin Janne Rosengart die Computerzentrale des Toten entdeckt, die Inschrift des Stempels enträtselt und zwei Fotos von einer Frau und ihren beiden Kindern auftauchen, bekommen die Ermittlungen neuen Schub. Die junge Frau, die mit Janne Rosengarts letztem Fall beim Drogendezernat Hamburg zusammenhängt, kontaktet sie und enttarnt ihren Freund als Drogendealer, nachdem sie mit dessen Geld geflüchtet ist. Da sie sich nun in Lebensgefahr befindet, werden auch das Drogendezernat und das Landeskriminalamt Hamburg eingeschaltet. Oberkommissarin Rosengart und ihr Partner geraten ins Visier der unbekannten Gegenspieler und die lassen nicht mit sich spaßen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Apr. 2020
ISBN9783347042629
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    Buchvorschau

    Die erste Tochter - Helgard Heins

    Kapitel 1

    1. Tag – 15.12.

    Mit einer neuen Leichtigkeit eilte Janne Rosengart die Stufen zum roten Backsteingebäude der Polizei hinauf, da gleich zwei Bürden von ihr abgefallen waren, und zwar war sie ihr Hühnerauge sowie dessen Verursacher und ihren Mann losgeworden. Und ihre neuen Stiefel waren ganz nach ihrem Geschmack, lautlos, leicht, elastisch und somit bestens geeignet, die Stufen förmlich hinauf zu schweben.

    Drinnen streifte sie die Kapuze zurück und ihre kastanienroten Locken quollen befreit hervor. Sie nahm die schmale, schwarzrandige Brille ab und putzte sie eifrig mit einem Papiertaschentuch. Trotz ihres für Rothaarige ungewöhnlichen leicht bräunlichen Teints waren vorwitzige Sommersprossen über die feine Nase und die klaren Konturen ihrer Wangen verteilt. Schließlich setzte sie die Brille auf, ging zu der jungen Polizeibeamtin in der Wache und fragte nach dem Zimmer des Chefs, worauf sogleich die unvermeidliche Frage folgte, ob sie einen Termin habe.

    „Ja, ich habe mich leider verspätet", sagte sie und stellte sich vor. Die Polizeimeisterin Anja Weinhardt begrüßte sie freundlich und wies ihr den Weg.

    Der Polizeirat blickte auf die Uhr, als Janne an seine Tür klopfte und kurz darauf eintrat. Sie fasste es sogleich als Ermahnung auf und so war es auch gemeint. Er war zurückhaltend gegenüber seinem Team, was sie bald erfahren sollte. Disziplin und Effizienz, das betonte er bei jeder Gelegenheit, waren für ihn das höchste Gebot. Mit Verachtung dachte er an seinen Vorgänger Richard Bauer und seinen allzu vertraulichen Umgang mit seinen Untergebenen. Und der hatte seiner Meinung nach viel zu lange auf dem Posten gesessen, den er, Dierk Jansen, seit Jahren besser ausgefüllt hätte.

    Er überließ es nach kurzen Begrüßungsworten der Personalamtsleiterin Pfeiffer, die üblichen Einstellungsformalitäten zu erledigen und sie im Haus bekannt zu machen.

    Während sie sich mit den Spezialisten der Spurensicherung, Stefan Utterson und Ludwig Kessner, unterhielten, hörten sie vom Parkplatz mehrere Streifenwagen mit Sirenengeheul abfahren. Das Geräusch entfernte sich schnell.

    Aus dem Büro von Oberkommissarin Cornelia Seefeld und Hauptkommissar Klaus Danner dröhnte eine tiefe, schimpfende Stimme. Dennoch klopfte Frau Pfeiffer kurz an und machte die Tür einen Spalt auf. Janne erspähte einen kräftigen, blonden Mann mit beängstigend roter Gesichtsfarbe, der den beiden Gestalten, die mit dem Rücken zur Tür saßen, gerade eine Wohnungsdurchsuchung androhte. Der kleine Mann beschwerte sich daraufhin über die ständigen Beschuldigungen und beteuerte ihre Unschuld. Der große, breite Mann nickte zustimmend. Cornelia Seefeld kam zu ihnen heraus. Sie war im Kommissariat beliebt und wurde von allen nur Nellie genannt. „Schön, dass Sie da sind, begrüßte sie Janne herzlich und erklärte ihr, womit sie sich gerade beschäftigten: „Wir haben im Moment mit einer Einbruchsserie zu tun, die äußerst arbeitsaufwendig ist, und weil wir auf der Stelle treten, hat Klaus mal wieder unsere beiden Experten vorgeladen. Patrick Mielke und Guido Lehmann kennen sich aus ihrer Sandkistenzeit und haben den anderen Kindern schon damals ihre Plastikeimer und - schaufeln geklaut. Seitdem haben sie oft gesessen, aber sie sind eben unverbesserlich. An diesem letzten Einbruch sind sie wahrscheinlich unschuldig. Na, wir sehen uns. Im Hineingehen wies sie mit dem Kopf auf das nächste Büro. Da braucht ihr nicht zu klopfen, unser Frischling ist noch im Außendienst, müsste aber bald wieder da sein. Der Frischling namens Thomas Vandenpol würde ihr Partner sein. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit seine kriminalistische Ausbildung abgeschlossen und war kurz von ihrem Vorgänger eingearbeitet worden, bevor der vor einem Monat in Pension gegangen war.

    Der Polizeirat und Hauptkommissar Michael Andersen unterbrachen ihr Gespräch, als Janne eintrat. Andersen begrüßte sie und bat sie, sich einen Augenblick zu setzen. Sie nutzte die Gelegenheit, ihn heimlich zu beobachten, denn die beiden Männer vertieften sich wieder in ihr Gespräch. Sie waren fast gleich groß, aber Michael Andersen hatte breitere Schultern und war um einiges jünger. Einige Strähnen seines braunen Haares fielen in die Stirn und verliehen seinem schmalen Gesicht ein lässiges Aussehen. Aber auch er schaute zu ihr hinüber und als ihre Augen sich trafen, wandte er sie schnell wieder ab. Dieser Blick aus dunklen, blauen Augen traf sie bis ins Innerste und verwundert gestand sie sich ein, dass sie so ein Gefühl der Wärme lange nicht mehr verspürt hatte. Sie stellte sich sein Lächeln vor, aber er blieb ernst.

    Das Gespräch war immer noch nicht zu Ende und so nahm sie gelangweilt die Zeitung von Andersens Tisch, schlug sie auf und stutzte, als sie den Artikel mit einem großen Foto sah, in dessen oberer Ecke sich eine Verkleinerung des Fotos befand, mit dem sie selbst noch bei ihrer letzten Dienststelle die Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifizierung des jungen Mannes gebeten hatte, der tot in der Herrentoilette des Hauptbahnhofs gefunden worden war. Das große Foto kannte sie bisher nicht, es war ziemlich dunkel und verschwommen und zeigte eine laufende Frau mit heller Jacke und langen, blonden Haaren. Bei diesem Artikel handelte es sich um einen weiteren Aufruf an die Bevölkerung. Als hätte er es geahnt, rief in diesem Moment Hauptkommissar Forner vom Drogendezernat in Hamburg sie auf ihrem Handy an.

    Janne legte die Zeitung ab und fragte: „Wolfgang, was gibt’s?"

    „Schon angekommen?"

    „So halb, in meinem Büro war ich noch nicht. Aber ich habe gerade euren Aufruf gesehen. Woher habt ihr das Foto?"

    „Hat ein Passant zufällig geschossen. Ich glaube, die Frau auf dem Foto hat angerufen und wollte dich sprechen. Als ich ihr sagte, dass du nicht mehr hier bist, hat sie nach der Freigabe des toten Jungen gefragt. Und obwohl ich ihr gesagt habe, dass der Tod des Jungen nicht so ohne weiteres beurkundet werden kann, wenn wir nicht wissen, wer er war, hat sie nach einer Minute des Überlegens einfach aufgelegt. Aber deswegen rufe ich nicht an. Hühnchen jammert mir die Ohren voll, weil sie einen Fehler gemacht hat und ich es dir unbedingt irgendwie beibringen soll." Janne lachte. Frau Henne alias Hühnchen war seine Dezernatssekretärin.

    „Was hat sie denn angestellt?"

    „Sie hat deine Handy-Nummer an eine angebliche Freundin von dir herausgegeben, die dich nicht erreichen kann, weil sie ihr Handy und somit deine Nummer verloren hat. Hühnchen hat sich in ihrer Leichtgläubigkeit erweichen lassen und erst Panik gekriegt, als ich ihr weisgemacht habe, dass die Anruferin vielleicht die gesuchte Frau war."

    Jansen hatte inzwischen das Büro verlassen und Janne beendete das Gespräch, als Nellie ihren Kopf in die Tür steckte und einen Toten in Apensen meldete. „Luke und Stefan sind schon los, Vandenpol ist noch nicht zurück."

    „Dann wartest du und kommst mit ihm nach. Ich nehme Frau Rosengart mit. Alles weitere nachher."

    Die Straße „Schmaler Weg" war bis zur Bebauungsgrenze links und rechts mit neuen Einfamilienhäusern bestanden und war, wie der Name besagte, eine schmale, asphaltierte Straße, die zu einem großen Gebäudekomplex etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes führte und dahinter in einem Sandweg auslief, der irgendwo in der Landschaft endete. Der Tatort war bereits großflächig mit weißrotem Flatterband abgesperrt und durch Streifenwagen zugeparkt. Vor dem Wohnhaus und den daneben liegenden Garagen befand sich ein mit verblühten Rosen bepflanztes Rondell, um das man herumfahren konnte. Hinter dem Haus erstreckten sich ausgedehnte Stallungen, eine große Scheune, zwei Reithallen, ein Springplatz und ein Dressurviereck. Die Koppeln waren mit weißen, hohen Lattenzäunen versehen, die einen stabilen Eindruck machten. Das ganze Anwesen machte einen soliden Eindruck und zeugte von Reichtum. Die Zufahrt zum Reiterhof war abgesperrt. Janne erkannte von weitem Anja Weinhardt, die mit einem Kollegen die eintreffenden Pferdebesitzer abfing.

    Andersen und Janne zogen weiße Spezialoveralls an und streiften vor der Haustür Plastiküberzieher über die Stiefel. Halb saß, halb lag der Tote auf einem Sessel im Wohnzimmer in Richtung Fensterfront. Es war von draußen durch die bis nach unten reichenden Scheiben nicht zu übersehen gewesen, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben war. Auf der weißen Hemdbrust prangte ein großer dunkelroter Blutfleck. Ein paar Knöpfe an Hemd und Hose waren geöffnet. Für die Spurensicherung war es ein Glück, dass die Sekretärin den Toten von draußen entdeckt und somit niemand vor ihnen den Tatort betreten hatte.

    Das Zimmer war durch Strahler hell erleuchtet und zwei Beamte fotografierten und filmten den Tatort und jedes mit Spurentafeln gekennzeichnete Detail. Der Notarzt füllte bereits den Totenschein aus. Stefan und Luke hatten ihre Laborkoffer abgestellt und suchten nach Spurenmaterial und Fingerabdrücken. Janne spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Sie hatte schon viel schlimmer zugerichtete Opfer gesehen, aber das hatte sie nicht abstumpfen lassen. Sie rief sich zur Ordnung, schaltete die Gedanken der Bestürzung aus und begann, das Bild in sich aufzunehmen und sachlich zu betrachten.

    „Wer hat ihn eigentlich gefunden, wer ist der Mann, wisst Ihr schon mehr?", wandte Andersen sich an Luke, den erfahrenen Spezialisten für Spurensicherung.

    „Gefunden hat ihn die Sekretärin des Geschäftsführers seiner Immobilienfirma, die zunächst so geschockt war, dass Anja Weinhardt sie mit Tee und Cognac beleben musste."

    „Gut zu wissen. Hat sie den immer dabei?"

    Luke schmunzelte und fuhr fort: „Der Mann heißt Gerd Maschmann, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dieses Anwesen gehört ihm und noch viel mehr. Er hat mehrere Fabriken, Immobilien und Beteiligungen an Firmen. Einzelheiten müssen wir noch herausfinden. Er soll sehr wohlhabend sein."

    „Das ist eine Aufgabe für Danner, Wirtschaft ist ja sein Spezialgebiet. Ich ruf ihn gleich an."

    Anja Weinhardt klingelte an der Haustür und berichtete, dass der Prokurist seine Sekretärin beauftragt hatte, nach dem Chef zu sehen, weil der weder telefonisch erreichbar, noch zu einer wichtigen Vertragsunterzeichnung erschienen war. Nachdem er auf ihr Klingeln nicht geöffnet hatte, war sie ums Haus gegangen und hatte den Toten entdeckt. Da hatte sie sofort die Polizei angerufen. „Das war’s", schloss sie ihren Bericht und gab ihm einen Zettel mit dem derzeitigen Aufenthaltsort der Familie des Toten.

    Sie berichtete noch, dass die Dorfbewohner eher zurückhaltend waren, nur ein paar zufällige Spaziergänger gingen trotz des ungemütlichen Wetters mit ihren Hunden vorbei. Keiner stellte sich neugierig an die Absperrung. Besucher der Reithalle und Leute, die ihre Pferde dort eingestellt hatten, mussten sich ausweisen und wurden nicht auf die Reitanlage vorgelassen. Einige zeigten Verständnis und Betroffenheit, andere waren nur ärgerlich, dass ihnen der Zutritt verwehrt wurde.

    „Ihr macht eine Namensliste mit aktuellen Telefonnummern, oder? Und fragt sie gleich, ob sie gestern Abend hier waren und etwas Ungewöhnliches bemerkt haben, auch die Spaziergänger."

    „Ja, wir befragen sie sowieso. Können wir die Sekretärin nach Hause schicken? Sie ist völlig fertig."

    „Wenn sie wieder fahrtüchtig ist, dann ja. Sonst soll sie einer zurückfahren. Wir werden sie noch mal vorladen."

    „In Ordnung."

    Während Andersen mit ihr sprach, zog Janne Handschuhe an und untersuchte kurz alle Räume, um einen Überblick zu bekommen. Im Flur fand sie einen Waffenschrank, der Schlüssel steckte und die Tür war nur angelehnt, im Arbeitszimmer entdeckte sie ein Kabel, dass noch in der Dose steckte, aber es fehlte ein Computer oder Laptop. Alle anderen Räume waren unauffällig. Die Betten im ehelichen Schlafzimmer waren gemacht, der Hausherr hatte in der letzten Nacht nicht darin geschlafen. Nur im Gästebad entdeckte Janne eine Bürste mit kurzen, dunklen Haaren, die nicht zum Toten gehörten und nicht zu seiner Frau und den Kindern, denn die waren alle blond. Sie steckte Bürste und Seifenspender in Plastikbeutel, beschriftete sie und stellte sie in den Transportbehälter für die Asservaten, denn einige Wasserspritzer im Waschbecken und auf den Kacheln im ansonsten sauberen Raum wiesen auf eine einmalige Benutzung hin. Sie vermutete, dass der Täter das Gästebad benutzt hatte.

    Luke sagte zu Andersen: „Chef, ich glaube, damit bekommen wir nicht viel Arbeit, sieht ganz nach Selbstmord aus."

    Andersen zog die Stirn kraus und wiegte den Kopf hin und her, während Janne neben dem Toten stand und gedanklich Handbewegungen vollführte wie ein Cowboy, der seinen Revolver um den Zeigefinger kreisen lässt, zupackt und zielt. Schließlich sagte sie sehr bestimmt: „Der Mann hat keinen Selbstmord begangen. Alle sahen sie fragend und ein bisschen erstaunt an, so dass sie auf den gekrümmten Zeigefinger der rechten Hand wies, an dem die Pistole mit dem Lauf nach vorn hing. „Die Waffe hängt verkehrt herum. Wenn er sie so greifen würde, müsste er seine Hand unwahrscheinlich verrenken, um mit dem Zeigefinger abzudrücken. Bequemer wäre es dann mit dem Daumen. Ich vermute, dass die Waffe nach seinem Tod über den Zeigefinger gehängt wurde.

    Stefan fotografierte die Hand mit der Pistole im Detail. Alle sahen nun genau hin und mussten widerwillig ihre These vom Selbstmord fallen lassen.

    Luke nahm vorsichtig die Pistole und ließ sie in einen Plastikbeutel gleiten. Der Arzt drehte die Hand um, sie sahen eine Narbe in der Handfläche und er erklärte ihnen: „Die scheint von einer Operation an der Sehne zu stammen. Je nach dem vorherigen Verlauf der Krankheit führen solche Operationen nicht immer zum gewünschten Erfolg und in diesem Fall blieb die Sehne verkürzt."

    Von Andersen erhielt Janne den Auftrag, um den sich alle gern drückten. „Frau Rosengart, Sie fahren bitte mit Vandenpol zu Frau Maschmann und bringen ihr schonend bei, dass ihr Mann tot ist." Er reichte ihr den Zettel mit der Adresse.

    Tommy Vandenpol war mit Leib und Seele Polizist und sein größter Wunsch war es, erfolgreich darin zu sein, bedrohte Menschen zu schützen und Verbrecher zu überführen. Er war voller Idealismus, hatte wenig Erfahrung und es war das erste Mal, dass er bei der Überbringung einer Todesnachricht anwesend sein sollte. Groß und schlank, wie er vor ihr stand, wirkte er auf Janne wie ein großer Junge mit seinem offenen Ausdruck, den freundlichen, blauen Augen und schwarzen Haaren. Er musterte sie unauffällig. Ihre Anziehungskraft und katzenhafte Grazie zogen ihn in ihren Bann. Es war nur natürlich, dass er neugierig auf seine künftige Partnerin gewesen war und er hatte eifrig dem Klatsch, der im Kommissariat über ihre früheren Erfolge verbreitet worden war, gelauscht. Er konnte es sich nicht verkneifen, Janne darauf anzusprechen. Lächelnd winkte sie ab und sagte: „Ich bin da einfach so reingerutscht."

    Sie fuhren schon eine geraume Weile auf der Bundesstraße Richtung Cuxhaven. Der kalte, mit Schneeflocken vermischte Regen fiel unablässig aus dunklen Wolken, die den Himmel bedeckten und den trüben Tag noch trüber machten.

    Wie üblich schlief sie beim Autofahren ein und wachte erst wieder auf, als Vandenpol sie leicht am Arm berührte, weil ihr Handy klingelte. Sie wühlte es aus der Jackentasche, meldete sich mit verschlafener Stimme und murmelte gähnend „Ach, du bist es.".

    Es war Daniel Rosengart, ihr Noch-Ehemann. Er fragte: „Bist du zu Hause?"

    „Nein, äh, wir sind dienstlich unterwegs." Mist, warum habe ich gleich wieder ein schlechtes Gewissen, ärgerte sich Janne.

    „Das ist doch immer dasselbe, der Dienst geht immer vor. Wie sollen die Männer vom Umzugsunternehmen denn die Möbel bringen, wenn du nicht mal zu Hause bist", kritisierte er.

    Daniel schaffte es immer wieder, sie zu reizen. Sie erwiderte kiebiger als beabsichtigt: „Ach, dann sag ihnen doch, sie sollen die Möbel im Flur abstellen, und den Zweitschlüssel, den du dir hast machen lassen, einfach in den Briefkasten werfen."

    Am anderen Ende herrschte einen Augenblick verblüfftes Schweigen. Wie und wann war nur ihre Liebe entschwunden, fragte sich Janne. Vielleicht haben wir zu wenig miteinander geredet, da bin ich auch nicht unschuldig. Aber er musste immer das letzte Wort haben und es hatte sie unbeschreiblich genervt, wenn sie müde von Überstunden nach Hause gekommen war, und er sie spüren ließ, dass er ihre Arbeit nicht anerkannte. Schlicht gesagt, hielt er es überhaupt für überflüssig, dass sie arbeitete. Früher hatten sie sich beide Kinder gewünscht, aber der Wunsch war mehr und mehr zu einer Manie geworden und sie hatte sich dadurch so erdrückt gefühlt, dass ihr zum Schluss das Atmen schwer gefallen war, sobald sie ihr Zuhause betreten hatte. Er hatte sich mit einer anderen Frau getröstet und unglücklicherweise hatte sie ausgerechnet zu der Zeit von seiner Geliebten erfahren, als sie unter Depressionen litt. Zwar war sie erleichtert gewesen, nachdem sie sich auf den Trennungswunsch ihres Mannes geeinigt hatten, aber sie fühlte sich auch abgeschoben. Er hatte es als Zufall dargestellt, dass die Mieter Anfang Dezember aus ihrem Elternhaus ausziehen würden. Er hatte ihr schmackhaft gemacht, sich versetzen lassen und wieder dort wohnen. Jetzt war sie nicht sicher, ob ihre Entscheidungen richtig gewesen waren.

    Sie hörte Stimmen und Gelächter durchs Telefon und meinte, Daniels Freund Richard Thomsen, genannt Dickie, herauszuhören, den sie absolut nicht leiden konnte. Anscheinend flirtete er mit Daniels neuer Flamme.

    Sie konnte es sich nicht verkneifen, zu sticheln. „Ist der Dicke auch schon wieder bei dir? Pass nur auf, dass er dir Sylvia nicht ausspannt, das ist doch seine Masche." Sie bedauerte ihre Worte augenblicklich.

    „Ich weiß, dass du ihn nicht magst, aber warum bist du so gehässig?"

    Darauf ging sie weiter nicht ein und nach einem kurzen Schweigen sagte sie: „Jedenfalls wünsche ich dir viel Glück. Wenn weiter nichts ist, dann Tschüs."

    „Tschüs, sagte er halbwegs versöhnt und fügte noch wichtig hinzu: „Es gibt noch viel zu regeln. Wir hören wieder voneinander.

    Was hatte sie schon viel zu regeln, sie wollte nichts von ihm und die Scheidung könnte ihretwegen reibungslos über die Bühne gehen.

    Es würde ein langer Tag werden und ihr grauste schon davor, in ihr kaltes, leeres Haus einzuziehen. Bisher hatte ihr Mann sich um so banale Dinge, wie Kochen, Wohnung sanieren und einrichten gekümmert. Sie dachte an ihr Auto, das wahllos vollgestopft mit Wäschekörben, Kartons, Koffern und Plastiktüten auf dem Parkplatz stand und darauf wartete, von ihr ausgeräumt zu werden. Nicht zu vergessen, die große Hutschachtel, die ganz oben unter dem Dach eingeklemmt war, mit ihrem prächtigen, lindgrünen Hut, der zu einem ebenso lindgrünen Ensemble gehörte, das sie beim letzten Derby in Hamburg Horn zum Entzücken ihres Schwiegervaters getragen hatte. Daran mochte sie gar nicht denken. Es wäre das Schlimmste, wenn Aaron Rosengart sich von ihr abwenden würde. Sie liebte ihn mehr als ihren eigenen Vater, der nach dem Tod ihrer Mutter wieder in seiner Heimat in Schottland lebte. Janne seufzte tief und Vandenpol warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie schwiegen, nur die Geräusche des Motors und der Reifen auf dem nassen Asphalt untermalten das Schweigen, bis Jannes Handy wieder klingelte.

    Aaron war dran. „Janne, wie geht es dir?"

    „Aaron", brachte Janne nur heraus.

    „Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich zu meiner Sylvesterparty erwarte, um an meiner Seite die Gäste zu begrüßen."

    Sie war so gerührt, dass ihr die Kehle eng wurde und Tränen in die Augen stiegen, aber sie kämpfte tapfer dagegen an, während Aaron auf sie einredete.

    Abschließend sagte er: „Also Sylvesterabend pünktlich um sechs holt Heinrich dich ab. Dann haben wir noch Zeit für uns." Heinrich war sein Chauffeur, Butler und Mädchen für alles und sie mochte ihn gern.

    „Daniel wird das nicht gefallen", wandte sie ein.

    „Das ist allein meine Sache", erwiderte er sehr bestimmt. Janne fühlte sich nach diesem Gespräch erleichtert. Tommy musste zwar auf die Straße achten, die an manchen Stellen durch die letzten herabgefallenen und zu Brei gefahrenen Blätter und die Nässe rutschig war, dennoch kramte er ein blütenweißes, großes Taschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es Janne, die ihn verlegen anlächelte. Sie klappte den Spiegel herunter, nahm die Brille ab und beseitigte die mit Wimperntusche verlaufenen Tränenspuren.

    „Danke, sagte sie mit verschleierter Stimme. „Bevor wir zu Frau Maschmann gehen, brauche ich unbedingt einen Kaffee.

    Tommy bremste so abrupt, dass sie mit der Stirn gegen die heruntergeklappte Sonnenblende mit dem Spiegel stieß.

    „Entschuldigung, aber hier ist gerade ein Kaffeestand."

    Janne rieb ihre Stirn, folgte ihm und nahm ihren Becher unter der Überdachung vor dem Verkaufstresen in Empfang. Hier waren sie ein wenig geschützt vor dem kalten Regen. Sie kramte ihre Zigaretten aus der Jackentasche und bot ihm eine an. Tommy lehnte dankend ab, aber er nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand und gab ihr Feuer.

    „Tut mir leid, das vorhin." Diesmal war Janne verlegen.

    „War doch nichts."

    „Ich finde, wir sollten uns duzen. Ich heiße Janne."

    „Gern, ich Tommy."

    Ihr Lächeln, ihre strahlenden, graublauen Augen, ihre Grübchen neben ihrem etwas zu breiten Mund faszinierten ihn und er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Nachdem sie zu Ende geraucht hatte, drückte sie die Zigarette aus und legte beide Hände zum Wärmen um den Becher.

    Das Ferienhaus sah anheimelnd aus und lag an einem der künstlich angelegten Seen unweit des Nordseestrands. Als sie sich dem Haus näherten, sahen sie einen Mann und zwei Kinder herauskommen. Sie trugen Gummistiefel und gelbe Regenjacken und entfernten sich Richtung Deich. Auf ihr Klingeln wurde die Haustür von einer zierlichen Frau geöffnet, die noch kleiner war als Janne. Der Begriff Kindfrau passte perfekt zu ihr.

    Janne und Tommy wiesen sich aus und Janne fragte: „Sind Sie Frau Maschmann?"

    „Ja", bestätigte sie und sah sie mit großen Augen fragend an.

    „Dürfen wir eintreten?"

    Frau Maschmann nickte ernst und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie einen schönen Blick auf den See hatten. Aus der Küche hörten sie Geschirr klappern.

    „Bitte, nehmen Sie Platz", sagte sie. Janne und Tommy setzten sich ihr gegenüber auf bequeme Sessel.

    „Warum sind Sie hier, ist etwas passiert?", fragte sie.

    „Es tut mir leid, Frau Maschmann, begann Janne vorsichtig. „Wir müssen Ihnen eine traurige Botschaft überbringen.

    Frau Maschmann blieb abwartend sitzen und Janne fragte: „Ist Ihre Mutter auch im Haus? Können wir sie dazubitten?"

    Sie nickte und rief: „Mama, kommst du mal?"

    Aus der Küche kam eine große, stattliche Frau, die keine Ähnlichkeit mit ihrer Tochter hatte.

    „Was ist denn? Oh, du hast Besuch."

    „Guten Tag, ich bin Oberkommissarin Rosengart und das ist Kommissar Vandenpol", begann Janne. Die Mutter setzte sich neben ihre Tochter.

    „Leider müssen wir Ihnen eine traurige Nachricht überbringen."

    Die junge Frau sah sie unverwandt an. Nun musste es ausgesprochen werden und dafür gab es keine abmildernden Worte. „Ihr Mann wurde heute Morgen tot in Ihrem Landhaus aufgefunden."

    Frau Maschmann war wie erstarrt. Die Mutter war es, die sie nach weiteren Informationen fragte und ob sie den Täter gefasst hätten. Jannes Auskünfte beschränkten sich auf das Notwendigste. Als alle Fragen beantwortet waren, ging die Mutter in die Küche, um einen Tee aufzubrühen.

    „Wie soll ich das nur unseren Kindern beibringen, klagte Frau Maschmann. „Emma war seine kleine Prinzessin und Paul sein Thronfolger. Sie vergöttern ihren Papa.

    Nach Jannes Eindruck war die junge Witwe wohl gefasst genug für einige Auskünfte und fragte, ob es irgendjemanden gab, der Streit mit Ihrem Mann gehabt hatte, oder ob sie bedroht oder gar erpresst worden waren. Sie schüttelte verneinend den Kopf. „Mein Mann ist … äh war sehr bekannt durch seine Geschäfte. Er hatte viele Freunde und außerdem hat er viel Geld für wohltätige Zwecke gespendet. Er hat etliche Kinderheime finanziell unterstützt, die ohne sein Geld gar nicht existieren könnten. Das hat er selbst oft zu mir gesagt. Nein, im Gegenteil. Er war sehr beliebt und ich kann mir nicht vorstellen, dass er Feinde hatte."

    „Sie sind um vieles jünger als Ihr Mann. Er war doch ein gut aussehender Mann und daher wundert es mich, dass er vorher noch nie verheiratet war. Wissen Sie warum?"

    „Was soll diese Frage", beschwerte sich die Mutter, die mit einem Tablett aus der Küche kam und Teekanne, Zuckerdose und Tassen auf dem Tisch verteilte.

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