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Von La Strada bis The Hours - Leidende und souveräne Frauen im Spielfilm
Von La Strada bis The Hours - Leidende und souveräne Frauen im Spielfilm
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eBook793 Seiten9 Stunden

Von La Strada bis The Hours - Leidende und souveräne Frauen im Spielfilm

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Über dieses E-Book

Weiblichkeit im Film hat viele Facetten: Starlets und Diven, eigensinnige, tapfere und souveräne Frauenfiguren. Im Kino ist mehr zu erleben als die einfache Formel vom männlichen Blick erwarten lässt. Das Buch zeichnet in 29 psychoanalytischen Interpretationen nach, wie die Inszenierung der Frau im Film auf Zuschauerinnen und Zuschauer wirkt.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum12. Aug. 2021
ISBN9783662626818
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    Buchvorschau

    Von La Strada bis The Hours - Leidende und souveräne Frauen im Spielfilm - Vivian Pramataroff-Hamburger

    Hrsg.

    Vivian Pramataroff-Hamburger und Andreas Hamburger

    Von La Strada bis The Hours – Leidende und souveräne Frauen im Spielfilm

    1. Aufl. 2021

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    Logo of the publisher

    Hrsg.

    Vivian Pramataroff-Hamburger

    Frauenärztin, Psychotherapeutin, München, Deutschland

    Andreas Hamburger

    International Psychoanalytic University Berlin, Berlin, Deutschland

    ISBN 978-3-662-62680-1e-ISBN 978-3-662-62681-8

    https://doi.org/10.1007/978-3-662-62681-8

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://​dnb.​d-nb.​de abrufbar.

    © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

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    Lektorat/Planung: Renate Scheddin

    Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature.

    Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

    Vorwort

    Zur Einleitung: Frauen und Kino

    Sind Frauen im Film wirklich nur die, die gesehen und gezeigt werden? Wo sind die, die selbst sehen und selbst auf etwas zeigen? Wo sind die Frauen im Publikum, hinter Kamera? Wenn, wie die feministische psychoanalytische Filmkritik richtig anmerkt, die Stars und Starlets vor allem im Hollywood-Mainstreamkino dem männlichen Blick als Augenschmaus und Selbstvergewisserung dienen sollen, was ist dann die Rolle der Frauen, die nicht in dieses Schema passen, der Antiheldinnen, der fühlenden und handelnden Frauen, derer, durch deren Augen die Welt ein gänzlich anderes Angeschaut-Werden erfährt? Nicht nur im Arthousekino, sondern auch im Mainstream steckt in den tausend Facetten der inszenierten Weiblichkeit weit mehr als die einfache Formel vom männlichen Blick.

    Das Buch zeigt an großartigen und auch an kontroversen Filmen verschiedenste Inszenierungen von Weiblichkeit auf und erkundet (entsprechend dem Vorgehen der Filmpsychoanalyse), wie diese Inszenierungen auf das Unbewusste oder auch auf das Noch-nicht-Bewusste von Zuschauerinnen und Zuschauern wirkt.

    Mit ihrem coolen Satz „We are all of us stars, and we deserve to twinkle hat Marilyn Monroe selbstbewusst ihre Berufsgruppe markiert – durchaus augenzwinkernd, denn sie sagte ja eben nicht: „to sparkle. Der erste Teil des Buches widmet sich deshalb der (Selbst-)Inszenierung von hinreißenden Frauen – vor allem mit Filmen, die diese auf den männlichen Blick zugeschnittene Inszenierung auch ironisieren und hinterfragen.

    Bereits nach dem Krieg tauchten im Kino starke, beharrliche Frauen als Protagonistinnen auf. In Deutschland war der Zweite Weltkrieg mit einer zivilisatorischen Katastrophe verbunden und hinterließ eine „vaterlose Gesellschaft". Schon im ersten deutschen Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (D 1946; R: Wolfgang Staudte) ist es die KZ-Überlebende Susanne (Hildegard Knef), die dem Kriegsheimkehrer Hans (E.W. Borchert) dabei hilft, sein Trauma zu überwinden und an seinem Antagonisten, dem Kriegsverbrecher Becker, nicht einfach Blutrache zu nehmen und damit die Spirale des Unrechts weiterzudrehen.

    Doch auch in anderen Kinokulturen wurde nach dem Krieg die Rolle der Frau neu definiert. Vom Image als Starlet und Luxusspielzeug emanzipiert, kommen jetzt Frauengestalten zur Geltung, die die Handlung aktiv bestimmen, intellektuell überlegen sind. Abgezeichnet hatte sich das in den USA schon in der Screwball Comedy der 1930er-Jahre, als Reaktion auf die gesellschaftliche Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise. Mit dem Fortschreiten der Emanzipation und dem Ende des Kalten Krieges hat sich diese Frauenfigur fest im allgemeinen Bewusstsein – und damit auch im Kino – etabliert. Frauen verlassen (wenn auch nicht ganz und nicht für immer) die Rolle als Objekt des männlichen Blicks und werden entschlossen zum Subjekt der Geschichte – und auch, nicht zu vergessen, zum Subjekt des Begehrens. Die Beiträge im zweiten Teil („Starke Gefühle. Frauen als beharrliche Subjekte") zeigen, auf wie unterschiedliche Weise und in wie unterschiedlichen Genres die Figur der Frau als beharrlich Lenkende auftaucht und wie sie geschildert wird.

    Frauen können Mutter sein bzw. es noch werden. Diese Fähigkeit zu kopieren, ist der Männerwelt trotz mancher Anstrengungen noch nicht gelungen – sogar Arnold Schwarzenegger schafft es nur im Kino (Junior, US 1994). Mütterlichkeit als Filmthema ist in vielen Facetten aufgegriffen und inszeniert worden. Die Beiträge im dritten Teil „Mütter und Töchter" zeigen, wie der Film das Thema der Mütterlichkeit – und ihrer Spiegelung in der Tochter – variiert.

    Frauenleiden. Krankheit und Geheimnis im Film

    In ihrem Buch Nur über meine Leiche beschrieb Elisabeth Bronfen vor allem anhand von Beispielen aus der englischen Literatur, aber auch an Hitchcocks Vertigo die enge ästhetische Verschränkung des unbegreiflichen weiblichen Körpers mit dem Tod. Man könnte diese Todesdimension als Gegenstück zur Fähigkeit, Kinder zu gebären, interpretieren, um die es im vorhergehenden Abschnitt des Buches ging. Das Kino hat diese tödliche Dimension der Weiblichkeit vielfach in Szene gesetzt, auch in der Näherung durch geheimnisvolle Krankheiten. Diese Dimension des Weiblichen zählt zu den wirksamsten Männerphantasien – wie sich noch an Basic Instinct zeigen lässt, einem Film, in dem die Figur der Catherine Tramell (Sharon Stone) durch vollkommene sexuelle Kontrolle und ungebremste mörderische Energie gezeichnet ist, im Gegensatz zu dem impulsiven Cop Nick Curran (Michael Douglas) und seinen tapsigen Kollegen. Welche Erwartungen von Zuschauern – und von Zuschauerinnen – bedient dieser (durchaus umstrittene) „Erotikthriller"? Sind sie verwandt mit dem unbewussten Bild der gefährlichen Frau, auch wenn man der Krankheit der Protagonistin das Besessene nimmt, sie als Gescheiterte zeigt wie in Woody Allens lyrischem Film Blue Jasmine? Die drei Filme, die wir für den vierten Teil des Bandes („Frauenleiden. Krankheit und Geheimnis im Film") ausgewählt haben, zeigen allesamt Frauen mit rätselhaften Obsessionen und ausgeprägter Fähigkeit zur Manipulation: Marnie (US 1964), Misery (US 1990) und Der Liebeswunsch (D 2006).

    In vielen Versionen hat das Kino Frauen als dämonische oder intrigante Strippenzieherinnen gezeichnet, und es arbeitet dabei immer mit Publikumserwartungen. Schon Hitchcocks klassische Verfilmung des Romans Rebecca von Daphne du Maurier kann als Dramatisierung weiblicher Identität durch Aufspaltung auf mehrere Frauenfiguren gelesen werden. Im düsteren Manderley trifft die junge und naive zweite Frau des Witwers Maxim de Winter auf den Geist von dessen toter Frau Rebecca und ihre intrigante Dienerin Mrs. Danvers. In einer spannenden Suspense-Handlung entpackt sich langsam eine über den Tod hinausreichende Intrige. Auch Witness for the Prosecution ist ein klassischer Beitrag zu „Strippenzieherinnen. Wenn Frauen das Geschehen lenken".

    Offenbar erreichen bis heute Filme, die Frauen als Spielmacherinnen zeigen, ein großes Publikum. David Finchers Gone Girl, in dem eine von ihren Eltern medialisierte Tochter in ihrer scheiternden Ehe einen mörderischen Plan entwickelt, war ebenso wie die Buchvorlage von Gillian Flynn ein überraschender Hit.

    Es waren nicht immer, aber immer öfter die Regisseurinnen, die einen anderen, vom Gesehenwerden emanzipierten Blick auf die Protagonistin eröffnen. Zunächst haben sich starke Schauspielerinnen mit Kraft dem männlichen Blick entzogen und überzeugend ein eigenes Begehren auf die Leinwand gebracht, wie Anna Magnani in The Rose Tattoo und Liz Taylor in Who’s Afraid of Virginia Woolf – dann aber waren es schon die starken Regisseurinnen wie Margarethe von Trotta, Jane Campion, Nancy Myers und Sofia Coppola, die eine eigene Filmsprache schufen und schaffen und die „Revolte gegen die Kamera" anführen.

    Wie sehr im Mainstream und in der Kultur des 20. Jahrhunderts die Frau einem Konstrukt entsprechen sollte, das den Wünschen der Männer genügen (und zugleich ihre Ängste in Schach halten) sollte, zeigt die lange Literaturgeschichte und die nicht ganz so lange Filmgeschichte der „Artefakte und phantasierten Frauen". Von Pygmalion bis zu Her und dem Vampirfilm zieht sich ein Faden, der zeigt, wie am Ende die künstliche Frau selbst das Heft in die Hand nimmt.

    Aber nicht nur die künstlichen Frauen, auch die großen Charakterdarstellungen des weiblichen Kinos, von denen einige im Abschnitt zur „Selbstermächtigung und Identität" besprochen werden, zeigen, wie sich aus den ersten, starken Monolithen im Lauf des Kinojahrhunderts Frauenfiguren entwickelt haben, deren Identität nicht mehr auf Abgrenzung beruht, sondern ganz selbstverständlich für sich steht. Scheiterte die historische Virginia Wolf noch am aussichtslosen Kampf gegen das Definiertwerden, so zeigt The Hours, eine Geschichte über die tragische Figur der großen Autorin und zwei Generationen ihrer Leserinnen, wie die Utopie in die Wirklichkeit kommt. Haben die Frauen, wie in Carol, zunächst einen hohen Preis bezahlt, um selbst zu träumen und nicht nur Traumfrauen sein zu dürfen, so zeigt sich die Zukunft ausgewogener und das Kino vielfältiger.

    Um der Lesbarkeit des Buches willen haben wir die Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Beiträge nach einem bestimmten Schema zu gliedern, das zuerst einen kurzen Überblick über Filmhandlung und -hintergrund bietet und dann im Schwerpunkt die Frage behandelt, wie das Weibliche in dem besprochenen Film inszeniert wird. Ausnahmen von dieser Regel haben wir für zwei Autorinnen gemacht, die zu unserer besonderen Freude zu einem „Gastauftritt" bereit waren: Laura Mulvey, die Grande Dame der psychoanalytisch-feministischen Filmkritik, deren reichhaltige Filmassoziationen zu Godards Le Mépris zeigen, dass Kino eben etwas ganz anderes ist als Handlung – und Dagmar Leupold, eine große Gestalterin der deutschen Gegenwartsprache, mit ihrer sehr persönlichen Lektüre von Pane e tulipani, die uns erneut vor Augen führt, wie nahe der psychoanalytische Blick doch dem literarischen ist.

    Wir danken all unseren Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, an diesem Buch mitzuwirken, unsere vielfachen Mäkeleien geduldig zu ertragen und schließlich den Band zu einem guten Abschluss zu bringen; besonders auch Renate Scheddin und Anja-Raphaela Herzer vom Springer-Verlag Heidelberg für ihre Ermutigung und kundige Betreuung.

    Vivian Pramataroff-Hamburger

    Andreas Hamburger

    München, DeutschlandBerlin, Deutschland

    Oktober 2020

    Inhaltsverzeichnis

    Teil I „We are all of us stars, and we deserve to twinkle." Selbstinszenierungen als Objekt der Begierde

    1 Sunset Boulevard – Diva als Dämon (US 1950) 3

    Matthias Baumgart

    2 Stilikone als Lebenslüge – Frühstück bei Tiffany (Breakfast at Tiffany’s, US 1961)19

    Mechthild Neises

    3 Ein „Gewebe aus Zitaten"– Godards Die Verachtung und seine Geschichte des Kinos (Le Mépris, F, I 1963))33

    Laura Mulvey

    4 Der Blick hinter den Schleier – Was ist eigentlich „obskur" an Luis Buñuels obskurem Objekt der Begierde? (Cet obscur objet du désir,F, ES 1977))47

    Manfred Riepe

    Teil II Starke Gefühle. Frauen als beharrliche Subjekte

    5 Poesie und Realität. Zerstörte Seelenlandschaften: La Strada Das Lied der Straße (I 1954))65

    Katharina Leube-Sonnleitner

    6 Der schwarze Vogel Frau – Die Inszenierung der Weiblichkeit in Alfred Hitchcocks Die Vögel (The Birds, US 1963))79

    Gerhard Schneider

    7 Trauma, Depression und transgenerative Suizidalität – Psychoanalytische Anmerkungen zum Film Die Wand (A, D 2012))95

    Marianne Leuzinger-Bohleber

    8 Robuste Weiblichkeit in Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (US, GB 2017)111

    Svetlozar Vassilev

    Teil III Mütter und Töchter

    9 Warum Mütter unsterblich sind – Alles über meine Mutter (Todo su mi madre, ES 1999)125

    Christa Rohde-Dachser

    10 Understanding Bridget Jones. Die Inszenierung der postfeministischen weiblichen Identität in Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück (Bridget Jones’s Diary, GB, IRL, F 2001)139

    Sabine Metzger

    11 Ida und ihre Mütter (Ida, P, DK, F, GB 2013)155

    Nadia Kozhouharova

    Teil IV Frauenleiden. Krankheit und Geheimnis im Film

    12 Spiegelwelten – Black Swan (US 2010)173

    Irmgard Nagel

    13 „You Freud, me Jane?" – Bilder von Weiblichkeit und Liebe in Alfred Hitchcocks Marnie (US 1964)187

    Dirk Blothner

    14 Der Thriller und das Leid – Misery (US 1990)201

    Gerhard Bliersbach

    15 „Du bist der einzige Mensch, der mich mir selbst zurückgeben kann": Passionen der Selbstentwürfe und Selbstverwerfung – Der Liebeswunsch (D 2006)215

    Benigna Gerisch

    Teil V Strippenzieherinnen. Wenn Frauen das Geschehen lenken

    16 Die Ersatzfrau – Alfred Hitchcocks Rebecca (US 1940)233

    Andrea Sabbadini

    17 Die Wahrheit der Frauen – Zeugin der Anklage (Witness for the Prosecution, US 1958)245

    Eva Friedrich

    18 I’m Not Your Nice Girl – Gone Girl (US 2014)259

    Sabine Wollnik

    19 Die Pforte zur Nacht – Der Nachtportier (Il portiere di notte, I 1974)275

    Marcus Stiglegger

    20 Auf der Suche nach der verlorenen Mutter – Das Piano (NZ, AU, F 1993)287

    Wolfgang Mertens

    Teil VI Revolte gegen die Kamera. Der Aufstand gegen den „männlichen Blick"

    21 Eine Frau zwischen den Zeiten – Lost in Translation (US 2003)303

    Andreas Hamburger

    22 Verfolgende Leere – Obsession und (Ohn-)macht in Kathryn Bigelows Blue Steel (US 1990)315

    Reinhold Görling

    Teil VII Artefakte und phantasierte Frauen

    23 S.O.S – Spike Jonzes Her als ein Film über Beziehungsvorstellungen und Trauerprozesse (US 2003)331

    Timo Storck

    24 Vagina dentata – Underworld (US, GB, H, D 2003)345

    Hannes König

    Teil VIII Selbstermächtigung und Identität

    25 Keep Going – Thelma & Louise (US 1991)361

    Andreas Hamburger und Vivian Pramataroff-Hamburger

    26 Von Ewigkeit zu Ewigkeit (The Hours, US 2002)373

    Annegret Mahler-Bungers

    27 Liebe mit dem Geschmack von Salz – Carol (GB, US 2015)389

    Vivian Pramataroff-Hamburger

    28 Das Ende einer großen Liebe? – Blue Valentine (US 2010)401

    Ralf Zwiebel

    29 Durch die Blume gesagt – Brot und Tulpen (Pane e tulipani, I, CH 2000)415

    Dagmar Leupold

    Teil I„We are all of us stars, and we deserve to twinkle." Selbstinszenierungen als Objekt der Begierde

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    V. Pramataroff-Hamburger, A. Hamburger (Hrsg.)Von La Strada bis The Hours - Leidende und souveräne Frauen im Spielfilmhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62681-8_1

    1. Sunset Boulevard – Diva als Dämon (US 1950)

    Matthias Baumgart¹  

    (1)

    Psychoanalytiker, Grünwald, Deutschland

    Einleitung

    Unter einem Dämon verstehen wir heute einen bösen Geist, von dem man besessen ist. Für Sokrates jedoch war ein Dämon eine warnende innere Stimme. In Sunset Boulevard kommen, wie diese Arbeit zeigen soll, durch die Figur Norma Desmond und den Blick auf sie beide Aspekte zusammen. Die damit verknüpften unbewussten Fantasien machen die bis heute wirksame Faszination des Films aus.

    Filmhandlung

    Sunset Boulevard, im Morgengrauen: Ein Toter liegt im Pool, Polizei rückt an. Aus dem Off erzählt eine Stimme, wie es dazu kam – es ist die Stimme des Toten, Joe Gillis (William Holden). Die gesamte Filmhandlung folgt nun als Rückblende: Gillis, ein abgebrannter Drehbuchautor, bemüht sich vergeblich um neue Aufträge. Bei einem Filmproduzenten kritisiert dessen junge Mitarbeiterin, Betty Schaefer (Nancy Olson), seinen letzten Drehbuchentwurf. Schuldeintreiber wollen ihm sein Auto abjagen. Mit geplatztem Reifen bringt er sich in der Garage der riesigen Villa von Norma Desmond (Gloria Swanson) in Sicherheit. Die alternde Diva und ihr Diener Max von Mayerling (Erich von Stroheim) leben dort völlig abgeschieden und halten ihn für einen Bestatter: Normas Schimpanse ist verstorben. Als Joe sich als Autor zu erkennen gibt, engagiert ihn Norma kurz entschlossen: Er soll ihren Drehbuchentwurf über das Salome-Thema umarbeiten. Er willigt ein, hofft auf schnelles Geld. Doch statt ihn zu bezahlen, bindet ihn Norma in ihr ödes Luxusleben ein, dessen einziger Sinn im Schwelgen in Vergangenem und dem Sinnen nach neuem Starruhm besteht, aufgelockert nur durch Besuche anderer Stummfilmstars. Am Silvesterabend versucht Norma, Joe zu verführen. Joe weist sie zurück, flieht zu einer Feier seines Freundes Artie (Jack Webb) und will dort unterschlüpfen. Dort trifft er Betty, die Arties Verlobte ist. Sie schlägt ihm vor, mit ihr ein Drehbuch zu schreiben. Es entwickelt sich spielerisch eine Anziehung zwischen den beiden. Er will spontan seine Sachen aus Normas Villa abholen lassen, erfährt aber beim Anruf dort, dass diese versucht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Überstürzt eilt er zu Norma. Reumütig und doch widerstrebend geht er nun eine Beziehung mit ihr ein. Nach einem Anruf von Paramount Pictures glaubt Norma, dass Cecil B. DeMille ihr Drehbuch verfilmen möchte. Sie fährt persönlich in die Paramount-Studios. Dort wird sie zwar erkannt und hofiert, Max jedoch erfährt, dass der Anruf nur Normas Wagen galt, einem imposanten alten Isotta Fraschini.¹ Die Studios wollten ihn als Requisite mieten. Max hält das vor Norma geheim, erzählt es nur Joe. Auch Cecil B. DeMille (in einer Cameo-Rolle) verschweigt ihr rücksichtsvoll die Wahrheit. Norma unterzieht sich im irrigen Glauben an einen baldigen Drehbeginn kosmetischen Torturen und Manipulationen zur Wiederherstellung ihrer früheren Erscheinung. Joe aber hat auf dem Studiogelände Betty Schaefer getroffen, die wieder – zunächst vergeblich – zum gemeinsamen Schreiben einlädt. Schließlich beginnt er doch – immer nachts sich aus dem Haus schleichend – mit ihr zu arbeiten. Max warnt ihn, Normas labilen psychischen Zustand nicht zu gefährden, und erzählt, dass er ihr früherer Regisseur und Ex-Ehemann ist und sein Leben ganz ihrer Stabilisierung widmet. Schließlich entdeckt Norma das halb fertige Manuskript von Joe und Betty. Just zu diesem Zeitpunkt gesteht Betty Joe ihre Liebe. Joe möchte sich nun von Norma trennen, die jedoch hat ihrerseits Betty angerufen und Joe als Gigolo denunziert. Joe entwindet ihr heimkommend den Telefonhörer und fordert Betty auf, zu kommen. Vor Ort erklärt er ihr seine Situation, erklärt eine Beziehung angesichts dessen für aussichtslos und rät ihr zur Rückkehr zu Artie. Auch von Norma will er sich lösen und konfrontiert sie mit ihren Illusionen. Daraufhin erschießt sie ihn. Joe fällt in den Swimmingpool, der Kreis zum Anfang ist geschlossen. Norma wird abgeführt, erlebt im Wahn den Presserummel als Massenszene eines neuen Filmdrehs, worin sie Max, die Kamera haltend, bestärkt. Der Film endet mit den legendären Worten

    „All right, Mr. De Mille, I’m ready for my close-up".

    Hintergrund

    Eine Beziehung zwischen einer Stummfilm-Queen und einem jungen Mann" – diese Grundidee, so Billy Wilder, hatten er und Co-Autor Charles Brackett schon fünf Jahre vor Drehbeginn (Staggs 2002, Kap. 3). Ein echter Star sollte die Hauptrolle spielen, nur ein solcher könnte für das Publikum glaubwürdig die alternde Norma Desmond verkörpern. An Gloria Swanson, auf die schließlich die Wahl fiel, faszinierten Billy Wilder sofort die virtuosen alten Schauspieltechniken des Stummfilms: „Das kann man nicht lernen, damit muss man aufgewachsen sein", schwärmte er gegenüber Volker Schlöndorff in der berühmten Fernsehdokumentation Billy, wie haben sieʼs gemacht (Schlöndorff und Grischoff 1988). Swanson war eine ideale Besetzung, verkörperte sie doch wie keine andere den zumindest in den frühen 1950er-Jahren unvorstellbaren Luxus der 1920er-Jahre (vgl. Basinger 2000): fünfmal verheiratet, Jahressalär bis zu 1 Million Dollar. Die Filme spielten oft in einem luxuriösen Ambiente, das die Stars auch in ihrem Alltag exhibitionistisch öffentlich zur Schau stellten. Weniger der Tonfilm als vielmehr der Zusammenbruch der vormaligen wirtschaftlichen Prosperität 1929 ließ die mondänen Stars unzeitgemäß erscheinen. Diese Ära lag zum Erscheinungszeitpunkt erst zwanzig Jahre, aber gleichzeitig unendlich weit zurück: Nach Wirtschaftskrise, New Deal und Weltkrieg und unmittelbar vor neuen Krisen müssen die Roaring Twenties den damaligen Zeitgenossen erschienen sein wie ein entferntes goldenes Zeitalter. Swanson war real nicht wie Norma Desmond zurückgezogen und vergessen, sondern – in allerdings geringem Umfang – in Fernsehshows und Serien aktiv. Außerdem war sie recht geschäftstüchtig: Sie hatte schon auf dem Höhepunkt ihres Ruhms Paramount verlassen, um ihre Filme selbst zu produzieren und über United Artists zu vermarkten (ebd.). Dies allerdings führte auch zu ihrer größten Niederlage, nämlich zum unter der Regie des unendlich detailbesessenen Erich von Stroheim nie beendeten Film Queen Kelly. Der mutiert in Sunset Boulevard zu Max, und bei den nostalgischen Privataufführungen von Norma Desmond sehen wir Fragmente der realen Filmruine. In kleinen Nebenrollen, als sprach- und leblose Gäste, tauchen weitere Stummfilmstars auf (Buster Keaton, Anna Q. Nilsson, H.B. Warner). Der Film ist so Monument nicht nur einer vergehenden Person, sondern auch einer vergangenen Epoche.

    Die erste Wahl für die Rolle von Joe Gillis war Montgomery Clift, der kurzfristig absagte, mit der Begründung, er zweifele an seiner Fähigkeit, eine erotische Beziehung zu einer wesentlich älteren Frau spielen zu können. Laut Wilder fürchtete er, die Rolle könne ihn „kaputt in Hollywood" machen (Schlöndorff und Grischoff 1988). William Holden dagegen war sofort begeistert und wollte die Rolle unbedingt übernehmen. Unklar ist, was er davon lesen konnte, denn das Drehbuch wurde ständig verändert, unter anderem, um die Kontrolleure des berüchtigten Production Code irrezuführen, die drohten, das Drehbuch aus moralischen Gründen zu verwässern. Der Zensurbeauftragte war besorgt, die Affäre zwischen jungem Mann und älterer Frau könnte nicht genügend moralisches Gegengewicht erhalten: Staggs (2002) hält den Versuch von Joe Gillis, Betty Schaefer zu Artie, den sie ja nicht mehr liebt, zurückzuschicken, für ein Zugeständnis an den Production Code.

    Der Film verursachte keinen Skandal, er war sofort erfolgreich. Seine Kritik an der Traumfabrik Hollywood kam aber zumindest bei den Studiobossen an: Louis Mayer von MGM beschimpfte Wilder wüst: „Sie Bastard, Sie haben die Industrie, die Sie gemacht und ernährt hat, in den Dreck gezogen. Man sollte Sie teeren und federn und aus der Stadt jagen." Dessen Antwort war kurz: „Fuck you!" (Karasek 1994, S. 358). Der Film hatte in jedem Falle für die Zeitgenossen eine große emotionale Wucht, die bis heute erhalten ist.

    Wie wird das Weibliche im Film inszeniert?

    Figurenpsychologie: Narzissmus vs. gelungene Anpassung

    Wir sehen im Film zwei vollkommen gegensätzlich angelegte Frauen. Im Mittelpunkt steht Norma Desmond, die dominierend, ja dominahaft nur ein Ziel verfolgt: die Wiederkehr auf die Leinwand und ihre Rehabilitierung als Star. Kein Comeback – das Wort ist ihr verhasst –, Norma will mehr: einen „re-turn" (00:19:14). Also ein Zurück-drehen der Zeit, eine Rückkehr in die Ära ihrer großen Erfolge, in ihre Jugend. Bildsprachlich wird dies auch deutlich gezeigt: Starfotos und sonstige Devotionalien sind überall in Normas riesigem Haus verteilt, idealisierte Abbilder, denen sie sich wieder angleichen will. Denn nur identisch mit solchen Bildern fühlt sie sich lebendig, wichtig und wertvoll.

    Alle Beziehungen, die wir die Figur Norma eingehen sehen, dienen dem Ziel, die Identität mit diesem Idealbild zu stützen oder wiederherzustellen: Zu diesem Zweck heuert sie den Schreiber Joe Gillis an, der ihr wirres Drehbuch verfilmbar machen soll. Die Herstellung eines glamourösen Selbstbilds befeuert auch die „Liebe" zu Gillis, deren Beginn sie im Stil der mondänen Zwanziger gestaltet: als Silvesterparty ganz allein für das filmanalog in Luxus schwelgende Liebespaar Joe und Norma (00:43:29). Norma reagiert sehr verzögert auf Joes Unbehagen, entgleist erst, als er sie rüde zurückweist, ohrfeigt ihn, und der – letztlich manipulative – Suizidversuch von Norma erzwingt gleichsam eine Beziehung.

    Das Ende des Films ist eine Steigerung dieser Konstellation: Joe verlässt sie, konfrontiert sie mit dem Alterungsprozess und ihren irrigen Hoffnungen. Diese Realitäten wehrt Norma zunehmend wahnhaft ab:

    „Nobody leaves a star." (01:42:19)

    – in der Tat: Joe wird zuvor erschossen. Kurz danach sagt sie:

    „Stars are ageless – arenʼt they?" (01:43:20)

    Wenn also die Illusion mit der Wirklichkeit kollidiert, könnte man figurenpsychologisch sagen, bricht die Figur zusammen und zieht sich in die Illusion zurück: Der Wahn vom Filmdreh überdeckt die Verhaftung. Wir können also zusammenfassen: Norma wird als eine Figur gezeigt, die in dem Sinne narzisstisch ist, dass sie sich – wie die mythische Figur – nur in ihrer Widerspiegelung, als Star, selbst spüren und letztlich nur diese Abspiegelung lieben kann. Das ist klinisch-psychoanalytisch nicht unplausibel, nur die vermeintliche Patientin existiert nicht. Auch bleibt aus dieser Perspektive die Frage unbeantwortet, wieso eine so unsympathische Figur und ihre Verbildlichung, die ja dann nur abstoßend und nicht auch attraktiv wäre, bis heute so fasziniert. Wir sollten darauf zurückkommen.

    Zunächst aber zur Gegenfigur: Betty Schaefer wird pointiert illusionslos und pragmatisch, kritisierend, aber auch anerkennend dargestellt, und zwar sowohl Joe Gillis als auch sich selbst gegenüber: Einen seiner Drehbuchentwürfe bemängelt sie beim ersten Zusammentreffen zwar als „flat and trite" (00:6:52) – betont aber gleichzeitig, dass sie nur enttäuscht sei, weil sie sein Talent von früheren Schreibproben her kennt. In einer Schlüsselszene erzählt sie Joe zudem, dass sie ihrerseits die Illusion einer Karriere als Schauspielerin habe aufgeben müssen, da weder ihr Aussehen noch ihr Spiel die geforderte Perfektion erreicht hätten – was sie als gute Erfahrung bewertet: „It taught me a little sense." (01:22:46) Betty Schaefer wird also als in konventionellem Sinn psychisch gesunde Person eingeführt: Unreife Ideale hat sie hinter sich gelassen, ist der Realität zugewandt. Doch wirkt sie bei heutiger Sichtung klischeehaft und die Anziehung, die sie auf Joe ausübt, ist bisweilen unfreiwillig komisch, z. B. hier (01:23:11 ff.):

    Joe:

    May I say you smell real special?

    Betty:

    It must be my new shampoo.

    Joe:

    That’s no shampoo. It’s more like a pile of freshly laundered handkerchiefs, like a brand new automobile. How old are you anyway?

    Betty:

    Twenty-two.

    Heute löst das im Kino Gelächter aus, die Streichermusik, mit der dieser Dialog unterlegt ist, zeigt allerdings, dass es Billy Wilder durchaus ernst damit war. Das Gesundheits- und Beziehungsmodell, dem diese Figur entspricht, ist aber eindeutig veraltet, Zuschauer gehen nicht mehr mit. Der Film scheint uns jedoch zu solchen Deutungsmustern – Narzissmus vs. Reife – verführen zu wollen. Warum aber? Darüber ist weiter nachzudenken. Figurenanalyse kann schon deshalb nur Ausgangspunkt der Überlegungen sein, weil die Figuren ja Produkte und keine Personen sind.

    Inszenierung des Weiblichen in Bezug zum weichen Mann: regressive Angst und Lust vs. Progression

    Weiter kommen wir also nur, wenn wir im Sinne von Hamburger (2018, S. 65) „verstehen, wie und warum der Film uns auf solche Weise zu Psychologen machen will", also seine Wirkmechanismen analysieren und uns als darauf mehr oder weniger anspringende Zuschauer gleich mit. Wir untersuchen ja die Inszenierung von Weiblichkeit in einem Kunstwerk von 1950, das Vorstellungen von dem bebildert, was damals eine Frau sein sollte – und was nicht, und wie Männer damit umgehen sollten oder nicht. In diesem Sinne konfrontiert uns Sunset Boulevard mit einer Variante des „männlichen Blicks" im klassischen Hollywoodfilm (Mulvey 1975).

    Speziell ist daran, dass die gesamte Geschichte zwar aus männlicher Perspektive erzählt wird, allerdings aus dem Blickwinkel eines Toten, der sich mittels einer Erzählerstimme an die Zuschauer wendet, um ihnen „the facts, the whole truth" (00:02:10) zu erzählen. In einem Hollywoodfilm aber gibt es eigentlich nur zwei Gründe für das Ableben des männlichen Hauptdarstellers: Heldentod, oder er hat etwas getan, worauf entsprechend den Regeln des damaligen Kinos die Todesstrafe steht. Letzteres ist – meine ich – bei Joe Gillis der Fall: Der gesamte Film ist doch ein Geständnis. Joe macht im Einklang mit der Kamera deutlich, dass er gerade nicht der aktive Held des von Mulvey (1975) beschriebenen klassischen amerikanischen Erzählkinos war – dessen „Trophäe dann eine per Happy End zugeteilte attraktive Frau sein könnte. Im Gegenteil: Sein „Verbrechen war Passivität und Weichheit und die Auslieferung an eine dominierende Frau. Das Weibliche wird also den ganzen Film hindurch in Beziehung zu einem weichen Mann inszeniert. Das Weibliche existiert im Film nur in Verbindung mit diesem Mann.

    Wenn wir dem Film also einen „männlichen Blick" zuschreiben wollen, kann man den nicht im Antihelden Joe Gillis und in seiner Sicht der Welt finden. Die Kamera konstelliert stattdessen einen Blick auf ihn und seine Beziehungen zu Frauen, auch die Erzählstimme postiert ihn als Gegenüber, dem wir zuhören. Als solches Gegenüber präsentiert sich Joe Gillis auch der Zuschauerin; da jedoch die Technik des Voiceover damals vielfach in deutlichen „Männerfilmen" wie z. B. Tourneurs Out of the Past oder auch Wilders Double Indemnity eingesetzt wurde, denke ich tatsächlich, dass solche Elemente hauptsächlich auf männliche Zuschauer zugeschnitten sind.

    Die Weichheit von Joe Gillis wird gleich zu Anfang des Filmes verbildlicht, wenn wir Zuschauer ihm am helllichten Vormittag bequem im flauschigen Bademantel bei der Arbeit zuschauen (00:03:19). Wir sehen, wie er in den Studios erst um Arbeit, schließlich um Unterstützung geradezu bettelt. Wir hören ihn aus dem Off sagen (00:08:47), dass er damals auf den gravy train wartete – ein Idiom für Arbeit mit hohem Ertrag und wenig Aufwand. Auf der Flucht vor den Schuldeintreibern erwägt er dann eine Rückkehr zu den provinziellen Wurzeln, mit selbstmitleidigem Gesichtsausdruck (00:10:40). Wir sehen mit dem nüchternen Kamerablick auf einen, der sich als Looser outet. Wir sind nicht mit ihm identifiziert. Unmittelbar danach erreicht Joe mit defektem Reifen die Garage von Norma Desmond. All das suggeriert in knappen Skizzen: Wenn einer so scheitert, kommt es zu einer Abhängigkeitsbeziehung zu einer Frau, und in diesem Sinne bebildert der Film regressive, v. a. männliche Ängste. Die extreme Darstellung der Beziehung akzeptieren wir Zuschauer bis heute. Angesichts der – bei nüchterner Betrachtung – erstaunlichen Absurdität der Handlung und ihrer Bebilderung ist das frappierend.

    Ich denke, das kommt daher, dass Norma Desmond in ihrer Beziehung zu Joe – in der allein sie filmisch existiert – mit zahlreichen Aspekten einer allmächtigen, präverbalen, in weiten Teilen bösen Mutterfigur aufgeladen ist, die uns als innere Bilder vertraut sind.² Daher akzeptieren wir sie trotz fehlendem (äußerem) Realismus bis heute als (innerlich) realistisch genug. Genaugenommen macht sogar alles auf den ersten Blick Absurde Sinn, wenn wir es als Teil der filmischen Inszenierung einer bösen Mutterwelt betrachten.

    Das also nur scheinbar Unstimmige beginnt beim Ambiente: Das Innere von Norma Desmonds Villa ist prunkvoll und gepflegt, die Außenanlagen sind aber vollkommen vernachlässigt, weil eben die Außenwelt angesichts der mütterlichen Allmacht vollkommen bedeutungslos wird. Norma Desmond stellt sich an mehreren Stellen als märchenhaft reich dar, was der Film an keiner Stelle hinterfragt, wobei angesichts ihrer ausschließlichen Beschäftigung mit ihren Äußerlichkeiten unklar bleibt, wie der Reichtum organisiert wird. Die mütterliche Macht ist also fast magisch inszeniert – sie bedarf keiner Erklärung.

    Joe stellt, als Norma ihren Reichtum andeutet, eine Lohnforderung von 500 Dollar pro Woche (00:23:23), die akzeptiert wird – aber sein Auto, für dessen nächste Rate er lediglich 290 Dollar bräuchte – löst er dann nicht aus. Realistisch wäre: Vorschuss fordern, Schulden bezahlen, dann tags bei Norma arbeiten (die das Drehbuch nicht aus dem Haus geben will). Er tut all das nicht. Stattdessen sind alle seine Habseligkeiten am nächsten Morgen ohne sein Zutun in Normas Villa gelandet. Wir erfahren zudem, dass sein Zimmer schon am Nachmittag eingerichtet wurde – vor jeder Einladung zum Bleiben. Es schleichen sich also in die Erzählung märchenhafte Elemente ein.

    Wir sehen, dass Joes Auto später von Schuldeintreibern abgeschleppt wird, während Norma am Spieltisch sitzt und Joe das nötige Geld nicht gibt. Sie hat ihn, wie wir unmittelbar davor erfahren haben, nie entlohnt außer mit einem Anteil an den Spieleinsätzen, die 1/20 Cent pro Spielpunkt betragen. Er erträgt die Demütigung. Stattdessen wird Normas Isotta Fraschini wieder flott gemacht – alle Macht verbleibt also bei der Mutterfigur.

    Dies ist auch gegenüber Max der Fall, der als einziger Mann im Haus die Position eines Faktotums im Dienste von Madame erfüllt und zugunsten dieses Dienstes seine Karriere als Regisseur aufgegeben hat. Als Normas Ex-Mann, Ex-Regisseur und Diener ist er sozusagen in jeder Hinsicht ent-mannt. Dass Max in vieler Hinsicht dennoch Strippenzieher ist und Norma auch kontrolliert, schmälert die Absurdität nicht, denn alle seine Aktivitäten sind ausschließlich darauf ausgerichtet, die Grandiosität von Norma zu unterstützen, also eine illusorische Welt zu erhalten, an die er offenbar ebenso gebunden ist wie Norma selbst. Die Figur Max, der Mann im Haus, existiert nur als Verlängerung der Illusionen der allmächtigen Mutterfigur.

    In dieser mütterlichen Welt werden Figuren leblos: Zuerst der Schimpanse, der laut Gillis-Voiceover begraben wird wie ein „only child" (00:26:33) – Gillis scheint in seine Fußstapfen zu treten. Später sind es die zu Besuch kommenden alternden Stummfilmstars, die sich kaum bewegen, nicht sprechen, und die Joe „the waxworks" nennt (00:33:34). Max von Mayerling ist ebenfalls mimisch erstarrt und auch Joe Gillis verliert sich: Dem „plot of my own" (00:22.10) – nämlich Geld zu verdienen – geht er nicht nach, der Widerstand gegen Normas Neigung, Veränderungen ihres dilettantischen Drehbuchentwurfs zu verhindern, verschwindet – „You donʼt yell at a sleepwalker" (00:30:29). Sinn macht die Äußerung nur, wenn man sie als Ausdrucks einer Verschmelzung mit dem Ziel der Stützung der illusorischen mütterlichen Allmacht betrachtet.

    Man kann solche Aspekte eines Plots nach Belieben mit figurenpsychologischen Einfällen erklären: Gillis ist eben neurotisch – mutterfixiert, Max auch.³ Wenn wir aber den angedachten Weg weitergehen, und berücksichtigen, dass der Film eine Wirkung auf uns herstellt, ist es sinnvoller, das Illusionäre in uns Zuschauern zu verorten, in unserer unbewussten Fantasiewelt. Ein Film wie Sunset Boulevard schafft Verhältnisse, die diese Welt an die Oberfläche treten lassen – in Form eines stillen Einverständnisses mit einer realitätsfernen Filmhandlung, die intuitiv genau darauf eingerichtet ist, das Illusionäre auf den Plan zu bringen.

    Ich möchte also zeigen, dass es Billy Wilder gelungen ist, eine filmische Welt zu konstruieren, die uns berührt, weil sie in expressiv skizzierten Figuren eine archaische Beziehungskonstellation erschafft, die uns innerlich immer noch nahegeht. In diesem Sinne ist der Film ein großartiges Produkt der Illusionsfabrik Hollywood. Zur Erschaffung dieser Illusion nützt Wilder die filmischen und – via Gloria Swanson – schauspielerischen Mittel der Stummfilmzeit.

    Große Teile des Filmes sind in dunklen oder abgedunkelten Innenräumen aufgenommen, die für die Zuschauerperspektive unübersichtlich sind. Als greller Kontrast und vielfach mit harten seitlichen Beleuchtungen tauchen in und aus diesem Dämmerlicht heraus die übersteuert gespielten mimischen Displays von Gloria Swanson auf, die in massiver Häufung oft extrem negative Affekte wie Wut und Hass in Reinform zeigen. Via Kamera sind wir Zuschauer auf diese Weise einer zumindest leicht surrealen Situation ausgeliefert, die nicht klar einschätzbar ist, denn Swanson lässt Norma häufig sehr plötzlich affektiv eskalieren. Dann agiert sie nicht wie eine übliche Hollywoodschauspielerin der 1950er-Jahre, sondern völlig übersteigert, stummfilmartig. Figurenpsychologisch ist das völlig unglaubwürdig, es entsteht keine virtuelle Person, sondern eine Karikatur, bei distanziertem Hinsehen sofort erkennbar. Aber es soll ja auch keine Person wie in echt entstehen. Meine These ist, dass Swanson in der Darstellung affektiver Extremformen so virtuos ist, dass sie im dunklen Kino bis heute eine überraschende, in Spuren überfallartige affektive Situation schafft, die uns Norma Desmond – passager, aber konkret – so erleben lässt, wie ein Kind seine Mutter wahrnimmt, wenn es oder sie oder beide massiv wütend sind – was ja nicht eben selten der Fall ist.

    In dieser Inszenierung ist dann die Frauenfigur dementsprechend hexenartig (Abb. 1.1): Wir sehen Gloria Swanson ihre Augen aufreißen, als wolle sie Joe hypnotisieren wie die Schlange Kaa aus dem Dschungelbuch, ihre Kiefer sind oft nach vorne geschoben, als wolle sie ihn verspeisen oder aussaugen. Die Hände sind krallenartig verspannte Klauen, wie die einer Gottesanbeterin. Das führt dazu, dass wir Joe gut verstehen können, wenn er sagt: „I felt caught, like a cigarette in the prongs of that contraption on her finger." (00:43:59)

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    Abb. 1.1

    Norma Desmond (Gloria Swanson) als Hexe (00:45:30)

    Die Position, die Joe zu dieser Mutterfigur einnimmt, ist sofort kindlich: Beim ersten Eintreten in ihre Welt muss er, durch Normas Verlängerung Max sofort gemaßregelt, erst einmal seine Schuhe abputzen (00:14:08) und wird wegen seiner unangemessenen Kleidung getadelt (00:14:23, „Youʼre not properly dressed for the occasion"). Sein verbleibender späterer Widerstand gegen Norma ist ebenfalls kindlich konnotiert, so kaut er etwa, auf der Rücksitzbank von Normas mondänem Auto sitzend, einen Kaugummi, den er dann widerstrebend wegwirft (00:36:46 ff.). Seine Kleidung besorgt er mit Norma – sie entscheidet und zahlt (00:36:55) – und muss die abschätzigen Blicke und Bemerkungen des Verkäufers ertragen (00:37:30 ff.: „As long as the lady is paying for it – why not take the vicuna"). Er nimmt dennoch diesen teuren, kuscheligen Mantel – wieder wird er weich-bequem gezeigt.

    Der Verkäufer lenkt hier den (männlichen) Zuschauer in einen stellvertretenden Schamaffekt: Welche Erniedrigung! Wieder erkennen wir, wie hier der männliche Blick von der Hauptfigur distanziert ist und das Mächtig-Weibliche immer in Beziehung zum letztlich verachteten Schwach-Männlichen dargestellt wird. Archaische Beziehungsfolien schaffen die in Teilen ideologisch-normative Message des Films, die unter intuitiver Zuhilfenahme regressiver Angstfantasien entwickelt wird: Lasse dich nicht auf eine scheinbar versorgende dominante Frau ein, sonst gerätst du in die Position eines kleinen, unabgelösten Jungen, der von einer egozentrischen Mutterfigur ausgesogen und von anderen Männern verachtet wird.

    Betty, die ebenfalls nur in Beziehung zur männlichen Hauptfigur in Erscheinung tritt, ist das Gegenangebot: eine deutlich jüngere Frau, die betont, dass sie den Mann braucht, weil sie alleine „not good enough" ist zum Drehbuchschreiben (1:13:25): Bei der Zusammenarbeit für das gemeinsame Drehbuch diktiert er, sie tippt. Er geht nur an die Maschine, wenn sie Kaffee holt (1:19:16). Unmittelbar danach entwickelt sich die bereits erwähnte Szene, in der Betty ihm erklärt, wie sie das Leben gesunden Menschenverstand lehrte. Aus heutiger Sicht wirkt das zwar, wie erwähnt, altbacken und komisch, aber ohne Zweifel sind die Drehbuchpartien, in denen Betty auftaucht, gemäß den sozialen Standards der 1950er-Jahre realistischer. Ihr Beziehungsangebot ist progressiver: Sie versucht den Weg zu einem aktiven Leben zu weisen.

    Sie ist auch anders fotografiert: oft in mittleren Kontrasten und gleichmäßigen Ausleuchtungen. Ihr Affekt ist meist gemäßigt heiter oder nur leicht ironisch-schelmisch. Nur ein einziges Mal sehen wir sie wirklich wütend, als nämlich im Showdown Joe ihr von seinem Gigololeben erzählt (01:36:19 ff.):

    Joe:

    (…) A very simple set-up: An older woman who is well-to-do. A younger man who is not doing too wel l… Can you figure it out yourself?

    Betty:

    No.

    Joe:

    All right. I’ll give you a few more clues.

    Betty:

    No, no! I haven’t heard any of this. I never got those telephone calls. I’ve never been in this house … Get your things together. Let’s get out of here!

    Joe geht nicht mit, sondern spielt den zynischen Gigolo, um Betty zurück in die Beziehung zu Artie zu bugsieren – und sich seinem Ende entgegen.

    Entscheidend ist hier der Blick auf Betty: Anders als es der von Mulvey (1975) formulierten Grundidee von der Frau nur als passiver Trophäe entspricht, die zur Bestätigung aktiver männlicher Potenz dient, besetzt hier eine 1950er-Jahre Frauenfigur eine aktive normative Position: Von regressiven, passiven Anteilen des Mannes will sie nichts hören; die müssen irgendwie zum Verschwinden gebracht werden.

    Mulvey (1975, 1981) würde wohl Normas Dominanz als männlichen Zug und kontrastierend Betty als unterschwellig passive Figur sehen, die scheinaktiv männliche Entschiedenheit fordert. Aber ist es nicht vielleicht doch sinnvoller, davon auszugehen, dass der Film auf genau diese Weise eine Problemsituation im Geschlechterverhältnis seiner Zeit beleuchtet, in der mit regressiven Strebungen von Männern katastrophale Ängste und Verachtung verbunden waren? In der daher Frauenbilder von Männern und Frauen aufgespalten werden mussten und nur genauso im Film auftauchen konnten? Denn eine „Integration" zeigt der Film ja gerade nicht. Explizit – auf der verbalen Ebene – wird normativ, vertreten von Betty, die Verleugnung der regressiven Strebungen gefordert. Das alles, sagt sie, sollte man weder hören noch sehen – nachdem wir gerade schon gute 1½ Stunden genau das mit wohligem Schauer getan haben. Da gibt es eben auch im Film einen Widerspruch mit sich selbst – und der macht den Film attraktiv.

    Denn dem Abwehrverdikt, das die Figur Betty vertritt, folgt der Film natürlich gerade nicht – sonst gäbe es ihn nicht. Und natürlich zeigt er auch nicht nur die abstoßenden Seiten der Regression, sondern auch die Sehnsucht danach und die Lust daran. So sehen wir z. B. Joe Hals über Kopf von der Silvesterparty zur Villa zurückeilen, als er von Normas Suizidversuch hört. Dort stammelt er: (00:54:35): You’ve been good to me. You’re the only person in this stinking town that has been good to me."

    Andere rein bildliche Aspekte sind mindestens ebenso wichtig: Die Ausfahrten im Isotta Fraschini, mit Norma in Turban, Cape und Sonnenbrille auf Leopardenfell im Fond sitzend – Max in schwarzer Chauffeurslivree schräg davor – sind so überwältigend gut fotografiert, dass man beim Zuschauen kaum umhinkommt, sich zu fragen, wie es wäre, bei diesem Luxus auch mit von der Partie zu sein und wie ein Kind herumkutschiert zu werden. Hier werden die verlockenden Seiten der Regression wirksam bebildert – selbst wenn Joe Gillis glaubwürdig bedrückt dabeisitzt. Ebenfalls großartig ist die Inszenierung des Besuchs bei Paramount: Norma mit leichtem Netzschleier, Chauffeur Max gibt via Rückspiegel sanft, aber bestimmt Schminkanweisungen. Die Reaktion des Publikums auf die Erscheinung Norma Desmond/Gloria Swanson dürfte bis heute mit der im Film danach gezeigten Ehrerbietung der Studioangestellten parallel laufen.

    Denn eine starke lustvolle regressive Reaktion bewirkt auch die schiere Präsenz von Norma Desmond/Gloria Swanson auf der Leinwand. Deren Fähigkeit, jede Affektlage archetypisch darzustellen, dabei immer präzise die angebotene Beleuchtung zu nützen, lässt den Zuschauer auch bei wiederholter Sichtung immer wieder in kindliche Bewunderung geraten – zumal wenn sie auch noch für Gillis eine perfekte Chaplin-Parodie improvisiert. Joe ist gelangweilt, wir nicht: Es entsteht ein gewisses Bedauern darüber, dass das vorbei ist und nie mehr kommt. Dies dürfte für zeitgenössische Zuschauer, für die ja Gloria Swanson oft genug eine Berühmtheit aus ihrer sich zwar entfernenden, aber doch erinnerlichen Kindheit war, noch stärker gewesen sein als heute. Und solche Reaktionen von Bewunderung und Nostalgie machen wohl Joes dargestellte Impulse, die Figur Norma zu retten, verständlich: weil die Mittel dieses Kunstwerks auch in uns Neigungen beleben, das unwiederbringlich Vergangene zu bewahren und noch einmal wieder zu erleben, das wir ja immer in Form von Kindheitsspuren in uns tragen. Explizit wendet sich der Film gegen solche Strebungen. Implizit, in seiner mächtigen Bildwelt, setzt er ihnen ein fabelhaft ambivalentes Denkmal.

    Zusammenfassend inszeniert also Sunset Boulevard aufgespaltene Frauenbilder, worin sich eine Problematik der Geschlechterverhältnisse der 1950er-Jahre zeigt: Die Hauptfigur Norma bebildert eine abgewehrte, heimlich aber vom Mann auch ersehnte Mutterfigur, die als dämonisch erlebt wird und vor deren verpönten Lockungen der Film eindrücklich warnt. Betty dagegen weist dem Mann den Weg in eine gesellschaftlich angepasste Richtung weg von passiven Strebungen, die damit aber ungestillt bleiben würden und keinen Platz finden können. Der Film bietet keine Lösung aus diesem Dilemma. Er stellt es dar und weckt entsprechende Affekte im Zuschauer.

    Weiterführende Überlegungen: Selbstreferenzialität des Films und heutige Filmwirkung

    Ein Aspekt der Inszenierung des Films ist noch nicht thematisiert: Er zeigt eindrücklich das disziplinierte, latent selbstzerstörerische, weil letztlich vergebliche Zurichten der Körperlichkeit einer Frau, der alternden Norma, mit dem Ziel der Wiederherstellung ihrer Jugendlichkeit und ihrer Verwertbarkeit. Er zeigt also nicht nur ein Frauenschicksal, sondern auch das Entfremdende der Filmindustrie, deren Teil er ist. Die dafür zentrale, achtteilige Abfolge von Einstellungen (01:15:55 ff.), unterlegt mit dramatischer Musik, mit zitternden, schnellen Soloviolinfiguren, dauert nur eine knappe Minute, wir sehen Stromschläge, Masken, Schwitzbäder, Lupen, die jede Falte zeigen und weitere Zumutungen. Wir sehen die damit verbundene Anstrengung. In zwei späteren Szenen sehen wir Norma später länger mit Binde ums Kinn und mit Pflaster auf der Stirn. Das ist nicht viel Filmzeit, aber es sind Einstellungen, die uns ein tiefes Mitgefühl mit dem Schicksal der Figur Norma nahelegen – was auch bis heute gelingt.

    Vor allem bei den Zuschauerinnen kam es aber bei der Diskussion über den Film, die fester Bestandteil der Arbeit der Münchner psychoanalytischen Filmgruppe ist – sowohl unter uns⁵ als auch im Kino –, verständlicherweise zu Distanzierungsbewegungen gegenüber den Zumutungen, denen diese Frauenfigur ausgeliefert ist: Frauen zeigen sich froh und erleichtert, nicht in dieser Zeit zu leben, und wünschen sich andere – emanzipatorischere – Elemente in die Handlung oder speziell in die Handlungsweise von Norma hinein. Das heißt: Heutige Frauen steigen hier innerlich aus. Sie können sich in das Leiden der Figur Norma zwar an diesen Stellen einfühlen, bleiben jedoch auf Distanz.

    Reagieren die heutigen Frauen auf eine Entwertung der Frau? Könnte man nicht sagen, dass die von Mulvey (1975) hypostasierte Konstellation „Frau als Fetisch des Mannes zwar im Film nicht prominent gezeigt, aber dennoch letztlich vom Film zementiert wird? Indem nämlich die alternde Frau, der es nicht gelingt, den jungen „Helden anders als durch regressive, klammernde Verwöhnung zu halten, zumindest in dem Sinne als „kastriert" dargestellt wird, dass sie letztlich machtlos, leer und verzweifelt zurückbleibt.

    In der Tat gibt es Elemente, die das nahelegen: Norma prahlt (00:44:41) mit den Wohnblöcken, mit den Ölquellen, die sie besitzt: „Whatʼs it for but to buy us anything we want?" – aber Joe verschwindet zur Silvesterparty, woraufhin sie einen Selbstmordversuch unternimmt. Ökonomischer Reichtum kann also die Frau nicht erfüllen, sie kann damit letztlich nichts anfangen, sie bleibt in diesem Sinne wertlos, weil sie nicht attraktiv für einen jungen Mann ist. Kontrastierend wird der alternde Cecil B. DeMille als jemand geschildert, der handlungsmächtig über ein Imperium gebietet. Er ist nicht unempathisch dargestellt, will Norma eigentlich nicht abwimmeln (01:06:58 ff., „Thirty million fans have given her the brush – isnʼt that enough?"). Sein Mitleid gilt aber vor allem der früheren Norma, dem vormaligen „lovely little girl of seventeen", das sie eben nicht mehr ist. Die alternde Frauenfigur bleibt dennoch ausrangiert: Sie ist wertlos, taugt nicht mehr als Trophäe, welche die Virilität des Mannes bestätigt. In DeMille, so könnte man sagen, personifiziert sich das Dilemma des 1950er-Jahre-Films und vielleicht auch des 1950er-Jahre-Geschlechterverhältnisses: Man kann die Entwertung bedauern, aber nicht ändern. DeMilleʼs Sentimentalität repräsentiert so verstanden lediglich oberflächliche Krokodilstränen einer tief misogynen Gesellschaft.

    Aber ist das wirklich stimmig? Denn der Film ist in diesen Teilen deutlich selbstreferenziell: Nie zuvor war in einem Hollywoodfilm das Elend, das durch die Identifikation mit der dort produzierten Illusion entsteht, so thematisiert worden. Louis Mayer war nicht umsonst in Wut geraten. Und dieses Elend wird eben gerade nicht karikaturhaft, sondern – wenn auch in rasanter Schnittfolge – naturalistisch dargestellt, ebenso wie die Reaktion von Norma Desmond, als sie nach ihrem intriganten Anruf bei Betty ahnt, dass Joe sie verlassen wird, und folgenden Text dazu spricht (01:33:00 ff.):

    Don’t hate me, Joe. I did it because I need you. I need you as I never needed you. Look at me. Look at my hands, look at my face, look under my eyes. How can I go back to work if I’m wasting away under this torment? You don’t know what I’ve been through these last weeks. I got myself a revolver. You don’t believe me, but I did, I did! I stood in front of that mirror, only I couldn’t make myself. Don't just stand there hating me! Shout at me, strike me! But don't hate me, Joe. Don't you hear me, Joe?

    Gloria Swanson spielt diese Szene mit schnellem, aber realistischem Sprachduktus, tränenreich, aber nicht übermäßig verzerrt, weich beleuchtet: Einen Moment ist alles Karikaturhafte aus ihrer Darstellung gewichen. Die streicherdominierte Musik kommentiert das mit bewegten, Cello- und Bratschenstimmen fokussierenden Linien: So zieht der Film hier alle Betrachter – Männer und Frauen – in eine mitfühlende Position.

    Wir identifizieren uns mit der Verlassenen, der Film affirmiert hier nicht, sondern stellt eine problematische Konstellation gleichsam bildlich zur Diskussion: Hier hat sich eine Frau zugrunde gerichtet, deren ganzes Leben und Begehren auf Gesehenwerden durch Männer ausgerichtet ist. Ein filmisch überhöhtes, aber eben doch zeittypisches Schicksal: Wir sehen die zerstörerische Wirkung medial vermittelter Geschlechtsnormen. Das wird im Wortsinne ungeschminkt gezeigt. Hier hat der Film zumindest latent emanzipatorische Aspekte, die wohl heutige Betrachterinnen durch Einfälle zu alternativen Handlungsentwürfen innerlich aufgreifen und in eine konstruktive Form zu bringen versuchen.

    Die Figur Betty Schaefer können wir heute kaum als emanzipatorisches Angebot erleben: Zeitgemäß und realitätsorientiert gemäß der Logik der 1950er wirkt sie heute verstaubt. Kaum verdeckt wird in ihr ein überichhafter pädagogischer Ansatz transportiert. Er ist wohl nur noch historisch zu verstehen: In der kollektiven Psyche waren vielleicht die Roaring Twenties wie ein verschüttetes Paradies noch vorhanden, eine Sehnsucht nach einem leichten Leben, ja, nach einer Art gravy train, nach dem man sich nach Jahren von Absturz, Krise und Krieg latent zurücksehnte. Nur war 1950 etwas anderes erforderlich: Anpacken, um das Land nach dem Krieg wieder in Schwung zu bringen und – heute wissen wir es – für den nächsten Krieg zu rüsten: für den heißen Koreakrieg und den längeren kalten mit dem Ostblock. Betty Schaefer verkörpert einen Typ Frau, der dafür „nützlich" und erforderlich war: erfüllt von a little sense, ausgestattet mit Tüchtigkeit. So eine Frau, so die für uns etwas aufdringliche Moral des Films, verdient der, der sich dem Leben aktiv zuwendet und sich von regressiven Schrecklichkeiten fernhält. Das zieht uns hoffentlich nicht mehr an.

    Die Attraktivität des Filmes beruht eher auf der von Gloria Swanson eben doch unwiderstehlich dargestellten mondänen, verschlingend-verwöhnenden ‚Mutterfigur‘, von der wir, wenn wir ehrlich sind, doch nie genug bekommen können – wenn nur genug Abstand von der Leinwand gegeben ist. Mit dieser Ambivalenz spielt der Film bis zur letzten Einstellung: Wenn Gloria Swanson/Norma Desmond auf uns, „those wonderful people out there in the dark zukommt und „ready for the close-up (01:49:22 ff., Abb. 1.2) ist, gierig nach uns greifend, dann ist das schaurig-schön – aber auch, weil der Film damit sofort aufhört und wir wieder auf Distanz gehen können.

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    Abb. 1.2

    Ready for the close-up (01:49:34)

    Angaben zum Film

    Literatur

    Basinger J (2000) Silent stars. Wesleyan University Press, Middletown

    Cremoni L (2015) „We Have a Car": l’Isotta Fraschini del Museo dell’Automobile di Torino. Piemonte Mese 7/8. http://​www.​piemontemese.​it/​2015/​07/​01/​we-have-a-car/​. Zugegriffen am 01.05.2020

    Fonagy P, Target M (2006 [2003]) Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart

    Hamburger A (2018) Filmpsychoanalyse. Psychosozial, Gießen

    Karasek H (1994) Billy Wilder. Eine Nahaufnahme. Hoffmann und Campe, Hamburg

    Mertens W (1997) Entwicklung der Psychosexualität und der Geschlechtsidentität, Band 1: Geburt bis 4. Lebensjahr. Kohlhammer, Stuttgart

    Mulvey L (1975) Visual pleasure and narrative cinema. In: Mulvey L (Hrsg) Visual and other pleasures. Palgrave, New York, S 14–26

    Mulvey L (1981) Afterthoughts on „visual pleasure and narrative cinema" inspired by King Vidor’s Duel in the sun (1946). In: Mulvey L (Hrsg) Visual and other pleasures. Palgrave, New York, S 29–38

    Rohde-Dachser C (2003 [1991]) Expeditionen in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse. Psychosozial, Gießen

    Schlöndorff V, Grischoff G (1988) Billy, wie haben Sieʼs gemacht. Fernsehserie, Teil 2 von 6. https://​www.​youtube.​com/​watch?​v=​LIubBHvBe24. Zugegriffen am 01.06.2020

    Staggs S (2002) Close-up on Sunset Boulevard: Billy Wilder, Norma Desmond and the Dark Hollywood Dream. St. Martin’s Press, New York

    Fußnoten

    1

    Das ist kein Fantasiename, es gab die Firma, und sogar das Fahrzeug hat überlebt. Es steht heute in einem Museum in Turin (Cremoni 2015).

    2

    Die Genese und Persistenz solcher Bilder ist ein weites Feld (vgl. z. B. Fonagy und Target 2006 [2003]). Innerhalb des psychoanalytischen Diskurses ist auch vermutet worden, dass das theoretische Interesse daran letztlich der Stützung patriarchaler Strukturen dient (Rohde-Dachser 2003 [1991]).

    3

    Stroheim wollte dies in der Tat verdeutlichen, indem Max in fetischistischer Hingabe Normas Slips waschen sollte. Wilder lehnte ab, um Ärger mit der Zensurbehörde zu vermeiden (Karasek 1994, S. 359).

    4

    Dass die Ablösung von der Mutter für Jungen wichtiger ist, weil sie

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