Naturheilkundliche Anwendungen in der Pflege: Praxistipps für den Pflegealltag
Von Barbara K. Prinz
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Über dieses E-Book
Viele naturheilkundliche Anwendungen können in Rahmen der Pflege präventiv und gesundheitsfördernd wirken. Wärme- oder Kälteanwendungen stimulieren dabei vor allem den Stoffwechsel, das Immun- oder das Herz-Kreislaufsystem, andere Maßnahmen, z. B. die Aromatherapie aktivieren und fördern die Selbstheilungskräfte und steigern das Wohlbefinden. Das Buch beschreibt unterschiedliche naturheilkundliche Pflegemethoden und Anwendungen, wie etwa von traditionellen Wickeln und Auflagen, erweitert durch die Aromapflege und rhythmischen Einreibungen bis hin zum neuen Konzept der Patientenedukation.
Es werden Qualitätsmerkmale und Qualitätssicherung, die Umsetzung im Pflegeprozess erläutert, sowie der Anspruch an einer naturheilkundlichen Pflegekompetenz herausgearbeitet. Zudem werden naturheilkundliche Maßnahmen bei häufigen Indikationen im Pflegebereich vorgestellt.
Das Buch richtet sich an stationäre oder ambulante Pflegefachkräfte, aber auch Patienten, Angehörige oder Interessierte werden darin viele wertvolle Anregungen erhalten.
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Buchvorschau
Naturheilkundliche Anwendungen in der Pflege - Barbara K. Prinz
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021
B. K. PrinzNaturheilkundliche Anwendungen in der Pflegehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-60477-9_1
1. Grundlagen der Naturheilkunde
Barbara Katharina Prinz¹
(1)
Krankenhaus für Naturheilweisen, München, Deutschland
Barbara Katharina Prinz
Email: prinz@kfn-muc.de
1.1 Medizingeschichte der traditionellen Naturheilkunde zur modernen integrativen Medizin
1.1.1 Hippokrates
1.1.2 Paracelsus
1.1.3 Sebastian Kneipp
1.1.4 Aaron Antonovski
1.1.5 Mind-Body-Medizin
1.2 Naturheilkunde und klassische Naturheilverfahren
1.2.1 Definition Naturheilkunde
1.2.2 Definition Naturheilverfahren
1.2.3 Komplementärmedizin
1.2.4 Integrative Medizin
1.3 Fünf Säulen der Naturheilkunde
1.3.1 Ordnungstherapie
1.3.2 Hydro- und Thermotherapie
1.3.3 Bewegungstherapie
1.3.4 Ernährungstherapie
1.3.5 Phytotherapie
Literatur und Literaturempfehlungen
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Figa_HTML.jpg1.1 Medizingeschichte der traditionellen Naturheilkunde zur modernen integrativen Medizin
Wasser, Luft und Erde, Wärme und Kälte sowie Heilpflanzen hat der Mensch seit Urzeiten zu Heilzwecken verwendet. In vielen Kulturen haben sich eigene Medizinsysteme entwickelt (z. B. traditionelle chinesische Medizin oder Ayurveda), die auf uraltem Heil- und Erfahrungswissen basierten. In der historischen Entwicklung der Heilkunde in Europa haben verschiedene Persönlichkeiten großen Einfluss auf die Medizin ausgeübt und mit ihren Erkenntnissen und Denkweisen geprägt. In der Antike haben Naturheilkunde und Schulmedizin ihre gemeinsamen Wurzeln. Im Mittelalter florierte die Klostermedizin und der Buchdruck trug zur weiten Verbreitung des Erfahrungswissens bei. Erst im 19. Jahrhundert kam es zur Trennung. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse, technische Errungenschaften und pharmazeutische Entwicklungen trieben die konventionelle Medizin an und bestimmten die universitäre Lehre. Die Naturheilkunde verlor dagegen an Akzeptanz.
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig1_HTML.jpgAbb. 1.1
Hippokrates, Kos, Greece (© zwiebackesser/stock.adobe.com)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig2_HTML.jpgAbb. 1.2
Paracelsus-Denkmal, Paracelsus Park, Einsiedeln, Switzerland (© tauav/stock.adobe.com)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig3_HTML.jpgAbb. 1.3
Sebastian Kneipp, Bad Wörishofen-Allgäu- Germany (© kaschwei/stock.adobe.com)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig4_HTML.pngAbb. 1.4
Das Modell der Salutogenese
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig5_HTML.pngAbb. 1.5
Einteilung der Medizinkonzepte und Naturheilverfahren
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig6_HTML.pngAbb. 1.6
Fünf Säulen der Naturheilkunde
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig7_HTML.jpgAbb. 1.7
Ordnungstherapie (Fotograf: Jan Frommel)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig8_HTML.jpgAbb. 1.8
Hydro- und Thermotherapie (Fotograf: Jan Greune)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig9_HTML.jpgAbb. 1.9
Bewegungstherapie (Fotograf: Jan Greune)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig10_HTML.jpgAbb. 1.10
Ernährungstherapie (© Kurhan/stock.adobe.com)
../images/483525_1_De_1_Chapter/483525_1_De_1_Fig11_HTML.jpgAbb. 1.11
Phytotherapie (© Pixelmixel/stock.adobe.com)
Historische Entwicklung
Im altgriechischen Corpus Hippocraticum (um 400 v. Chr.) wurden bereits 234 Heilpflanzen beschrieben.
In der mittelalterlichen Klostermedizin spielten Heilpflanzen eine herausragende Rolle.
Lorscher Arzneibuch um 795
Cause et Curae von Hildegard von Bingen (1098–1179)
im Gart der Gesundheit von 1485 werden 382 Pflanzen beschrieben
Der Buchdruck war für die Verbreitung des Wissens zu Heilpflanzen von großer Bedeutung.
Durch Paracelsus (1493–1541) werden immer mehr Compositae oder „chemiatrische Arzneien" eingesetzt, die pharmazeutisches Fachwissen voraussetzen.
Sebastian Kneipp (1821–1897) entwickelt die fünf Säulen der Naturheilkunde und erlangt mit seinen Lehren bis zur heutigen Zeit große Anerkennung.
Mit dem Aufstreben der Naturwissenschaften wird der überlieferte Arzneischatz gründlich überprüft.
Entdeckung des Morphins 1804 durch Friedrich Wilhelm Sertürner
Ende des 19. Jahrhundert werden viele pharmazeutische Firmen gegründet und patentgeschützte Arzneimittel auf den Markt gebracht.
Im Deutschen Arzneibuch von 1910 befinden sich bereits 65 synthetische Arzneistoffe und gleichzeitig geht die Anwendung von Heilpflanzen stark zurück.
1.1.1 Hippokrates
In der hippokratischen Medizin liegen die gemeinsamen Wurzeln der Naturheilkunde und der modernen Medizin. Für Hippokrates von Kos (um 460–370 v. Chr., Abb. 1.1) stand nicht die Krankheit, sondern der kranke Mensch im Zentrum. Er legte besonderen Wert auf eine exakte Anamnese, eine sorgfältige Untersuchung und einer gewissenhaften Beobachtung des Kranken. Er ist der Begründer der Viersäftelehre. Gesundheit oder Krankheit sind in seiner Lehre abhängig von der Eukrasie (harmonisches Verhältnis) oder Dyskrasie (Missverhältnis) der vier Säfte (Schleim, Blut, gelbe Galle, schwarze Galle). Die Säftelehre bestimmte etwa 2000 Jahre das medizinische Denken in Europa. Ebenso waren für ihn ethische Behandlungsrundsätze von großer Bedeutung und er hielt dies schließlich im bekannten Hippokratischen Eid fest. Zusammenfassend wird Hippokrates als „Vater der Medizin" bezeichnet. Er betrachtete die Medizin als Wissenschaft und gründete in Kos die erste Ärzteschule in der Geschichte.¹
1.1.2 Paracelsus
Paracelsus (Abb. 1.2) wurde 1493 als Theophrastus Bombast von Hohenheim in der Schweiz geboren. Er war Arzt, Naturphilosoph und Alchemist. Paracelsus vertrat nicht die Ansicht der Körpersäfte, sondern sah hinter Krankheitszuständen chemische Prozesse im Organismus. Er setzte neben bekannten Heilpflanzen deshalb auch Arsen, Quecksilber und Schwefel ein. Von ihm stammt das Zitat: „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist." Er entwickelte eine alchemistische Arzneizubereitung, die er Spagyrik nannte (Spagyrik = Trennen und Wiedervereinen von Wirkprinzipien einer Droge zur Wirkungssteigerung). Zusätzlich vertritt Paracelsus die Philosophie des „inwendigen Arztes" und führt die antike Überzeugung der Selbstheilungskräfte des Organismus fort. Er baute eine Lehre auf, die sich mit verschiedenen Krankheitseinflüssen beschäftigte. Für ihn war es wichtig, das Zusammenspiel von Gesundheit und Krankheit richtig zu verstehen. Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen im großen Ganzen (Makrokosmos) spielte in seiner Philosophie eine wesentliche Rolle. Seine Medizin basiert auf Natur- und Gotteserkenntnis. In Paracelsus spiegelt sich der ganzheitliche Ansatz der Naturheilkunde.²
1.1.3 Sebastian Kneipp
Von der Antike bis in die Neuzeit gab es viele bedeutungsvolle Ärzte, Philosophen und Denker, die eine naturphilosophische Medizin, System oder Lehre entwickelten. Der schwäbische Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897; Abb. 1.3) revolutionierte nach einer positiven Selbsterfahrung die Naturheilkunde. Durch seine Naturbeobachtungen und tief greifenden Erkenntnissen baute er sein Wissen zu einer systematischen Gesundheitslehre mit den fünf Säulen der Naturheilkunde aus und legte somit den Grundstein für die traditionelle Europäische Medizin (siehe die fünf Säulen der Naturheilkunde unter Abschn. 1.3.).³
1.1.4 Aaron Antonovski
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Prinzip der Pathogenese das grundlegende Modell der Schulmedizin. Ihr Schwerpunkt liegt in der Akutmedizin. Durch Anamnese und Diagnostik wird die Ursache des rein körperlichen und funktionalen Krankheitsgeschehens erhoben und therapiert auf dem Stand der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse, den sogenannten Leitlinien der konventionellen Medizin. Präventive Strategien zur Krankheitsvermeidung oder Konzepte zur Lebensstilmodifikation als Therapiemethode sind nur bedingt im Fokus.
Der Medizinsoziologe Aaron Antonovski (1923–1994) entwickelte das Modell der Salutogenese (Abb. 1.4). Sein Modell basiert auf dem biopsychosozialen Konzept der Gesundheit und stellt einen Gegensatz zur Pathogenese dar.
1.1.5 Mind-Body-Medizin
Die Mind-Body-Medizin (MBM) entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist ein integrativer Ansatz in der Medizin. Die Anfänge entstanden aus der Verhaltensmedizin und der Stressforschung. Der amerikanische Kardiologe Herbert Benson (1935) gründete in den 1970er-Jahren an der Harvard University ein Institut für Mind-Body-Medizin. In seinen Forschungsarbeiten widmete er sich der Relaxation Response des Organismus, z. B. der positive Einfluss von meditativen Verfahren zur Blutdruckregulation. Jon Kabat-Zinn (1944) untersuchte an der University of Massachusetts Achtsamkeitsmeditation z. B. bei chronischen Schmerzzuständen mit sehr großem Erfolg. Dean Ornish (1953) entwickelte an der University of California in San Francisco ein Programm zur Lebensstilmodifikation bei Patienten mit Herzerkrankungen. Es umfasst eine Ernährungsumstellung, Meditation, Ausdauertraining und positive Zuwendung. Das amerikanische Verständnis der Mind-Body-Medizin wurde in Deutschland an der Universität Duisburg-Essen zum Essener Modell der Mind-Body-Medizin weiterentwickelt und ergänzt. Europäische Naturheilkundestressforschung und psychoneuroimmunologische Erkenntnisse sowie salutogenetische Ansätze bilden ein modernes wissenschaftliches Therapiekonzept für chronisch Erkrankte. Dazu gehören die kneippschen Anwendungen und klassischen Naturheilverfahren, um die Selbstregulation des Organismus zu fördern sowie Lebensstilveränderungen mittels Ernährungstherapie und Bewegungstherapie und durch Ordnungstherapien psychologische Aspekte zu integrieren.⁴
Lebensstilfaktoren sind entscheidend
Nach Schätzungen der WHO lassen sich weltweit etwa ein Drittel aller Krebserkrankungen auf Lebensstilfaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel zurückführen.
Außerdem zählen zu den beeinflussbaren Risikofaktoren bestimmte chronische Infektionen, etwa durch humane Papillomviren (HPV) oder Hepatitis-B- und -C-Viren, aber auch Belastungen mit krebserregenden Stoffen in der Umwelt oder am Arbeitsplatz.
Sowohl für das Rauchen als auch für den Alkoholkonsum gilt:
Je mehr konsumiert wird, umso höher ist das Risiko für eine Krebserkrankung.
Im Doppelpack sind Alkohol und Rauchen besonders riskant.
Bei Rauchern könne schon der moderate Konsum von Alkohol eher zu einer Krebserkrankung führen als bei Menschen, die nicht rauchen.⁵
1.2 Naturheilkunde und klassische Naturheilverfahren
1.2.1 Definition Naturheilkunde
Naturheilkunde
„Naturheilkunde lässt sich definieren als die Lehre von Naturheilmitteln und den Naturheilverfahren sowie deren besonderen Wirkungen und Wirkprinzipien (Pschyrembel – Wörterbuch Naturheilkunde). Die Naturheilkunde beschäftigt sich auch mit der „Natur des Patienten und dessen Erkrankungen, entwickelt eine eigene Anthropologie und eigene Krankheitskonzepte.
⁶
Die Definition der Naturheilkunde ist besonders wichtig, da in der Fachliteratur aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch viele Synonyme verwendet werden, die jedoch unterschiedliche Bedeutungen haben. Zum Beispiel wird umgangssprachlich von Ganzheitsmedizin gesprochen, die besonders sanfte und nebenwirkungsarme Behandlungsmethoden meint. Die ganzheitliche Medizin versteht den Menschen auch als eine Einheit von Körper, Geist und Seele, die von seiner Umwelt geprägt und beeinflusst wird. In der Laienpresse wird häufig Alternativmedizin verwendet. Diese Bezeichnung kommt ursprünglich aus der Alternativbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, und trug besonders zur Polarisierung zwischen den Medizinsystemen bei. Die Erfahrungsheilkunde fußt vor allem auf der traditionellen Volksheilkunde. Sie stützt sich auf die anwendungsorientierte Wissenschaft und bezieht sowohl Naturheilverfahren wie konventionelle Methoden mit ein.⁷
Die Naturheilkunde wird seit den 1980er-Jahren wieder an den deutschen Universitäten gelehrt und kann als Zusatz zur Facharztbezeichnung getragen werden. In Deutschland gibt es nur wenige stationäre Einrichtungen, die Naturheilkunde und Naturheilverfahren in ihrem Behandlungskonzept integrieren.
1.2.2 Definition Naturheilverfahren
Naturheilverfahren sind Methoden, die Reizwirkungen entfalten und dadurch die Selbstheilungs- und Ordnungskräfte des Organismus anregen. Als Heil- und Behandlungsmittel bedienen sich die Naturheilverfahren den natürlichen Lebensreizen wie Licht, Wasser, Nahrung, Bewegung, Kälte und Wärme sowie Heilkräutern.
Naturheilverfahren
„Naturheilverfahren können definiert werden als therapeutische Maßnahmen, die mit direkt aus der Natur entnommenen, nebenwirkungsarmen Mitteln körperliche und seelische Ordnungs- und Heilkräfte aktivieren und im Rahmen der Gesamtmedizin der Gesundheitsförderung, der Linderung von Beschwerden sowie der Heilung von Krankheiten dienen."⁸ Die klassischen Naturheilverfahren umfassen folgende genuine Naturfaktoren: Wärme und Kälte, Licht und Luft, Wasser und Erde, Bewegung und Ruhe, Ernährung und Fasten sowie die heilsame Wirkung der Arzneipflanzen.⁹
Für den Therapieerfolg müssen die einzelnen Naturheilverfahren individuell auf den Patienten abgestimmt und seine Reaktionsfähigkeit und Konstitution berücksichtigt werden. Die Reiz-Reaktions-Therapien fördern die Herstellung der Homöostase und stoßen die inneren regulativen Prozesse zur Gesundung an. Die Selbstregulation und Stabilisierung erfolgt nicht nur auf körperlicher Ebene, sondern bezieht die seelische und persönliche Ebene des Menschen mit ein.
Unterschiedliche Wirkweisen der klassischen Naturheilverfahren
Schonung
Schonende Verfahren schützen vor belastenden und krankmachenden Faktoren. Der Organismus kann sich dabei erholen und Kraft für Selbstheilungsprozesse schöpfen.
Regulierung
Therapeutische Anwendungen oder Reize werden wiederholt und serologisch eingesetzt, damit ein vegetatives Gleichgewicht erreicht wird, z. B. Hydrotherapie zur Blutdruckregulation.
Kräftigung
Mit kräftigenden Verfahren wird die Leistungsfähigkeit des Organismus gesteigert. Dabei soll eine gewisse Abhärtung und Widerstandsfähigkeit erreicht werden. Die Anwendungen werden wiederholt und die Reizstärke intensiviert, z. B. durch ansteigende Güsse.
Die klassischen Naturheilverfahren können in die folgenden fünf Therapieverfahren nach Sebastian Kneipp eingeteilt werden (siehe Abschn. 1.3):
Ordnungstherapie
Hydro- und Thermotherapie
Bewegungstherapie
Ernährungstherapie
Phytotherapie
Erweiterte Naturheilverfahren
Zu den erweiterten Naturheilverfahren zählen vor allem die ausleitenden Verfahren, die Akkupunktur und die Neuraltherapie.
1.2.3 Komplementärmedizin
Die Komplementärmedizin versteht sich als Ergänzung zur Schulmedizin. Das Spektrum der Komplementärmedizin beinhaltet verschiedene Medizinkonzepte, Verfahren der Naturheilkunde sowie weitere diagnostische und therapeutische Einzelverfahren, die auch unterschiedlich anerkannt sind (Abb. 1.5).¹⁰ Die Patientennachfrage für komplementärmedizinische Methoden hat in Deutschland in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen und hat in der Bevölkerung eine positive Stellung.
1.2.4 Integrative Medizin
Die integrative Medizin ist seit über zehn Jahren in den USA und in Großbritannien aktuell. Dieser Begriff bestätigt den Annäherungsprozess, den die etablierte Medizin und die klassische Naturheilkunde bewältigt haben. Dabei spielt die streng wissenschaftliche Begleitung eine wesentliche Rolle.¹¹
1.3 Fünf Säulen der Naturheilkunde
Das ganzheitliche Denken Sebastian Kneipps (1821–1897) gilt heute als wegweisend für naturheilkundliche Heilmethoden und einer zeitgemäßen Präventivmedizin. Im Laufe seines Lebens hat Kneipp das Wissen über die heilende Wirkung von Wasser und Heilpflanzen mit seinen eigenen Erkenntnissen zu einer systematischen Lehre ausgebaut. Er fügte verschiedene Naturheilverfahren und Therapieelemente zusammen zu einem sinnvollen Ganzen. Abb. 1.6 fasst die fünf Säulen der Naturheilkunde in einer bildhaften Darstellung zusammen.
1.3.1 Ordnungstherapie
Die Naturheilkunde beruht auf dem Grundprinzip, Patienten durch Lebensstilmodifikationen zu befähigen, bewusst an der Genesung und Gesunderhaltung mitzuwirken. Im modernen Zeitgeist wird von nachhaltiger Lebensstilgestaltung gesprochen, die einen direkten Einfluss auf die Gesundheit nimmt.¹² Bereits in der Antike bezog Hippokrates (460–370 v. Chr.) Gemütssymptome in die Gesundheitspflege mit ein. Die aktive Mitarbeit des Patienten bei der Gestaltung der Lebensführung war selbstverständlich.¹³ Der erste Begriff in diesem Zusammenhang wurde von Max Bircher-Brenner (1867–1939) eingeführt, nämlich Ordnungstherapie, und meinte damit die anzustrebende Ordnung in Bezug auf Tagesablauf, angemessene Ernährung, Bewegung und Entspannung, soziales Eingebundensein sowie Werte und Lebensziele bis hin zu spirituellen Fragen. Nach der komplexen Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp (1821–1897) sind die fünf Therapieelemente der klassischen Naturheilverfahren die Ordnungstherapie, Hydrotherapie, Bewegungstherapie, Ernährungstherapie und die Phytotherapie.¹⁴ Die Ordnungstherapie stellt das Fundament dar. Sie ist „die Summe der Maßnahmen zur geordneten Lebensführung und gesunderhaltendem Lebensstil.¹⁵ Paracelsus (1493–1541) sprach vom inwendigen Arzt. Er verstand darunter die innewohnende individuelle Heilungskompetenz eines jeden Menschen.¹⁶ Der salutogenetische Ansatz des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) greift diese Erkenntnis auf. Er erforschte Stressprozesse und erkannte den Zusammenhang der individuellen Widerstandsressourcen eines Individuums, die mit der Bewältigung einer Erkrankung einhergehen und die Richtung der Gesundheitsentwicklung wesentlich beeinflussen.¹⁷ Er führte den Begriff der Kohärenz in der modernen Medizin ein. Kohärenz kann mit innerem und äußerem Zusammenhalt, Verbundenheit oder Stimmigkeit übersetzt werden. Die drei wichtigsten Komponenten sind Verstehbarkeit, Machbarkeit und Sinnhaftigkeit.¹⁸ In den frühen 1970er-Jahren gründete der amerikanische Kardiologe und Medizinprofessor an der Harvard University das Institute for Mind Body Medicine. Ihr Fokus liegt ebenfalls in der Erforschung von Methoden der Stressbewältigung und Entspannung.¹⁹ In Deutschland hat sich die Mind-Body-Medizin (MBM), vor allem in den Kliniken Essen-Mitte in der Abteilung für Integrative Medizin weiterentwickelt und eine eigene Prägung erhalten. Das Essener Modell unter der Leitung von Prof. Dr. med. Gustav J. Dobos bezieht „neben Strategien der Stressbewältigung und der Entspannung explizit weitere Lebensstilaspekte ein, die auch in der Tradition der europäischen Naturheilkunde Beachtung finden.
²⁰ Ausgebildete MBM-Therapeuten oder Ordnungstherapeuten entwickelten spezielle Interventionsmodule, um Patienten zu verschiedenen Lebensstilbereichen zu informieren, schulen und zu beraten²¹. Das MBM-Programm ist sehr umfangreich und für den stationären, teilstationären und ambulanten Bereich ausgelegt. In der naturheilkundlichen Komplexbehandlung, die im Krankenhaus für Naturheilweisen durchgeführt wird, sind MBM-Therapeuten oder Ordnungstherapeuten nicht vorgesehen. Jedoch erwachsen aus dem Wesen der Ordnungstherapie der Bedarf und der Anspruch, eine eigene Patientenedukation für die stationäre naturheilkundliche Komplexbehandlung zu entwickeln. Dabei soll die Selbstpflegekompetenz des Patienten gefördert