Urbanismus und Verkehr: Beitrag zu einem Paradigmenwechsel in der Mobilitätsorganisation
Von Helmut Holzapfel
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Über dieses E-Book
Das Sachbuch, jetzt in der dritten erneut überarbeiteten Auflage beinahe schon ein
Klassiker der interdisziplinär begriffenen Verkehrs- und Stadtforschung, ist aktueller denn je. Es vermittelt auf kluge Weise Kenntnisse, der historischen und sozio-kulturellen Wurzeln
einer einseitig vom Automobil dominierten Perspektive der Verkehrsplanung. Es zeigt
die Entwicklung einer von fossiler Energie getriebenen Planung, die seit Jahrzehnten
die sozialen und ökologischen Systeme überfordert, und vermittelt darüber hinaus Lösungsansätze, für eine menschengerechtere Stadt- und Verkehrsorganisation, die nicht
ihr Heil in der Distanzüberwindung findet, sondern Qualität in der Nähe. Das völlig
neu konzipierte Schlusskapitel zeigt eindringlich, dass der Wandel in Transport undVerkehr, oft als Verkehrswende bezeichnet, ohne einen radikalen Paradigmenwechsel
in Verhalten, Städtebau und Mobilitätsorganisation nicht gelingen kann.
Die 3. Auflage wird mit einem Vorwort von Jens Hilgenberg, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND), eingeleitet.
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Buchvorschau
Urbanismus und Verkehr - Helmut Holzapfel
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. HolzapfelUrbanismus und Verkehrhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-29587-5_1
1. Einleitung: Straßen und Verkehr: Trennung oder Verbindung?
Helmut Holzapfel¹
(1)
Zentrum für Mobilitätskultur, Kassel, Hessen, Deutschland
Helmut Holzapfel
Email: holz@uni-kassel.de
Ein Buch über Urbanismus und Verkehr muss Trennendes und Verbindendes neu betrachten, will es diesen Zusammenhang, der selten genug beleuchtet wird, angemessen behandeln.
Eine Trennung in der Stadt gab es immer. Ghettos, Straßen für bestimmtes Handwerk, Gebiete mit Villen für Reiche, vieles existierte schon in den römischen Siedlungen oder gar davor. In der Regel wird argumentiert, dass der Verkehr solche unterschiedlichen Dinge verbinden solle. Sicher hatte und hat er diese Rolle. Sie ist jedoch, so soll gezeigt werden, stark abhängig von der Art, der Geschwindigkeit und dem Umfang des Verkehrs. Seine trennende Funktion wird viel zu wenig analysiert. Hier kann lediglich auf die schon klassischen – leider nur in Deutschland bekannten – Arbeiten von Dieter Apel verwiesen werden, der beim Deutschen Institut für Urbanistik dieses Thema immer wieder bearbeitete. Verbindendes und Trennendes zu identifizieren ist jedoch notwendige Basis für eine Einbindung des Verkehrs in den Urbanismus, ist Basis für die Integration in eine soziale Betrachtung des Raumes, wie sie etwa Henri Lefèbvre vornimmt. Dessen Schriften oder auch die Anregungen aus den Arbeiten in Deutschland von Karl Schlögel oder von Dieter Läpple sind in Arbeiten der Verkehrsplanung an den Universitäten kaum zu finden. Jedoch erst eine räumliche Analyse des Verkehrs kann ihn für den Urbanismus erschließen. Ebenso wenig werden in den neueren urbanistischen oder stadträumlichen Analysen, dies sei hier erwähnt, die Verkehrsplanung und ihre Theorien berücksichtigt. Dieses Buch will die zusammenfassende Sichtweise sowohl versuchen als auch nachholen.
Notwendig ist dazu auch eine kurze Aufarbeitung der vielen Missverständnisse über die Rolle des Verkehrs in der Geschichte. Diese Missverständnisse liegen unter anderem daran, dass viele klassische Arbeiten über die Entwicklung der Städte in der Phase der Industrialisierung/des Fordismus entstanden und das damals neue Phänomen des für viele nutzbaren Fernverkehrs in die Vergangenheit projizierten. Zudem erfolgte eine verfehlte Darstellung der Rolle des Verkehrs in den letzten Jahren, da die Debatte sehr stark am modernen Zuwachs des Ferntransportes orientiert wurde. Beide Einflüsse führen, so soll dieses Buch zeigen, vor allem zu einer starken Überschätzung der Relevanz des Fernverkehrs für die Stadtentwicklung. Erst eine Klärung des Wissensstandes über den Zusammenhang von Raum und Verkehr eröffnet die Chance der realistischen Einschätzung der aktuellen Entwicklungen.
Das Ziel dieser Arbeit ist nicht nur der Versuch, weitverbreitete Vorurteile über Verkehr und dessen Wirkung auf Stadt und Raum zu widerlegen, sondern auch und gerade Strategien zum Umgang mit den aktuellen urbanistischen Fragen zu liefern. In der aktuellen Diskussion um „globale" Räume hat der Verkehr nämlich in der Tat eine völlig neue und den Trend zur Entfernung stark stützende Funktion gewonnen (Abb. 1.1). In diesem Zusammenhang wurde sogar die These formuliert, dass Entfernung gar keine Rolle mehr spiele, weil etwa die Sendung einer E-Mail von jedem Punkt der Erde aus zu jedem anderen gleich viel Zeit benötige. Hingegen ist es so, dass Raum immer noch existiert, insbesondere im Alltag der Menschen, und dort eine wesentliche Rolle spielt. In der aktuellen Entwicklung hat sich jedoch der Raum in nie da gewesener Weise in seiner Zugänglichkeit und räumlichen Konfiguration sozusagen „verschoben. Dabei ist es eine Folge der modernen Formen des liberalen Kapitalismus, dass immer neue Bilder des Raumes, verschiedene „Landkarten
, entstehen, die sich wechselseitig überlagern. Dabei entstehen sowohl – und oft vorübergehend – neue Zentren als auch Entvölkerung oder Verwüstung (z. B. aufgegebene Industrieanlagen oder entlegene Orte).
Am allerdeutlichsten, und dies wird Thema der weiteren Ausführungen sein, ist jedoch die Entstehung von weitgehend abgeschlossenen, durch Netzwerke miteinander verbundenen Inseln oder, der Ausdruck wurde von Karl Schlögel aus einer Debatte¹ in Kassel übernommen, Archipelen. Diese Räume, abgeschlossene Wohnviertel, abgeschlossene Ferienanlagen für Reiche, gesicherte Wohnviertel etwa in Südafrika,² entwickeln sich mehr und mehr zu einer auch in Europa und in vielen Städten vorkommenden Normalität. Roger Buergel hat es in einer Sitzung des documenta-Beirats wie folgt umschrieben: „In einer englischen Stadt wohnen heute indische Arbeiter in einem Nachbarviertel mit der ehemaligen englischen Arbeiterklasse. Beide sind aber trotzdem fast so weit voneinander entfernt, wie noch im 19. Jahrhundert. Soziale Differenzen und Widersprüche wird und muss es immer geben, sie äußern sich in vielen Fällen durch Abgrenzung. Zu dieser „Verinselung
von Stadtgebieten trägt Verkehr erheblich bei. Er stützt dabei freilich die Netzwerke der indischen Arbeiter, die sie untereinander verbinden, die aber wieder verschieden sind von denen der englischen Arbeiter. Er trennt aber auch, häufig durch Magistralen und kaum überwindbare Hauptverkehrsstraßen auch effektiv und ganz simpel, Wohnviertel ab. Die englischen Autoren Stephen Graham und Simon Marvin beschreiben das Ganze als „splintering urbanism"³, ohne die Rolle des Verkehrs dabei letztlich klären zu können. Siedlungen und Regionen werden – wir werden dies im Folgenden zeigen – zu sozial segregierten und in unterschiedlichen Kommunikationsnetzen⁴ organisierten, zersplitterten Einheiten.
Eine Arbeit, die sich mit Urbanismus und Verkehr und den aktuellen Fragen der Weiterentwicklung beschäftigt, muss diesen Sachstand zum Ausgangspunkt ihrer Überlegung nehmen. Sie muss damit auch eine Geschichte der Straße von einer nützlichen Einrichtung hin zu einer – nicht nur von Bürgerinitiativen – ungeliebten Angelegenheit aufzeichnen. Eine wesentliche künftige Aufgabe – die auch eine gesellschaftliche Dimension hat – könnte sein, die Archipele im urbanen (und suburbanen) Raum wieder zu verbinden und zusammenzufügen. Zentrale Widersprüche der Postmoderne sind fraglos die mangelnde friedliche Konfliktfähigkeit oder einfach nur Unkenntnis der Lebensbedingungen und Probleme von Gruppen untereinander. Mitmenschlichkeit, Entwicklung und Weiterentwicklung von Kulturformen können nur durch direkte persönliche Kontakte und Auseinandersetzung entstehen. Eine Fortführung oder ein Wiedergewinnen der städtischen Integrationskraft wäre auf eine Überbrückung, auf Brücken zwischen den Archipelen, angewiesen, eine neue und zukunftsweisende Aufgabe für die Stadt- und Verkehrsplanung. Wesentliches Ziel dieses Buches ist also auch, Anleitungen und Planungshinweise zum Umgang mit der „archipelisierten", fragmentierten modernen Stadt zu entwickeln und damit Anregungen für die aktuelle Planungspraxis zu geben.
../images/291364_3_De_1_Chapter/291364_3_De_1_Fig1_HTML.pngAbb. 1.1
Die Eisenbahn – durch sie sind erstmals in der Geschichte weit voneinander entfernte Ziele in die „Nähe" gerückt.
(Darstellung: Jan Houdek)
Literatur
Flusser, Vilém: Kommunikalogie. Frankfurt am Main 1998.
Graham, Stephen; Marvin, Simon: Splintering Urbanism. New York 2001.
Fußnoten
1
Auf dem „Interviewmarathon" mit Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist am 05.08.2007.
2
Sogenannte „Gated Communities".
3
Vgl. Graham, S.; Marvin, S. 2001.
4
In diesem Wort taucht in diesem Buch der sehr breit und oft durchaus missverständlich gebrauchte Begriff der „Kommunikation" zum ersten Male auf. Er wird im Folgenden nicht für den Austausch sinnlosen Rauschens, sondern (etwa im Sinne von Flusser, V. 1998, S. 12/13) als Prozess der Entstehung und des Austausches von Unterschieden, also als „negentropischer Prozess" betrachtet.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
H. HolzapfelUrbanismus und Verkehrhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-29587-5_2
2. Verkehr und Urbanismus in den Köpfen der Menschen
Helmut Holzapfel¹
(1)
Zentrum für Mobilitätskultur, Kassel, Hessen, Deutschland
Helmut Holzapfel
Email: holz@uni-kassel.de
2.1 Mobilität – eine Kultur und ein Phänomen der Industrialisierung
Es könnte in einer wissenschaftlichen Arbeit außer Belang bleiben, was über Verkehr gedacht wird, man mag vielleicht annehmen, es komme dabei auf die Realität, die physikalische Wirklichkeit, an. Das ist aber fast nirgends so weit gefehlt wie bei der Analyse unserer Fortbewegung. Hier schon zu Beginn und im Weiteren kann modernes Herumbewegen von Personen und Waren nur erklärt werden, wenn die Bilder und Vorstellungen in den Köpfen der Menschen immer mit betrachtet werden. Verkehr ist, auch wenn es selten genug gesagt wird, im Wesentlichen auch eine kulturelle Erscheinung, eine Kopfgeburt, die sich jeweils aus einer Sichtweise heraus entwickelt. Planungen und Verkehrsverhalten (bis hin zum Kauf eines bestimmten Autotyps) hängen von einem „Bild im Kopf der Menschen ab, das von der Realität oft weit entfernt ist. Die relative Starrheit des Verkehrswesens mindestens in den letzten 30 Jahren gegenüber Veränderungen hat sicher einen Grund darin, dass in diesem Bereich sehr wenig reflektiert wird. Wenn also dieses Buch die Überlegungen mit den „Bildern im Kopf
beginnt, so ganz zentral zu dem Zweck, eine Beziehung zu den Menschen und dem Handeln im Verkehrsbereich herzustellen.
Der Versuch, den Verkehr in ganzheitlicher Weise in Beziehung zu den Menschen zu setzen, existiert bisher höchst selten. Viele werden sich sogar fragen, was beides überhaupt miteinander zu tun hat: Verkehr und Transport stehen den Menschen als technische Größen gegenüber. So jedenfalls hat es uns über Jahre die Wirklichkeit in der Planung vorgemacht. In Ämtern oder Behörden fachlich getrennt von seinen wesentlichen Begleitern, dem Wohnen oder der Planung unserer Siedlungen, und erst recht getrennt von der Frage, was Verkehr denn für die Menschen und ihr Zusammenleben bringt, wird hier seit Jahrzehnten gearbeitet. In der Folge ist es in der Tat ungewöhnlich, dass dieses Buch der Frage nachgeht, was das im letzten Jahrhundert so gewachsene Herumfahren von Menschen und Sachen für unser Zusammenleben, vor allem im urbanen Bereich, bedeutet.
Bei der Frage nach den Bildern in den Köpfen der Menschen ist zunächst ein Blick auf die verwendeten Begriffe unerlässlich. Das Denken hangelt sich an Begriffen voran, häufig genug wird nicht nach deren Geschichte gefragt. Die in diesem Zusammenhang in Deutschland in der Debatte verwendeten Worte Verkehr und Mobilität, die in der aktuellen Kultur zentrale Bedeutung haben, sind, jedenfalls in der Art der heute verwendeten Begrifflichkeiten, keineswegs alt. Mit dem Wort Verkehr wurde im 19. Jahrhundert vor allem gesellschaftlicher Umgang von Menschen untereinander in Form von Austausch und Sozialbeziehung bezeichnet. Erst um 1900 bekommt dieses Wort seine aktuelle Bedeutung des Transportes von Waren und Menschen. In diesem Zusammenhang wird es erstmals im Brockhaus von 1909 definiert. Allein schon der Begriff des Verkehrs im Sinne von Transport ist also erst in der Gründerzeit etabliert worden. Den Begriff „Mobilität kennt etwa das erste deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm, dessen Band mit dem Buchstaben M erst 1885 im Nachgang von M. Heyne bearbeitet erschien, noch gar nicht. Bei „mobil
fiel einem damals bestenfalls das Militär ein, das mobilmacht, sich in „marschfertigen Stand" versetzt. Der offensichtlich aus den letzten zwei Silben des Wortes Automobil auf den Verkehr abgeleitete Begriff wird eigentlich erst in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts im Sinne des automobilen Herumfahrens genutzt. Noch das deutsche Fremdwörterbuch des Dudens von 1974¹ übersetzt Mobilität nur mit geistiger Beweglichkeit, der Umzugshäufigkeit, der Beweglichkeit zwischen sozialen Gruppen (Soziologie). Bis heute fehlt eine klare Definition. Im Verkehrswesen werden darunter gemeinhin entweder die Häufigkeit der täglichen Fahrten (wahrscheinlich mit dem Automobil) oder die jährlich zurückgelegten Kilometer einer durchschnittlichen Person verstanden. Andere – wissenschaftlich sicher sinnvollere – vorgeschlagene Definitionen, wie etwa die von Eckhard Kutter definierte „Mobilität" als Fähigkeit der Menschen, in einer vorgegebenen Zeit vom Haus aus eine möglichst große Auswahl verschiedenartiger Aktivitätsmöglichkeiten und Einrichtungen zu erreichen, setzten sich ganz offensichtlich nicht durch.
Jedenfalls erreichte der Begriff Mobilität innerhalb kurzer Zeit eine geradezu ungeheure Konjunktur, in Deutschland benutzte ihn vor allem der Automobilverband ADAC, um der erstarkenden Umweltbewegung entgegenzutreten. Dies führte am Ende sogar so weit, dass zu Beginn dieses Jahrhunderts ernsthaft und intensiv diskutiert wurde, das Recht auf „Mobilität" in die deutsche Verfassung aufzunehmen, wie es der Rechtsprofessor Michael Ronellenfitsch im Sinne von Mobilität mit dem Auto immer wieder forderte.² In der Tat könnte man meinen, es müsse ja den Menschen über die Jahrtausende hinweg nur nicht eingefallen sein, dass sie ein Grundbedürfnis zum schnellen Herumfahren hätten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Herumfahren?
Der so verwaschene Begriff von Mobilität spielt in der Diskussion von Verkehr nun nicht nur in Deutschland, sondern auch international eine zentrale Rolle. Häufig wird nicht einmal danach gefragt, wer eigentlich ein Recht auf Mobilität haben sollte. So stellt Dietmar Kettler³ etwa provozierend die Frage, ob ein Grundrecht auf Mobilität nun auch für Kinder und Jugendliche gelte, die ja in der Regel zu Fuß unterwegs sind. Die automobile Mobilität wird fast ausschließlich mit höherem Nutzen, mehr Verständigung unter den Menschen und mehr Wohlstand verbunden. Dass es zu viel davon geben könnte, gilt als komische Frage. Selbst viele im Umweltschutz tätige Personen sehen viel Herumfahren von Waren und Personen eigentlich als wünschenswert an, begrenzt allerdings nur durch die dabei verbrauchte Energie. Eine der wenigen kulturgeschichtlichen Analysen, die darstellen, wie dies alles kam, hat Wolfgang Sachs mit seiner Kulturgeschichte des Automobils⁴ geliefert, die allerdings auch den Aspekt der Verkehrsplanung nur eher am Rande behandeln kann.
Nur im Tourismus (etwa von Enzensberger schon 1958)⁵ gibt es ausgearbeitete Ansätze, kritisch der Frage nachzugehen, was denn das viele Reisen bringe. Dagegen wird in der Verkehrsforschung selbst, aber auch in der Stadtplanung und im Urbanismus dieses Thema keineswegs häufig behandelt. Seltene Vertreter, die sich der Frage stellten, waren wohl Carl Benz, einer der Erfinder des Autos, der dessen unbegrenzte Verbreitung als geradezu fürchterliche Vision empfand, oder der schwedische Geograf Thorsten Hägerstrand, der in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Frage aufwarf, ob denn grenzenlose Mobilität sinnvoll sei. Welche Einflüsse nun die Menschen bei der ganzen Sache bewegen könnten, also Fragen wie Mitmenschlichkeit oder gar Gefühle, gelten in der gesamten Verkehrsforschung kaum als Thema. Lediglich die Verkehrspsychologie, die sich aber wesentlich mit Reaktionen der Autofahrer im Verkehrssystem beschäftigt, streift die Thematik ab und an, thematisiert aber die Bedeutung der Mobilität „in den Köpfen" nur selten.
Damit wird die Abhängigkeit dessen, was wir über Verkehr und Urbanismus denken, von unserer heutigen Situation in der Geschichte eben kaum deutlich. Die heutige Form des Verkehrs mit explodierenden Entfernungen und internationalen Netzen ist aber eine Erscheinung der neuen Zeit und eine Vorstellung der Kultur der Moderne, einer Kultur, die ihre Wurzeln wohl im Mittelalter hatte.⁶ Wie häufig, so glauben Menschen auch hier, dass eine Zeiterscheinung ewig andauere und seit ewigen Zeiten bestehe.
Jakob Burckhardt widmet ein Kapitel in den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen der „lächerlichen Selbstsucht
, alles für Glück zu halten, was Ähnlichkeit mit dem eigenen Wesen habe, und dies auch noch in die Geschichte und in die Zukunft hinein zu projizieren.⁷ Ein Beispiel für solches Verhalten ist, das im 20. Jahrhundert geprägte Wort „Mobilität" als ein menschliches Grundbedürfnis zu definieren, ja sogar als unverzichtbaren Teil menschlicher Existenz in die deutsche Verfassung eintragen zu wollen.
Ein gutes Beispiel für den Stand der aktuellen Debatte, wie sie wohl weltweit in Politik, Banken und der etablierten Öffentlichkeit üblich ist, gab etwa der immerhin mit Verkehrspolitik fachlich lange befasste ehemalige Berliner Senator Thilo Sarrazin in einer Rede: „Wie der immerwährende, ja noch stetig wachsende Kult des Freizeitmenschen um Auto, Boot, Flugzeug, Ski, Turnschuhe und alle Mittel der Fortbewegung zeigt, ist uns offenbar diese Neigung tief ins Stammhirn eingepflanzt und rational nicht zu hinterfragen."⁸ Überlegt man näher, muten Sarrazins Bemerkungen zum immer weiteren Herumfahren mehr als lächerlich an: „Tief im Stammhirn, gar „immerwährend
soll etwas sein, das die Erfinder des Automobils für keineswegs wünschenswert hielten: das massenhafte Herumfahren der Menschheit. Der oben bereits erwähnte Wolfgang Sachs zeigte in seiner kulturanalytischen Arbeit über die Entwicklung der „Liebe zum Automobil bereits deutlich auf, dass, wie bei allen vergänglichen Moden in der Geschichte der Menschheit, auch im Falle des Automobils die Werte und Begrifflichkeiten, die sich mit seinem Aufstieg verbanden, erst entwickelt wurden. Nicht nur die Begriffe Mobilität und Verkehr selbst, sondern auch viele ihrer Begleiter sind teilweise kaum mehr als 100 Jahre alt: Begriffe wie „Tempo
und „Rekord begannen ihre Konjunktur erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Begriffe wie „Verkehrsader
oder „Verkehrsfluss" entstanden gar erst gegen Ende des 2. Weltkrieges.
Es ist ausdrückliche Absicht dieser Arbeit, die vielen, durch die Betrachtungsweise, mit der wir die Welt sehen, bedingten und im Kopf eingestanzten Vorurteile zu widerlegen, die in ihrer Zusammenfassung eine Art Ewigkeitsglauben an die Art der Fortbewegung und die Art und Weise, wie die Menschen heute mit Raum und Zeit umgehen, erzeugt haben. Das führt dann selbst bei unbelegten und populistischen Ausführungen, wie sie der oben zitierte Politiker Thilo Sarrazin zum Besten gibt, zu einem bestätigenden Kopfnicken eines scheinbar aufgeklärten Publikums.
Bilder im Kopf entstehen und bestehen natürlich nur, wenn diese in den komplexen sozialen, materiellen und psychologischen Prozessen der Realität ihre