eBook165 Seiten3 Stunden
Découpage: Historische Semantik eines filmästhetischen Begriffs
Von Guido Kirsten
Bewertung: 0 von 5 Sternen
()
Über dieses E-Book
Das zentrale Element der Regiearbeit sei für ihn die Découpage, ließ Eric Rohmer 2004 in einem Interview mit den Cahiers du cinéma seine Gesprächspartner wissen: "Zu filmen, das heißt zu wissen, wo man die Kamera platziert und wie lange sie dort verharren soll. Die Découpage ist für mich das Geheimnis."
Dem Geheimnis von Praxis und Theorie der Découpage begibt sich dieses Buch auf die Spur. Es verfolgt das Konzept zurück bis in die Zeit seiner Entstehung in den 1910er-Jahren und begleitet es durch die wechselhafte Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts: von der Entwicklung und Verbreitung durch den Publizisten, Produzenten und Regisseur Henri Diamant-Berger, für den die Découpage im Film so wichtig war wie die Zeichensetzung im schriftlichen Text, über die künstlerische Aneignung des Konzepts durch die impressionistische Avantgarde der 1920er (Louis Delluc, Germaine Dulac, Jean Epstein), seine Ausdifferenzierung im Zuge zunehmender Kommerzialisierung und Arbeitsteilung im Tonfilm der 1930er und erste Höhepunkte in der Auseinandersetzung mit dem Konzept in der cinephilen Publizistik der 1940er- und 50er-Jahre. Zu jener Zeit avancierte die Découpage zum zentralen Begriff in einflussreichen Schriften des Filmkritikers und -theoretikers André Bazin und bei vielen seiner Zeitgenossen (Alexandre Astruc, Albert Laffay, Roger Leenhardt). Im Zuge späterer Entwicklungen der französischen Filmtheorie (Semiologie, Ideologiekritik, textuelle Analyse) wurde das Konzept dann verdrängt und marginalisiert und behielt nur vereinzelt – so im Werk des Theoretikers Noël Burch – einen wichtigen Stellenwert.
Die Verdrängung des Konzepts und die bald mangelnde Kenntnis seiner Bedeutung trugen zu falschen oder missverständlichen Übersetzungen bei. Im Englischen wurde das Wort meist als cutting oder editing wiedergegeben, im Deutschen als "Schnitt". Semantisch liegt dies insofern nahe, als découper tatsächlich "zerschneiden, ausschneiden, aufteilen, zerlegen" heißt. Im dominanten Wortsinn, als Bezeichnung einer bestimmten filmischen Praxis, ist damit jedoch nicht das physische Zerschneiden (und anschließende Zusammenkleben) des Filmstreifens gemeint, sondern das Zerlegen des filmischen Raums in einzelne Einstellungen und damit die Aufteilung einer Handlung auf eine Einstellungsfolge. Im Deutschen kommt dem der Ausdruck "szenische Auflösung" am nächsten.
Die Découpage lässt sich entsprechend verstehen als Über- oder Umsetzung eines in textlicher oder gedanklicher Form existierenden raumzeitlichen oder narrativen Kontinuums in eine gegliederte bewegtbildliche Form. Dazu gehört die Festlegung der Einstellungsgrößen und ihrer Dauer, die Situierung der Kamera im Verhältnis zu den Darsteller*innen und dem Dekor (die Kadrierung) sowie die Entscheidung für bestimmte Kamerabewegungen und -winkel. Während der Schnitt nach dem Dreh erfolgt, wird die Découpage üblicherweise vor den Dreharbeiten entworfen.
Für Bazin (und andere nach ihm) kam in der Découpage die Handschrift eines auteur zum Ausdruck. So wie sich in Romanen und Erzählungen eine Weltsicht im Schreibstil offenbare, könne die szenische Auflösung im Film psychologische und metaphysische Implikationen haben: Jede Kamerabewegung, jeder Einstellungswechsel oder die Entscheidung für lange, tiefenscharfe Einstellungen mit mehreren Handlungsebenen wird nun signifikant. In Bezug auf William Wylers The Best Years of Our Lives sprach Bazin gar davon, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer ihre eigene Découpage vollziehen könnten: Durch Verlagerung ihrer perzeptiven Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Teil des Kinobildes hätten sie nun die Hoheit über jene Operation, die normalerweise durch die Regie für sie übernommen werde. Diese Technik zeige den liberalen und demokratischen Geist von Wylers Film.
Dem Geheimnis von Praxis und Theorie der Découpage begibt sich dieses Buch auf die Spur. Es verfolgt das Konzept zurück bis in die Zeit seiner Entstehung in den 1910er-Jahren und begleitet es durch die wechselhafte Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts: von der Entwicklung und Verbreitung durch den Publizisten, Produzenten und Regisseur Henri Diamant-Berger, für den die Découpage im Film so wichtig war wie die Zeichensetzung im schriftlichen Text, über die künstlerische Aneignung des Konzepts durch die impressionistische Avantgarde der 1920er (Louis Delluc, Germaine Dulac, Jean Epstein), seine Ausdifferenzierung im Zuge zunehmender Kommerzialisierung und Arbeitsteilung im Tonfilm der 1930er und erste Höhepunkte in der Auseinandersetzung mit dem Konzept in der cinephilen Publizistik der 1940er- und 50er-Jahre. Zu jener Zeit avancierte die Découpage zum zentralen Begriff in einflussreichen Schriften des Filmkritikers und -theoretikers André Bazin und bei vielen seiner Zeitgenossen (Alexandre Astruc, Albert Laffay, Roger Leenhardt). Im Zuge späterer Entwicklungen der französischen Filmtheorie (Semiologie, Ideologiekritik, textuelle Analyse) wurde das Konzept dann verdrängt und marginalisiert und behielt nur vereinzelt – so im Werk des Theoretikers Noël Burch – einen wichtigen Stellenwert.
Die Verdrängung des Konzepts und die bald mangelnde Kenntnis seiner Bedeutung trugen zu falschen oder missverständlichen Übersetzungen bei. Im Englischen wurde das Wort meist als cutting oder editing wiedergegeben, im Deutschen als "Schnitt". Semantisch liegt dies insofern nahe, als découper tatsächlich "zerschneiden, ausschneiden, aufteilen, zerlegen" heißt. Im dominanten Wortsinn, als Bezeichnung einer bestimmten filmischen Praxis, ist damit jedoch nicht das physische Zerschneiden (und anschließende Zusammenkleben) des Filmstreifens gemeint, sondern das Zerlegen des filmischen Raums in einzelne Einstellungen und damit die Aufteilung einer Handlung auf eine Einstellungsfolge. Im Deutschen kommt dem der Ausdruck "szenische Auflösung" am nächsten.
Die Découpage lässt sich entsprechend verstehen als Über- oder Umsetzung eines in textlicher oder gedanklicher Form existierenden raumzeitlichen oder narrativen Kontinuums in eine gegliederte bewegtbildliche Form. Dazu gehört die Festlegung der Einstellungsgrößen und ihrer Dauer, die Situierung der Kamera im Verhältnis zu den Darsteller*innen und dem Dekor (die Kadrierung) sowie die Entscheidung für bestimmte Kamerabewegungen und -winkel. Während der Schnitt nach dem Dreh erfolgt, wird die Découpage üblicherweise vor den Dreharbeiten entworfen.
Für Bazin (und andere nach ihm) kam in der Découpage die Handschrift eines auteur zum Ausdruck. So wie sich in Romanen und Erzählungen eine Weltsicht im Schreibstil offenbare, könne die szenische Auflösung im Film psychologische und metaphysische Implikationen haben: Jede Kamerabewegung, jeder Einstellungswechsel oder die Entscheidung für lange, tiefenscharfe Einstellungen mit mehreren Handlungsebenen wird nun signifikant. In Bezug auf William Wylers The Best Years of Our Lives sprach Bazin gar davon, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer ihre eigene Découpage vollziehen könnten: Durch Verlagerung ihrer perzeptiven Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Teil des Kinobildes hätten sie nun die Hoheit über jene Operation, die normalerweise durch die Regie für sie übernommen werde. Diese Technik zeige den liberalen und demokratischen Geist von Wylers Film.
Ähnlich wie Découpage
Ähnliche E-Books
Die Orchestrierung der Empfindungen: Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBlind Spots - eine Filmgeschichte der Blindheit vom frühen Stummfilm bis in die Gegenwart Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenOrnamentale Oberflächen.: Spurensuche zu einem ästhetischen Phänomen des Stummfilms Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEs war einmal in Amerika von Sergio Leone Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHitchcock - Angstgelächter in der Zelle Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Ich des Autors: Autobiografisches in Filmen der Nouvelle Vague Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungeneins zu hundert: Die Möglichkeiten der Kameragestaltung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHistorische Rezeption Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDéjà-vu-Effekte: Intertextualität und Erinnerung in inszenierter Fotografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIm Rahmen: Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBilder der Farbe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenErzählen in einer anderen Dimension: Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBewegen Beschreiben: Theorie zur Filmgeschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZeitenwende(n) des Films: Temporale Nonlinearität im zeitgenössischen Erzählkino Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenParatexte des Films: Über die Grenzen des filmischen Universums Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBildprojektionen: Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Doppelleben der Veronika von Krzysztof Kieślowski Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSurrealismus und Film: Von Fellini bis Lynch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAuf dem Sprung zum bewegten Bild: Narration, Serie und (proto-)filmische Apparate Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Drama der Identität im Film Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBilder aus dem Off: Zum philosophischen Stand der Kinotheorie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenThomas Arslan: «Von den Figuren her denken»: Ein Gespräch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBilder der Zweiten Moderne Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBrasilien der Bilder Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Golem-Effekt: Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAffektbilder: Eine Mediengeschichte der Mimik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBilder der Endlichkeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMode Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnikat, Index, Quelle: Erkundungen zum Negativ in Fotografie und Film Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFilm als Weltkunst: Zur Genealogie einer Reflexionstheorie der Kunst Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Populärkultur & Medienwissenschaft für Sie
Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung: Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenALIEN-HYBRIDEN! Sie sind mitten unter uns: Der Plan der Außerirdischen, die Menschheit zu unterwerfen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSexualität - Geschlecht - Affekt: Sexuelle Scripts als Palimpsest in literarischen Erzähltexten und zeitgenössischen theoretischen Debatten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFrühe Neuzeit im Videospiel: Geschichtswissenschaftliche Perspektiven Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMedien der Forensik Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMonster: Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNeue Dramaturgien: Zwischen Monomythos, Storyworld und Serienboom Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenStrategien ›kultureller Kannibalisierung‹: Postkoloniale Repräsentationen vom brasilianischen Modernismo zum Cinema Novo Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEchokammer: Soziale Kommunikation unserer digitalen Gesellschaft Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWie man einen verdammt guten Thriller schreibt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnscharfe Grenzen: Perspektiven der Kultursoziologie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFilmgeschichte als Krisengeschichte: Schnitte und Spuren durch den deutschen Film Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenYasujirō Ozu und die Ästhetik seiner Zeit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenChatGPT und andere »Quatschmaschinen«: Gespräche mit Künstlicher Intelligenz Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenInternet der Dinge: Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVom imaginären Leben in der Spätmoderne: Wie technische Bilder die Realität beeinflussen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPOP: Kultur und Kritik (Jg. 4, 1/2015) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenModezeitschrift und Zuschneidewerk: Das Schnittmusterjournal "Frohne Modelle" in Schötmar (Lippe) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPerformativität: Eine Einführung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBestseller in der Weimarer Republik 1925-1930 Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGames | Game Design | Game Studies: Eine Einführung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPropaganda als Machtinstrument: Fakten, Fakes und Strategien. Eine Gebrauchsanleitung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVerlagsratgeber Lektorat: Registererstellung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEndlichkeit: Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenschön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHexen - Schamaninnen Europas Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Musik/Medien/Kunst: Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKritische Theorie heute Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKünstliche Intelligenz in Nachrichtenredaktionen: Begriffe, Systematisierung, Fallbeispiele Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Découpage
Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Découpage - Guido Kirsten
Gefällt Ihnen die Vorschau?
Seite 1 von 1