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Ausgesegnet: Kriminalroman
Ausgesegnet: Kriminalroman
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eBook368 Seiten4 Stunden

Ausgesegnet: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Juni 1809
Nach einer sommerlichen Tanzveranstaltung wird die siebzehnjährige Magdalena Bülles in einem Kornfeld bei Aachen tot aufgefunden. Ihr sechsjähriger Bruder, der sie begleitete, stirbt kurz darauf.
Die Menschen sind aufgewühlt, die Angst geht um. Noch nie wurde ein solch schreckliches Verbrechen in dem beschaulichen
Dorf verübt.
Polizeikommissar Korwin Middelberg wird mit den Ermittlungen betraut und trifft auf ein Geflecht von Lügen.
Bald schon fällt der Verdacht auf einen Wanderarbeiter.
Doch ist wirklich der Fremde der Mörder?
Oder hat einer der Dorfbewohner Blut an den Händen?
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum5. Nov. 2021
ISBN9783947706396
Ausgesegnet: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Ausgesegnet - Dagmar A. Hansen

    Dagmar A. Hansen

    Ausgesegnet

    Historischer kriminalroman

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-947706-39-6 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund

    Korrektorat: Jana Oltersdorff – Dietzenbach

    Umschlaggestaltung: Tom Jay – Gundelsheim

    Konvertierung: Sabine Abels – Hamburg

    1

    Würselen, 15.06.1809

    »Der Laufbursche hat Sie bereits vor Stunden angekündigt, Monsieur Middelberg. Sie haben sich Zeit gelassen. Ist Ihnen nicht bewusst, wie dringlich Ihre Anwesenheit ist?«

    In Doktor Gabriel Münzers Stimme schwang ein deutlicher Vorwurf mit. Er wischte sich die nassen Hände an einem blütenweißen Tuch trocken und drapierte es ordentlich über den dafür vorgesehenen Halter. Der Doktor, ein Mann mittleren Alters, hatte ein bartloses Gesicht. Er trug eine runde Brille und sein dichtes, graues Haar war kurz gehalten. Zwei Zimmer seines etwas zurückgelegenen Wohnhauses in Würselen dienten als Wartezimmer und Praxis. An der Eingangstür war ein handgeschriebenes Schild angebracht, welches etwaige Patienten darüber informierte, dass die Praxis heute geschlossen bliebe. Der Behandlungsraum war hell gehalten und freundlich eingerichtet, es roch unterschwellig nach Bienenwachs und Kernseife. Ein etwas zerzaust wirkender Wiesenblumenstrauß stand auf der Fensterbank.

    Korwin Middelberg, dem der Vorwurf galt, hatte vor dem Schreibtisch des Arztes Platz genommen. »Das mag Ihnen so vorkommen, doch tatsächlich habe ich mich, gleich nachdem ich die Aufforderung erhielt, auf den Weg gemacht. Aber es braucht nun mal seine Zeit, von Aachen nach Haaren zu gelangen. Überdies war Ihr Haus nicht leicht zu finden.«

    Münzer gab ein geringschätziges Schnauben von sich. »Das passiert häufiger, weil die Leute in die Auslagen der Metzgerei Wüllenweber schauen und meinem Gartentor keine Beachtung schenken.«

    Korwin beließ es dabei. Auch er hatte den speckig glänzenden Wurstreihen einen sehnsüchtigen Blick zugeworfen, doch das brauchte er seinem Gegenüber nicht auf die Nase zu binden. »Nun bin ich hier und wir sollten keine Zeit darauf verschwenden, einander Redeblumen zuzuschieben.«

    Doktor Münzer nahm seine Brille ab, polierte ein Glas mit einem Zipfel seines Kittels und platzierte das Drahtgestell wieder auf seiner Nase. Seine nebelgrauen Augen richteten sich auf Korwin. »Was wissen Sie?«

    »Nicht viel. In der Mitteilung des Richters stand, dass am Morgen eine junge Frau tot aufgefunden wurde.«

    »Das ist in der Tat eine arg dürftige Information. Kaffee? Ich glaube, meine Frau hat ihn schon brühen lassen.«

    »Gerne.«

    Münzer zog an einer Klingelschnur, und als ob es gleich neben der Tür darauf gewartet hätte, klopfte ein Dienstmädchen an, öffnete die Tür, knickste und erkundigte sich beflissen nach den Wünschen des Doktors. Der Hausherr orderte eine Kanne Kaffee mit zwei Gedecken und bat darum, jede Störung fernzuhalten. Rasch verhallten die Schritte des Dienstmädchens und nur noch das beruhigende Ticken einer Standuhr war zu hören.

    Münzer lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Eine schreckliche Sache. Die Tote heißt Magdalena Bülles, siebzehn Jahre alt. Sie kehrte nach einer gestrigen Tanzveranstaltung in Würselen nicht in ihr Elternhaus nach Haaren zurück. Zum Tanzvergnügen wurde sie von ihrem sechsjährigen Bruder begleitet. Diesen fand man etwas entfernt vom Leichnam der Schwester. Es ist ein außergewöhnlicher Fall, wie Sie sich bald selbst überzeugen können. Bevor ich weiter aushole: Darf ich erfahren, in welcher Funktion Sie herbemüht wurden?«

    Korwin hatte diese Frage erwartet. »Friedensrichter Meller ist zurzeit das Reisen nicht möglich. Ich bin als sein Assistent hier und damit beauftragt, mir ein Bild von der Lage zu machen. In seinem Namen führe ich Vorermittlungen durch, die ihm und den anderen Richtern die spätere Wahrheitsfindung erleichtern werden.«

    »Das traut er Ihnen zu?«

    »Sie mir nicht?«

    »Nun, Sie scheinen mir recht jung.«

    Ein Satz, den Korwin häufiger hörte, als ihm lieb war. Man könnte meinen, im Roerdepartement traue man erst Männern ab fünfzig zu, verantwortungsvolle Posten zu erfüllen. Nun, davon war er noch fünfundzwanzig Jahre entfernt. »Ich nehme dies als Kompliment.«

    Münzer verzog missbilligend den Mund. Eine kleine Pause entstand, während das Dienstmädchen Kaffee servierte. Erst als es den Raum wieder verlassen hatte, nahm Münzer das Gespräch erneut auf. »Der Prozess selbst obliegt dann aber erfahrenen Richtern?«

    »Selbstverständlich.« Korwin nahm einen Schluck Kaffee. Schwarz und stark, genau das, was er nun brauchte. Ein Bütterken mit Käse wäre ihm auch willkommen gewesen, aber darum zu bitten untersagte ihm sein Stolz. Münzer stellte seine Tasse ebenfalls zurück auf den Unterteller. »Haben Sie auf dem Gebiet des Criminaltribunals Erfahrung vorzuweisen?«

    Korwin mahnte sich zu Geduld. Es hätte keinen Wert, den Doktor gegen sich aufzubringen. Hier kannte er niemanden und es war anzunehmen, dass er jede Hilfe brauchen würde. »Ich war Commissarius loci, bis dieses Amt zum Jahreswechsel abgeschafft wurde. Ein Ortskommissar. Ich habe zwei Jahre in diesem Beruf gearbeitet und mir allerlei praktische Erfahrung aneignen können«, erklärte Korwin. Freundlichkeit und Duldsamkeit gehörten zu seinem Beruf, doch war ihm Letzteres nicht in die Wiege gelegt worden.

    Münzer nickte, doch seine Miene war alles andere als erfreut. Offiziell hatten die französischen Besatzer Ortskommissare zur Unterstützung der Gendarmerie eingesetzt. Doch selbst jeder Gassenlümmel wusste, dass diese Aufgabe eine zweite Seite besaß, die darin bestand, die Arbeit und die Gesinnung der Polizeidiener zu überwachen. Jedenfalls dann, wenn man seinen Beruf pingelig genau nahm. Sollte Münzer ihn ruhig für einen Spitzel halten, rechtfertigen würde er sich keinesfalls.

    Münzer verschränkte die Hände so angespannt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

    »Allerlei Erfahrung? Wie Sie meinen. Nun, Assistent Middelberg, was ich wissen möchte, bevor wir in den Keller gehen: Haben Sie bereits einen Leichnam gesehen?«

    »Mehrere.« Drei, genauer gesagt.

    »Dennoch möchte ich Sie auf das vorbereiten, was Sie erwartet. Die Überreste des Fräulein Bülles bieten einen verstörenden Anblick, und dass ihr Leichnam dabei einen Tag lang unter der sengenden Sonne lag, macht es nicht besser. Sie wurde mit ihrem eigenen Strumpfband erdrosselt. Dabei ging der Täter mit solch brachialer Kraft vor, dass dem Opfer die Augen bluteten, ebenso floss Blut aus einem Ohr und dem Mund. Das Strumpfband verblieb fest verknotet am Halse der Unglücklichen. Oberhalb der Brust ist die Haut fast schwarz und stark aufgequollen. Der Täter hat an seinem bedauernswerten Opfer zudem Notzucht verübt. Vermutlich nach ihrem Tod. Magdalena Bülles ist einer entmenschlichten Bestie zum Opfer gefallen.«

    Es war gut, dass es keine Bütterken zum Kaffee gegeben hatte. Auf keinen Fall wollte Korwin sich die Blöße geben, im Münzerschen Keller zu speien. »Und der Junge?«, fragte er stattdessen.

    »Edmund Bülles, ein zerbrechlich anmutender Knabe. Er wurde mit zahlreichen schweren Tritten gegen Hals, Kopf und Leib traktiert. Eines seiner Ohren ist bis zur Muschel eingerissen, sein Brustkorb ist zerquetscht. Es mag wie ein Wunder anmuten, aber Edmund hat das Martyrium überlebt. Allerdings ist er ohne Bewusstsein und ohne Empfindung. Gelegentlich krampft er, dann wiederum ist sein Puls kaum zu spüren. Die Eltern des armen Kindes wachen an dessen Bett und beten, dass der Herrgott ihren Jungen erwachen lässt und er fröhlich weiterleben kann. Die Verletzungen aber sind zu schwer. Doch wie kann ich dies Eltern sagen, die gerade erst eines ihrer Kinder an den Tod verloren haben? Es mag unchristlich klingen, aber unter uns gesagt hoffe ich, dass der Allmächtige Herr den Knaben bald zu sich ins himmlische Reich ruft. Lassen Sie uns gehen.«

    Auch Korwin stellte sein Geschirr zurück, erhob sich und folgte dem Arzt durch den langen Flur. Vor einer Tür blieb dieser stehen. Auf einer Kommode standen allerlei Gerätschaften, Phosphorhölzchen und eine Wasserschale, in der diese nach ihrer Nutzung gesammelt wurden.

    »Seien Sie vorsichtig, Middelberg, die Stufen sind steil. Nutzen Sie den Handlauf.«

    Münzer entflammte eine Kerze, mit Hilfe derer er, im Kellergewölbe angekommen, drei Argandbrenner entzündete. Leises Knistern war zu hören. Der Tisch mit dem Leichnam befand sich nahe der beiden Wandlampen. Die dritte Lampe drückte Münzer Korwin in die Hand und sah ihn fragend an. »Sind Sie soweit?«

    Korwin nickte, obwohl er sich nur allzu gerne auf dem Absatz herumgedreht hätte. An diesen Geruch würde er sich nie gewöhnen. Behutsam hob Münzer das Tuch, mit dem die Tote bedeckt war. An manchen Stellen war es dunkel verfärbt.

    Der Arzt hatte bezüglich des Zustands der Leiche mit keinem Wort übertrieben. Der Anblick von Magdalenas fast schwarzen und aufgedunsenen Gesichts, sowie der des aufgetriebenen Torsos war nur schwer zu ertragen. Wäre da nicht ihr schönes langes Haar gewesen, die zarten Hände und Füße, die anmutigen Fesseln, nichts hätte an ein junges Mädchen erinnert. Am allerwenigsten der grauenhafte Gestank. Münzer hatte Korwin mittlerweile einen mit Minzöl getränkten Lappen gereicht und hielt sich selbst ebenfalls einen solchen vor die Nase. Nur nutzte es nicht viel. Präzise erläuterte Münzer die Verletzungen und zog das Laken bis unter den Hals des entstellten Leichnams.

    Korwin würgte, doch gelang es ihm, dem Reiz nicht nachzugeben. Münzer, der sich besser im Griff hatte, scheuchte Korwin mit einer Handbewegung die Treppe hinauf und dann zu einer Tür am Ende des Flurs. Sie führte in den Garten, eine grüne Idylle, durchzogen von einem solch starken Rosenduft, dass er nicht betörend, sondern benebelnd wirkte. Korwin schützte einen Moment die Augen vor dem Sonnenlicht, sog tief Luft ein und folgte Münzer zu einer Bank unter einem Pflaumenbaum. Korwin lockerte sein Halstuch. Der Schatten tat ihm gut. Einen Moment verbrachten sie schweigend. Münzer bedachte Korwin mit einem Seitenblick. »Geht’s wieder?

    »Ja. Danke.«

    Münzer deutete auf eine Stelle im Garten. Eine blonde Frau saß dort auf einem ausgebreiteten Plaid und spielte mit einem kleinen Mädchen von vielleicht drei Jahren. Bei ihnen stand ein Picknickkorb, aus dem die Kleine unbeholfen, aber entschlossen ein Plätzchen fischte.

    »Meine Familie«, sagte Münzer und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Meine Frau und meine Tochter. Meine beiden Jungen sind gerade bei einem Bauern in der Nachbarschaft. Sie helfen dort, die Pferde zu versorgen und dürfen zum Ausgleich dazu gelegentlich reiten. Ich hoffe, sie werden, wenn sie sich die Hörner abgestoßen haben, zu guten Männern heranwachsen. Haben Sie Familie?«

    »Keine Frau, keine Kinder. Aber ich bin in einer großen Familie aufgewachsen. Ich habe vier Geschwister, meine Eltern leben noch, und wir sehen uns, sooft ich es von Aachen nach Montjoie schaffe.« Was beinahe der Wahrheit entsprach.

    »Montjoie. Die wilde Eifel. Mmh, selbst unter günstigen Voraussetzungen eine halbe Tagesreise entfernt.« Münzer sah Korwin an. »Verstehen Sie, dass Sie dieses Ungeheuer unter die Guillotine bringen müssen? Unter allen Umständen? Der Mörder darf nicht davonkommen. Und er darf nie wieder die Gelegenheit erhalten, einem anderen Menschen zu schaden.«

    »Ja.« Eine Weile saßen die Männer still nebeneinander. Korwin wusste, dass ihn der Anblick des Leichnams von nun an begleiten würde. Doch jetzt, im Sonnenschein, umgeben von Insektenbrummen, Vogelgezwitscher und dem glucksenden Lachen der kleinen Münzertochter, ließ sich die Erinnerung wenigstens für einen Augenblick verdrängen. Später würde sie sich in seine Seele einbrennen.

    Als Münzer vorschlug, einen Schnaps zu trinken, lehnte Korwin nicht ab. Münzer hatte vorgesorgt und zog einen Flechtkorb unter der Bank hervor, der eine Glasflasche und Gläser enthielt. Das dunkelbraune Kräutergebräu war stark und beruhigte Korwins Magen. Er stellte das Glas neben sich auf der Bank ab. Lichtflecken tanzten über das Gras vor seinen Füßen. »Kannten Sie das Mädchen? Vom Ansehen vielleicht? Oder war sie gar eine Ihrer Patientinnen?«

    »Nein. Magdalenas Familie lebt zwar unweit von hier in Haaren, aber ich hatte zuvor nie mit ihr oder der Familie Bülles zu tun. Vielleicht hätte Herr Bülles mich gar nicht hinzugezogen, wenn mein Kollege Wallraff mit den Seinen nicht in die Sommerfrische an die Nordsee gefahren wäre. Sie werden mit den Eltern reden wollen, und ich habe versprochen, nach Edmund zu sehen. Wenn Sie bereit sind, würde ich Sie mit dem Einspänner mitnehmen.«

    Ausgesegnet

    2

    14.06.1809

    »Wer schön sein will, muss leiden. Aber das wird es allemal wert sein«, verkündete Barbara Franzen lachend und ließ sich auf den einzigen Stuhl in Lenas Zimmer sinken. Vorsichtig löste sie die Schleife unter ihrem Kinn, hob das Strohhütchen von ihrem blonden Haar und legte es auf ihrer prallen Gobelintasche ab. Lenas Freundin sah drollig aus: Strähne für Strähne ihrer schulterlangen Mähne waren auf Papilotten aus alten Zeitungsstreifen gedreht und mittels Metallspangen eng am Kopf festgesteckt. Unwillkürlich griff Lena zu ihrem eigenen gespickten Schopf, der ähnlich albern aussah. »Edmund hatte sich vorhin vor Lachen auf den Boden fallen lassen und mich einen Pinsel-Igel genannt. Ich habe mich den ganzen Tag nicht nach draußen getraut.«

    Barbara streckte sich undamenhaft. »Das hat sich keine von uns, glaub das mal. Ich habe gerade wie ein Schießhund aufgepasst, dass ich niemandem über den Weg laufe. Trude hat ganz schön gemault, als Mutter heute sie und nicht mich zum Milchholen schickte. Kennst ja meine Schwester: Bloß keinen Handschlag zu viel erledigen. Erst dachte ich, Mutter gibt nach, aber stell dir vor: Sie war tatsächlich auf meiner Seite und hat Trude Beine gemacht. Das erste Mal seit Karneval, dass sie für mich Partei ergriff. Lena, ich dachte schon, sie verzeiht mir nie. Na, hätte sie vielleicht auch nicht, wenn mein Vater dabeigestanden hätte. Ich glaube, mit meiner Vorfreude erinnerte ich Mutter an sich selbst, an die Zeit, als sie noch ledig war und sie zum Kirmestanz ging. Ich bin siebzehn, dass muss also eine Ewigkeit her sein. Na ja, aber dann  …«

    Barbara ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Genau wie es Lena vorausgesehen hatte, blieb ihr der Mund offen stehen, als sie das Empire-Kleid bemerkte, welches über der spanischen Wand hing. Es war ein Traum aus lindgrünem Musselin, einer Farbe, die Lenas Teint vorteilhaft zur Geltung brachte. Fast vier Monate hatte sie an diesem Kleid gearbeitet, hatte gereiht, gesäumt, gekappt, Volants gesteppt, eine Garnitur aus Stoffblüten gefertigt, hatte zähneknirschend Misslungenes aufgetrennt, um wieder von vorn zu beginnen. So manches Mal hatten sowohl ihre Geduld, als auch ihr Ehrgeiz nur noch an einem seidenen Faden gehangen. Einmal sogar hatte sie ihre wütenden Tränen mit dem halbfertigen Stück abgewischt und ihre Eitelkeit verwünscht. Dann hatte sie sich des Gewurstels wieder angenommen.

    Und die Mühe hatte sich gelohnt.

    Ein ganz kleiner Neidfunke glitzerte in Barbaras Augen, dann aber war er auch schon wieder fort. Die Freundin ging zu dem Kleid, strich vorsichtig darüber und strahlte Lena über die Schulter hinweg an: »Du wirst heute unsere Königin sein.«

    »Ach, nein«, gab sich Lena bescheiden, freute sich aber insgeheim. In der Gruppe ihrer Freundinnen fiel sie niemals sonderlich auf, war klein, zierlich gebaut und von stiller Natur. Nicht hässlich, aber auch nicht hinreißend schön. So wie Barbara auch. Zwei Dutzendgesichter. Barbaras mit Sommersprossen, ihres ohne.

    »Doch, doch, Lenchen, glaub mir. Du wirst jedem Burschen den Kopf verdrehen und ich schätze, in der nächsten Woche wird dein Vater mit dem Nudelholz neben der Tür stehen, um deine Verehrer zu verscheuchen.« Barbara wuchtete ihre große Gobelintasche auf den Tisch, ohne sie jedoch zu öffnen. Ihre Hände, die auf den Metallbügeln lagen, verrieten ihre Anspannung. »Was meinst du, wird dein Cousin auch zum Tanz kommen?« Jede Heiterkeit war aus Barbaras Stimme verflogen. Wachsam wirkte sie. Und ein bisschen ängstlich. Verständlicherweise.

    Lena seufzte leise und nahm ihre Freundin bei den Händen. »Es ist Kirmes und heute ist der letzte Festabend. Natürlich wird Heinz da sein, genau wie viele, viele andere. Er wird schon keinen Streit vom Zaun brechen. Seine Wut auf uns dürfte sich mittlerweile abgekühlt haben.«

    »Auf mich ist er zornig, nicht auf dich.«

    »Da irrst du dich.« Lena versicherte sich mit einem Blick, dass die Tür geschlossen war und sprach leise weiter. »Ich habe es dir damals nichts gesagt, aber als du ihm den Laufpass gegeben hast, da ist er in der gleichen Nacht noch hier aufgekreuzt, barfuß, bis obenhin mit Branntwein abgefüllt und hat mächtig Theater gemacht. Das war sehr peinlich. Ich hätte ihm das Leben verhunzt. Das würde er sich nicht bieten lassen. Ich will das gar nicht alles wiederholen. Von meiner Tante hat er wirklich nur das gute Aussehen geerbt. Die Manieren stammen von seinen Hausiererfreunden.«

    »Barfuß im März?« Barbara rollte mit den Augen. »Ich habe Heinz nichts von dem erzählt, was du mir über ihn gesagt hast. Nur, dass ich ihn zwar gerne, aber nicht lieb genug für eine Ehe habe. Und dass ich nicht seine Frau werden kann, weil er keine feste Arbeit hat. Ich habe es eher so klingen lassen, als hätten mich die Mutter und der Herr Pfarrer ins Gebet genommen.«

    »Ich weiß, Barbara, aber Heinz ist ja auch nicht blöd. Er wird sich zusammengereimt haben, dass ich es war, die dir die Augen über sein wahres Naturell geöffnet hat. Oder dass ich zumindest in das gleiche Horn wie der Herr Pfarrer gestoßen habe. Noch bevor Heinz randalieren konnte, hatte Vater ihm Paroli geboten. Mit einem Eimer kaltem Wasser.«

    »Uh. Ganz schön drakonisch.«

    »Aber wirksam. Immerhin ist er daraufhin nach Aachen gegangen und hat dort sogar in seinem erlernten Beruf als Tuchscherer gearbeitet. Wer weiß, vielleicht ist er ja auch zu Verstand gekommen. Ein Mann, der nur dem Müßiggang nachgeht, der bekommt auch nur eine träge Schlampampel ab. Eine, die mittags noch im Nachthemd herumläuft. Das ist Heinz bestimmt nach dem frischen Guss klar geworden. Jetzt lass uns lieber über etwas Schönes reden. In der Tasche steckt doch sicherlich dein Kleid. Zeig her.«

    »Mutter hat es genäht. Du weißt, ich kann so etwas nicht und sie wollte mich überraschen. Aber ich glaube, dahinter steckt eine Strategie. Mutter wird mir nie wieder vertrauen. Nur sagt sie es nicht offen.«

    »Na, das kannst du ihr nicht zum Vorwurf machen.«

    »Weiß ich. Musst nicht auch noch in die gleiche Kerbe dreschen. Ich wollte doch nur einmal Karneval feiern.«

    »Hättest du es nur dabei belassen  …«

    »Du hörst dich wie Vater an.« Barbara lächelte unfroh und kleine Grübchen erschienen auf ihren Wangen. Sie öffnete die Tasche und ein fliederfarbener Bausch quoll daraus hervor. Lena strich darüber und hoffte, dass Barbara ihr Zurückzucken nicht bemerkte. »Musselin? Och, Barbara, wie schön.«

    Barbara holte das Kleid hervor und hielt es sich mit den Fingerspitzen vor den Leib. »Immer noch? Na, was meinst du?«

    Der Stoff war ein wenig zerknittert. Das wäre noch ein kleineres Übel.

    Lena bemühte sich, freundliche Worte zu finden. »Es ist wirklich hübsch. Das Taillenband ist vorteilhaft und all die kleinen Rosen sind entzückend.«

    Barbara betrachtete das Kleid mit gerümpfter Nase. »Und jede der kleinen Rosen und das, worauf sie befestigt sind, duftet nach einer doppelten Ladung Mottenpulver. Mutter hat das Kleid in meiner Aussteuertruhe versteckt. Sie hat sich soviel Arbeit damit gemacht, da konnte ich doch nicht meckern, und trotzdem glaube ich, dass die Mottenkugeln die jungen Männer fernhalten sollen. Ich habe es die ganze Nacht und den halben Tag ausgelüftet, aber in der Tasche haben sich die Dämpfe neu gesammelt. Ich kann nicht mitgehen. Nicht so. Alles ist verloren.«

    »Nichts ist verloren!« Lena verstand Barbara nur allzu gut, dennoch musste sie sich Mühe geben, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Mit allen großen und kleinen Katastrophen hatte sie gerechnet, versengten Locken, einem Pickel am Kinn, einem schiefen Absatz. Aber die zerstörerische Wirkung von Mottenpulver hatte sie keinen Moment in Erwägung gezogen. »Das bekommen wir schon hin.«

    Barbara, das Unglück in Person, sank auf dem Stuhl zusammen. »Und wie? Ich habe es schon mit Lavendelwasser probiert, was aber zur Folge hatte, dass das Kleid sowohl nach Mottenkugeln, als auch nach Lavendel stank. Das Bouquet des Mottenpulvers besaß allerdings das größere Durchsetzungsvermögen.«

    Lena sah sie ratlos an. Sie besaß, wie Barbara auch, mehrere Kleider. Auch gute für sonntags, aber keines von ihnen käme einem Festkleid nahe. Ein ganzes Jahr lang hatten sie diesem Tanzvergnügen entgegengefiebert. Jedes Mädchen würde sich heute Abend wie eine Prinzessin herausputzen. Eine Anstecknadel, ein bisschen Spitze, eine Feder im Haar oder eine glänzende Kette verlieh Alltagskleidern etwas Glorienschein, doch dieser reichte für den Kirmestanz allein nicht aus.

    Barbara stützte die Wange auf die Faust und bohrte verdrossen den Zeigefinger der anderen Hand in den Stoffwust. »Du bist ja nicht alleine, sondern gehst mit Anna-Marie. Wo ist deine kleine Schwester eigentlich? Wollte sie sich nicht mit uns zusammen aufputzen?«

    »Stimmt. Ich hole sie.«

    Lena raffte ihren Rock und stieg die Treppe hinunter. Mutter arbeitete in der Küche. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, knetete einen hellen Teig und gab der jüngsten Tochter Anweisungen, die diesen mit vor Freude geröteten Wangen nachkam.

    Edmund, der sechsjährige Bruder, hockte dabei und versuchte, Teigkrümel zu stibitzen. Auf dem Herd stand ein Pfeifkessel, daneben stand die umhäkelte Wärmflasche aus Messing.

    Durch den Spalt der nur angelehnten Tür der Wohnstube sah Magdalena, dass Vater die Füße hochgelegt hatte. Er war in ein Buch vertieft, eine Kaffeetasse neben sich. Vater so entspannt zu sehen war ein seltener Anblick. Magdalena hauchte ihm eine unbemerkt bleibende Kusshand zu. Anna-Marie, so stellte sie schließlich fest, war in der Waschküche.

    Die Fünfzehnjährige kam nach dem Vater, war hochgewachsen, kräftig und besaß die gesunde Gesichtsfarbe der Landbevölkerung. Zumindest gewöhnlich. Jetzt erinnerte ihr Teint eher an Asche. Sie stützte sich mit beiden Händen an dem leeren Waschbottich ab. Das blutige Wäschestück auf dem Boden und ihr unglücklicher Blick sagten alles. Lena trat zu dem Mädchen und strich ihr mitfühlend über die Schulter. »Von all den Tagen eines Monats, ausgerechnet jetzt.«

    Anna-Marie nickte elend. »Das Bauchweh ist kaum auszuhalten. Ich lege mich gleich ins Bett. Mutter bringt mir die Wärmflasche. Sie sagt, wenn ich schon nicht mitkann, sollst du Edmund mitnehmen.«

    »Den Däumling? Zum Tanz? Aber warum?«

    »Mach es einfach.«

    Die gleiche Frage stellte sie keine zwei Minuten später ihrer Mutter, obgleich sie ahnte, dass jedweder Protest vergebens sein würde. Wenn ihre Mutter etwas entschieden hatte, dann konnte nur der Heilige Geist höchstselbst an dem Entschluss rütteln. Und das auch nur vielleicht.

    Der krümelige Teig war mittlerweile zu einer geschmeidig glänzenden Kugel geformt und musste nun eine Weile ruhen. Käthe Bülles’ Gesicht war schweißnass. »Edmund geht mit, oder du bleibst hier.«

    »Mutter, bitte. Ich möchte tanzen, nicht Kinder hüten.«

    Käthes Augenbrauen rückten über der Nasenwurzel zusammen: »Keine Widerrede. Die Barbara biegt auf dem Heimweg ein Stück vor dir vom Weg ab und du gehst mir keinen Schritt alleine. Dein Vater ist der gleichen Meinung. Punktum.« Käthe wischte ihre nassen Hände an einem Tuch trocken, scheuchte die jüngeren Kinder mit den Abfällen zum Komposthaufen und wartete stumm ab, bis sie mit ihrer Ältesten alleine war. Sie zwinkerte, griff in die Tasche ihrer Kittelschürze und holte mehrere Münzen hervor, die sie Lena in die Hand drückte. »Für dich und Edmund. Dass ihr beide einen schönen Abend habt und damit du Edmund und auch dir deine eigene Limonade kaufen kannst.« Ungläubig sah Lena auf das Münzhäufchen. Weder hatte Lena ihre Mutter jemals zuvor wie einen Lausbub zwinkern gesehen, noch hatte sie von ihr jemals so viel Geld zur freien Verfügung bekommen. Das waren doch mindesten zwei und eine halbe Mark. Die gute Mutter musste es sich vom Haushaltsgeld abgespart haben. »Nimm, mein Mädchen. Was du nicht brauchst, geben wir dem Schuster, der dir die Tanzschuhe reparieren wird.«

    »Ach, liebe Mama!«

    »Pscht. Nicht drüber reden.«

    »Keine Silbe.« Zutiefst gerührt vor Glück, küsste Lena ihre Mutter auf die Wange. Sie legte das Geld beiseite, nahm die Hände ihrer Mutter und drehte sich mit ihr im Kreis, bis Käthe auflachte, das Drehkreuz löste und sich eine Hand auf den unteren Rücken presste. »Nicht so wild, meine Liebe. Nächstes Jahr, da geht auch hoffentlich Anna-Marie mit euch. Das arme Ding. So ein liebreizendes Kleid hat sie sich genäht und nun hängt es nur auf dem Bügel.«

    »Meinst du, sie würde es Barbara borgen? Mit ihrem Kleid ist ein kleines Malheur passiert. Na ja, eher ein großes.« Lena berichtete ihrer Mutter, was geschehen war. Käthe löste den Knoten ihrer Schürze. »Nach dem Debakel mit Heinz ist Frau Franzen arg besorgt um die Lauterkeit ihrer Tochter. Aber Mottenpulver  … ach je. Frag Anna-Marie, es ist ihre Entscheidung. Aber unter uns Frauensleuten: Wenn Barbara ihr einen feinen Anreiz gäbe, könnte ich mir schon vorstellen, dass Anna-Marie einwilligt. Im Übrigen habe ich mit Frau Müller abgesprochen, dass ihr bei ihr übernachten könnt. Eigentlich du und Anna-Marie, aber ich denke, für Edmund gilt das Angebot auch.«

    Lena hatte es eilig, wieder zu Barbara zurückzukommen. »Aber, Mutter, das ist doch nicht nötig.«

    »Nur für den Fall, dass es ein Unwetter gibt, oder dir die Füße wehtun. Edmund und du, ihr beide seid ihr willkommen.«

    »Liebes Mamachen: Der Däumling wird auf mich aufpassen.«

    Als Lena Barbara von dem duftigen Tanzkleid aus Seidentaft erzählte, war diese sofort Feuer und Flamme. Die Junisonne hatte das Dachzimmer ordentlich aufgeheizt und Lena fürchtete um ihre Locken. Barbara, die mittlerweile auf Lenas Bett saß, ließ sich mit ausgebreiteten Armen rücklings fallen und jauchzte. »Hellblau! Das ist genau meine Farbe. Ich werde vor Anna-Marie niederknien, sie als meine Göttin anbeten, sie wird meine Herrin sein, meine Gönnerin, meine Muse  …«

    »Kscht, geht’s ein bisschen weniger laut und ein bisschen weniger dramatisch? Göttin? Bist du von allen Sinnen verlassen? Wenn Mutter das hört, ist es aus mit dem hellblauen Traum.«

    Barbara stützte sich ächzend auf die Ellenbogen. Für eine junge Frau war

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