Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Eine Ahnung von Leben: Eine deutsch/ deutsche Geschichte
Eine Ahnung von Leben: Eine deutsch/ deutsche Geschichte
Eine Ahnung von Leben: Eine deutsch/ deutsche Geschichte
eBook311 Seiten4 Stunden

Eine Ahnung von Leben: Eine deutsch/ deutsche Geschichte

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wie wird mein Leben aussehen, was mache ich aus mir? Du kannst dir alles aussuchen, nur nicht deine Familie, sagte mein Onkel. Da wirst du reingeboren, das ist weder dein Verdienst noch deine Schuld. Du kannst Glück oder Pech haben. Ich hab das nie ganz geglaubt. Was ist mit der Gesellschaft? Gibt sie dir alle Möglichkeiten? Vielleicht, aber es geht nie ohne Probleme und Rückschläge. Es kommt aber der Tag, wo du über dich selbst bestimmst und deine eigenen Geschicke lenkst. Dann ist keiner außer dir für deine Fehler und deine Erfolge verantwortlich. Endlich hast du deine Freiheit. Du dachtest alles war gut, aber in Wirklichkeit war vieles verkommen und nun hast du es erkannt und kannst endlich leben.
SpracheDeutsch
HerausgeberDetlef Haus
Erscheinungsdatum14. Mai 2021
ISBN9783985516919

Ähnlich wie Eine Ahnung von Leben

Ähnliche E-Books

Persönliche Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Eine Ahnung von Leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Eine Ahnung von Leben - Detlef Haus

    Ein Ausflug

    Dieser Sonnabendmorgen war nebelig und kalt. Ich konnte die Nacht vor Aufregung nicht richtig schlafen und war hundemüde, als Mutter mich weckte.       

    „Muss das gerade heute sein?", sagte ich und war gedanklich schon bei meinem Trainer.       

    Herr Fiedler war eigentlich ein netter Mann, wie ich fand, aber wenn auf dem Platz keine Leistung kam, war er mit einem Mal wie verwandelt, und was er sagte, war nicht mehr nett.       

    Auch wenn ich erst 8 Jahre alt war, empfand ich die Art und Weise, uns zu motivieren, manchmal schon als eine Zumutung. Die aus seiner Sicht wahrscheinlich gut gemeinten Weisheiten wie „Was euch nicht umbringt macht euch härter ..." waren selbst für unser kindliches Bewusstsein klar verständlich. Auch wenn mir nicht nach Frühstück zumute war, drängte Mutter darauf, und da ich einer möglichen Diskussion an diesem Morgen aus dem Wege gehen wollte, ließ ich es über mich ergehen.       

    „Hast du auch alles eingepackt, das Dress und die Fußballschuhe?", fragte sie.       

    Ich dachte kurz nach, und mit einem abwesenden „Ja" war ich auch schon aus der Tür.

    Wir sollten uns um 9 Uhr auf dem Sportplatz in Neuburg treffen. Ich hatte mir angewöhnt, wenn irgend möglich, etwas früher zu Verabredungen wie auch zum Schulbeginn zu erscheinen.       

    Einige Lehrer reagierten sehr streng, wenn Schüler aus irgendwelchen Gründen zu spät zum Unterricht kamen. Herr Fiedler war einer dieser strengen Lehrer, und mir reichte es, mit anzusehen, wie er jedes Mal die Mitschüler, die zu spät kamen, mit Beschimpfungen und Zusatzhausaufgaben „motivieren" wollte, einfach pünktlich zu sein.       

    Er zitierte zu gerne seinen Vater, der als Maurer auf dem Bau gearbeitet hatte, mit dem Spruch: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Mauers Pünktlichkeit".       

    Wir konnten es alle nicht mehr hören, aber irgendwie schien mir diese Vorgehensweise auch ihre Vorteile zu haben. Zumindest diesbezüglich hatte ich mit Herrn Fiedler keine Schwierigkeiten, und gerade an diesem Morgen sollte das auch so bleiben.       

    Als ich nach guten 20 Minuten mit meinem Fahrrad auf dem Sportplatz ankam, waren Herr Fiedler, Matthias und Dirk schon da. Herr Fiedler fragte alle weiteren Ankömmlinge sofort, ob jeder denn auch das Dress und die Fußballschuhe mithat.       

    Es war für uns alle das erste offizielle Fußballspiel, und insofern war jegliche Nachfrage auch berechtigt, wie sich beim späteren Umziehen herausstellte.       

    Dieses erste Spiel war ein Freundschaftsspiel gegen einen alten Lokalrivalen, die „SG Zetor Benz. Trotz unserer Unerfahrenheit war für unseren Trainer die Marschrichtung klar, wir, das Team von „Traktor Steinhausen können nur als Sieger vom Platz gehen.       

    Traktor Steinhausen wurde nicht nur gute zwölf Jahre vor der SG Zetor Benz gegründet, sondern sogar einen Monat vor der Deutschen Demokratischen Republik. Wir konnten uns aussuchen, welcher Anlass mehr verpflichtend war.       

    Es spielte auch keine allzu große Rolle, dass wir aufgrund unseres Alters ein natürliches Desinteresse an dieser Art von Motivationshintergrund hatten. Wir nahmen es so hin und redeten uns ein, dass das alles seine Richtigkeit hat.       

    Mittlerweile waren wir vollständig und kamen sogar relativ pünktlich los. Klar war, dass wir mit dem Fahrrad zum Spiel fahren mussten. Der Weg erwies sich als anstrengender und weiter als gedacht. Der Nebel und die Kälte wollten einfach nicht weichen, und so fuhren wir durch ein für alle unbekanntes Terrain auf schlechten, kraftzehrenden Feld- und Waldwegen.       

    Die ganze Gegend hatte durch den Nebel ein eigenartiges, etwas grusliges Aussehen, und mir kamen Erzählungen von meinem Onkel Georg in den Sinn, der von genau solchen kalten und nebligen Gegenden aus seiner Kriegsgefangenschaft in Russland erzählt hatte.       

    Mir lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken, und ich gab mir doppelt so viel Mühe, nicht den Anschluss an die Gruppe zu verlieren.      

    Obwohl wir noch gar nicht weit gefahren waren, ich schätzte vielleicht fünf bis sechs Kilometer, fand ich es irgendwie komisch, dass ich so nah an meinem Heimatort die Gegend nicht mehr kannte.       

    Ich beschloss, dass sich das nach unserer Rückkehr in den kommenden Wochen ändern muss. Herr Fiedler rief:       

    „Kommt Jungs, lasst uns eine kurze Pause machen, ihr fallt mir sonst vor Schwäche auf dem Platz noch um."       

    Trotz der Aufregung willigten alle sofort ein. Es war abenteuerlich anzusehen, auf welchen Fahrrädern wir unterwegs waren. Bis auf das Fahrrad vom Trainer bot sich ein erbärmliches Bild. Kein Fahrrad hatte seine ursprünglichen Bestandteile, sowohl eigenwillige Farbkombinationen als auch wild zusammengebaute technische Teile vermittelten den Eindruck einer verwegenen Truppe junger Abenteurer.       

    Es bestand jederzeit die reale Gefahr, dass jemand aufgrund eines technischen Defekts liegenblieb und wir alle womöglich zu spät zum Freundschaftsspiel kamen. Da nur der Trainer die Strecke kannte, mussten wir auf unser Glück hoffen.       

    Nach ungefähr einer Stunde kamen wir in Benz an. Obwohl wir wie im Training nur auf dem Halbfeld spielen sollten, konnten wir aufgrund des Nebels nicht mal von Tor zu Tor sehen. Wir dachten schon, dass diese ganze Quälerei der Anfahrt umsonst gewesen war. Diese Zweifel waren aber unbegründet, und nach kurzer, verhaltener Begrüßung mit unserem Gegner ging es auch schon in die Kabine zum Umziehen, und die ganze Pracht der Ausrüstung kam nun zum Vorschein.       

    Beim Anblick der auf dem Boden verteilten Fußballschuhe musste ich sofort an die Pause auf der Anfahrt und den chaotischen Anblick der Fahrräder denken, hier bot sich ein ähnliches Bild. Ich dachte an die Schwierigkeiten beim Versuch, in Wismar passende Fußballschuhe zu bekommen. Mutter und ich hatten es dort mehrere Male versucht und irgendwann eine Art von Mitleid bei der Verkäuferin erweckt. Diese gab uns dann über eine Lieferung in der kommenden Woche den entscheidenden Tipp.       

    Auch wenn aus dem erhofften Schuhmodell ein unverhofftes geworden war, so hatte ich zumindest mein erstes Paar Fußballschuhe vor mir liegen.       

    Andere wie Dirk, Günter und Bernd müssen ähnlich ausdauernd mit ihren Eltern vor Ort in Wismar gewesen sein, um in einem der beiden Sportgeschäfte das gleiche Glück zu erzwingen. Wenn jemand nichts erzwingen musste, hatte er meistens Beziehungen, wir hatten die leider nicht.

    Matthias, der natürlich auch neue Fußballschuhe hatte, war einer dieser Glücklichen und zeigte das auch gerne. Der Rest der Mannschaft war mit verschiedenen Hallenschuhen ausgestattet, die bei dem Wetter nun gar nicht zu gebrauchen waren.       

    Herr Fiedler wusste um die Schwierigkeiten der Beschaffung und übersah dies scheinbar, wohlwissend, dass es bei den Platzverhältnissen zur Rutschpartie kommen und das unter Umständen den sicher erhofften Sieg kosten könnte.

    Noch bunter wurde es bei den Trikots, Hosen und Stutzen. Da wir zwei unterschiedliche Kleidersätze hatten, war es anscheinend einer mangelhaften Abstimmung geschuldet, dass nahezu die Hälfte die roten Dresse eingepackt hatte und der Rest die blauen.       

    Unserem Trainer verschlug es fast die Sprache, aber es war zu spät, um etwas ändern zu können. Es passte irgendwie alles zu diesem Tag und endete entsprechend entgegen der ausgegebenen Parole „Nur der Sieg zählt" mit einer deftigen Niederlage.       

    Eine Parole, die mir in der Zukunft noch des Öfteren begegnen sollte.       

    Wir fuhren müde und der Niederlage wegen unglücklich auf unseren Fahrrädern die beschwerliche Strecke zurück. Was wir da noch nicht wussten, und das war das einzig gute Ergebnis an diesem Tag:       

    Eine Anreise mit dem Fahrrad sollte es nie mehr geben.

    Am nächsten Tag hatte keiner auch nur einen Gedanken an Fußball. Wir trafen uns ansonsten so oft es ging, um einfach zu bolzen, aber der Fahrradausflug nach Benz verlangte eine Pause vom runden Leder. Das war mir ganz recht, denn Bernd und Paul, meine Nachbarn und Spielkameraden, zog es immer wieder in die verschiedenen Wälder, die uns mal größer und mal kleiner umgaben und stellenweise mit kleinen Bächen durchzogen waren, die sich wiederum für aufregende Aktivitäten eigneten.       

    Paul war zwei Jahre älter als Bernd und ich und hatte neben handwerklichen Fähigkeiten gute Ideen, wie man diese Landschaft nutzen konnte. Voraussetzung war natürlich eine minimale Form der Bewaffnung.       

    Ein Messer war Pflicht und unbedingte Voraussetzung, um die Ideen von Paul auch umzusetzen. Ich war hier gut ausgerüstet und stolz auf meines, wobei mir gar nicht klar war, wo das Messer eigentlich herkam. Es war für mich nahezu ein Original aus irgendeinem Cowboyfilm: der gleiche Griff wie ein Bowiemesser, ein kleines Parier-Element zwischen Klinge und Griff und dann eine fünfzehn Zentimeter lange Klinge mit einem kleinen Entenschnabel.       

    Ich konnte es nicht nur sehr gut zum Schnitzen benutzen, denn wir hatten viel zu schnitzen, sondern es hatte auch den richtigen Schwerpunkt und warf sich somit auch sehr gut, sodass auch ein Feind auf Distanz ohne Probleme zur Strecke gebracht werden konnte. Neben dem Messer brauchten wir ohne Frage auch einen Colt, hier blieb nur, einen zu schnitzen.       

    Paul bewies besonderes Talent, und Bernd und ich versuchten nur irgendwie, an das Original heranzukommen.      

    Die eigentliche Herausforderung kam dann jedoch im Kampf. Es war immer wieder die gleiche Frage zu beantworten, wenn wir hinter Bäumen und Büschen versteckt auf den Gegner lauernd einen Schuss abfeuerten, der mit einem lauten, nachempfundenen Geräusch aus uns herausbrach.       

    War der andere getroffen oder eben nicht?       

    Darüber konnten wir uns trefflich streiten, und so manches Mal gingen wir im Streit auseinander. Das hielt aber nie lange an, und so trafen wir uns zum nächsten Abenteuer.       

    Besonders gerne sprangen wir über die Bäche oder über kleine Schluchten. Hierzu schnitzten wir aus Weiden zirka 3 Meter lange Stangen und machten eine Art Stabseitsprung. Das war nicht immer ganz gefahrlos und führte über nasse Sachen, wenn wir eben im Bach landeten, auch schon mal zu verstauchten Knöcheln und anderen Blessuren.       

    Das gehörte einfach dazu, der Indianer kennt ja schließlich auch keinen Schmerz.       

    Baumhäuser in luftigen Höhen, Erdhöhlen, Staudämme, geköpfte Hühner, die wir versuchten über einem Feuer garzubekommen, es ging immer irgendetwas. In der Woche fehlte uns durch die Schule die Zeit für ausgedehnte Ausflüge, und so kam uns die riesige Scheune in der Mitte des Dorfes gerade recht.       

    Eigentlich war es verboten, dort zu toben, aber das berührte uns nicht weiter, denn es wurde kaum kontrolliert.       

    Die Scheune war 40 Meter lang, 30 Meter breit und im Dachfirst 15 Meter hoch. Gut gelegen unweit von unserem Garten. Durch die Holzkonstruktion und die notwendigen Versteifungen ließen sich sehr einfach Seile befestigen, an denen wir dann durch die Scheune schwebten und uns einfach fallenließen.      

    In der Regel war die Scheune besonders zu den Seiten hin mit Heu vollgestopft, und durch die unterschiedliche Entnahme und Bestückung ergaben sich immer wieder andere Heuhaufen, auf die man fallen oder springen konnte.       

    Ein ähnliches Spiel ergab sich kurz nach der Ernte, wenn Heu lose auf den Feldern zu Mieten gestapelt wurde oder Heuballen zu großen Mieten auf dem LPG-Gelände standen.       

    Die Möglichkeiten gingen einfach nicht aus. Wenn das Wetter nicht mitspielte, ging es auf den Heuboden von Paul und Bernd. Über dem Stahl war der halbe Dachboden mit Heu vollgestopft, und so war für den Notfall immer gesorgt.

    Das Dorf

    Das Leben in unserem Dorf hatte für mich etwas von einer Insel, und auch wenn ich bis dahin noch auf keiner Insel gewesen war, so musste es dort zumindest sehr ähnlich sein.       

    Mein Lebensbereich beschränkte sich im Wesentlichen, schon durch die Tatsache, dass meine Familie kein Auto hatte, auf einen Bewegungsradius von ungefähr vier Kilometern. Es bestand auch nicht wirklich die Notwendigkeit, sich von dieser „Insel" an Land zu begeben, denn unser Dorf hatte aus meiner Sicht alles, was notwendig war: den Konsum, das Kulturhaus mit der Kneipe und dem Tanzsaal im Erdgeschoss, darüber die Einrichtungen der Kampfgruppe, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG genannt, die Ställe, die Post, den Kürschner und nicht zuletzt den Kindergarten, in dem ich bis zur Einschulung untergebracht war.       

    Wir waren eigentlich sogar in der komfortablen Situation, dass wir alles doppelt zur Verfügung hatten, denn ganz in der Nähe, nur durch ein schmales Waldstück getrennt, befand sich der große Bruder unseres Dorfes.       

    Zusammen waren wir Neuburg- Steinhausen. Wir Steinhausen, die anderen Neuburg.       

    Es war nie wirklich eine Rivalität zwischen den Dörfern, aber irgendwie empfand ich uns doch als eine Art Anhängsel. Dieses Anhängsel verlieh aber unserem Fußballverein seinen Namen, und das brachte uns gefühlt dann doch wieder auf eine Stufe.      

    Neuburg war schöner. Die Anlage des Dorfes strömte allein durch die abwechslungsreiche Landschaft mit den unterschiedlichen Höhenzügen, die sich waldreich ab der Mitte des Dorfs integrierten, eine für mich unglaubliche Gemütlichkeit aus. Einer dieser Höhenzüge in der Mitte von Neuburg war am höchsten gelegen und im Laufe der Jahre zu einem Platz für Veranstaltungen umfunktioniert worden.

    Ähnlich wie die Hauptburg südlich von Wismar, die dem Land den Namen Mecklenburg gab, gab es in grauer Vorzeit auch hier eine Befestigungsanlage.       

    Nun wurde hier allerdings nicht mehr gegen fremde Stämme verteidigt und gekämpft, der Kampf war bei den Volksfesten eher ein Wettkampf mit dem Alkohol.       

    Es musste in der Geschichte dieses über Jahrhunderte heidnischen, freien Volkes, der Mecklenburger, gelegen haben, die, wie ich aus dem Geschichtsunterricht von Herrn Fiedler erfuhr, zwar immer arm gewesen waren, sich aber bis aufs Messer gegen die Christianisierung gewehrt hatten.       

    Es war dieses ganze Elend von Leibeigenschaft, Frondiensten, dem Recht der ersten Nacht und anderen Qualen.       

    Selbst als im benachbarten Preußen die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, änderte sich in Mecklenburg noch lange nichts.       

    Ich dachte mir, dass es das aus alter Zeit immer noch gefühlte Elend war, oder die durch die ewige Unterdrückung vorhandene Rückständigkeit, die viele das Leben nur im Delirium ertragen ließ.       

    Wie auch immer, ob nun der erste Mai als Kampftag der Arbeiterklasse oder welche Veranstaltung es auch war, diese Auswüchse nervten mich und waren für uns nicht gut.

    Das Fehlen der großflächig angelegten LPG sowie der Ställe ließ Neuburg eine Einheit sein. Die Nähe zwischen der neu eröffneten Schule mit angeschlossener Sporthalle, dem Sportplatz und den Verkaufseinrichtungen bot in meiner Vorstellung ein perfektes Umfeld.       

    Ich hatte meine Insel und freute mich auf den ersten Schultag im September 1974 in der neuen Oberschule mit dem verpflichtenden Namen „Rosa-Luxemburg".

    Vater arbeitete in der LPG im Dorf und war als Werkstattleiter unter anderem für die technischen Belange des Fuhrparks zuständig.       

    Ich besuchte ihn dort sehr gerne, auch wenn das schmutzige Umfeld eher abstoßend war. Die Traktoren, Anhänger, Erntemaschinen und die anderen verschiedensten Kraftfahrzeuge wirkten wie ein Magnet auf mich.       

    Vater konnte, für mich aufgrund der Vielzahl an Teilen unbegreiflich, einen Motor in all seine Bestandteile zerlegen und entsprechend auch wieder zusammenbauen.       

    Ich fragte mich, warum ein Werkstattleiter überhaupt arbeiten musste und nicht nur all seine Mitarbeiter anleitete.       

    Vater beatwortete mir diese Frage auch nicht wirklich, ich nahm an, dass er einfach nur Spaß an seiner Arbeit hatte und deswegen selbst mit anpackte.       

    Der Boden der riesigen Werkstatt war ganz und gar mit einer Mischung aus Motorenöl und Sandstaub bedeckt. Die ganze Fensterfront entlang standen Werkbänke aneinandergereiht, in der Halle verteilt waren unterschiedliche Arbeitsbänke mit schwerem Werkzeug, wie Maul- und Ringschlüsseln in riesigen Dimensionen, sowie Stahlwannen für abgelassenes Getriebe oder Motorenöl. Garniert wurde dieses scheinbare Durcheinander durch Ersatzteile für die verschiedenen zu reparierenden oder zu wartenden Maschinen.      

    Vater sah mit einer Art Armeeschirmmütze und dem schwarzen, ölverschmierten Overall fast verwegen aus, und somit sah ich ihm gerne bei der Arbeit zu.       

    Sein Spezialgebiet schienen festgelaufene Motoren zu sein. Er entfernte mit einem Ungetüm von Flaschenzug die Motoren aus den Halterungen des Motorraums und setzte sie auf dem Hallenboden auf bereitstehende Metallböcke ab. Nach und nach löste er die einzelnen Teile, bis die Kolben vor ihm auf dem Tisch lagen und die Analyse des Problems erfolgte.       

    „Vater, was machst du nun mit dem Teil?", fragte ich.       

    Er versuchte, mir mit einfachen Erklärungen die Geheimisse der Motorentechnik nahezubringen, schilderte im Detail, was die Kolbenringe verraten, wo im Kolbengehäuse die problematischen Stellen liegen und wie mühsam das Schälen der Reibungsflächen mit einfachsten Hilfsmitteln, wie etwa einer Rasierklinge, funktionierte.       

    Ich war beindruckt und stolz und musste im gleichen Moment an meinen Freund Michael denken, dessen Vater Direktor an der Neuburger Oberschule war.       

    Ich fragte mich unwillkürlich, ob er das wohl auch kann. Unsere Väter und damit verbunden unser Umfeld waren so dermaßen unterschiedlich, dass ich mich spontan wunderte, wie wir eigentlich befreundet sein konnten.       

    Dieser Gedanke verflog sehr schnell, als sich die Hallentür öffnete und der LPG-Vorsitzende eintrat. Vater gab mir zu verstehen, dass ich gehen sollte, und ich tat so, als ob ich nur kurz dagewesen war, um eine Frage zu stellen.       

    Ich mochte Herrn Bräuer nicht und grüßte nur kurz und verabschiedete mich von Vater. Petra, seine Tochter, ging mit mir in eine Klasse und da ich sie gut leiden konnte, war mir vollkommen unklar, wie sie so einen unsympathischen Vater haben konnte.       

    Herr Bräuer hatte mich vor gar nicht allzu langer Zeit von einem Radtraktor heruntergeschmissen, der auf dem LPG-Gelände stand. Vater kam zufällig dazu und geriet über die Art und Weise mächtig mit ihm in Streit.       

    Natürlich war Herr Bräuer im Recht, aber mir schien, dass auch noch andere Gründe für den heftigen Wortaustausch eine Rolle spielten. Ich hatte mit meinen Kumpels auch immer mal wieder kleinere und manchmal auch größere Reiberein, das renkte sich aber immer wieder ein, und insofern konnte das bei den Erwachsenen ja auch nur so sein, zumal sie ja immer vorgaben, alles viel besser zu verstehen.

    Unmittelbar am LPG-Gelände befand sich ein Karree aus rotem Ziegelstein, das an einer Seite offen war.       

    Ursprünglich müssen es Pferdestallungen von dem Gutsherrn im Dorf gewesen sein, aber mit den Jahren wurde daraus eine Ansammlung mit unterschiedlichsten Verwendungen, und das verlieh dem Ganzen eine eigentümliche Aura. Der der LPG zugewandte Teil des Karrees beherbergte immer noch einen Pferdestall, der mit einer Wand direkt an das Schlafzimmer meiner Oma grenzte.       

    Ihre Wohnung erstreckte sich in Verlängerung des Pferdestalls hinaus bis zur Ecke des Karrees und weiter mit zwei Räumen um die Ecke herum in Richtung Westen.       

    So wie Oma wohnte, musste es auch auf einem Bauernhof sein: der Ofen mit der Feuerstelle in der Küche, zwei alte Holzküchenschränke mit Waagen, Kaffeemühle, Bretter und vieles mehr. Gleich von der Küche ging es in eine Art Wirtschaftsraum mit Brennmaterial, Blechwannen, Gartengeräten, Bottichen, einer Räucherkammer und Unmengen eingeweckter Lebensmittel aller Art.       

    Gerade wenn wir mal wieder ein Schwein geschlachtet hatten, ging es hier hoch her. Die Schweinebraten wurden gepökelt und in den Holzbottichen eingelegt, die Räucherkammer war mit allen möglichen Würsten und Schinken übervoll, und es wurde gefeiert.      

    Ein Rätsel war mir allerdings, wie Oma es aushielt, jedes Mal gut 50 Meter bis zum Plumpsklo zu gehen. Es war mir ein Graus, in diesen Bretterverschlag am Ende des Karrees mit einem undefinierbaren dunklen, irgendwie Angst einflößenden Loch zur Toilette zu gehen. Alle versuchten mir dann einzureden, dass ich schon ein großer Junge war, wenn ich das allein schaffte. Aber schon dieses harte Zeitungspapier, das erst weich geknetet werden musste, bevor es überhaupt irgendwie nutzbar war, war einfach nur schlimm.       

    Oma kannte aber nichts anderes und somit war es für sie nie ein Problem.       

    Ich war so froh, dass wir zu Hause schon einen Schritt weiter waren und unsere Toilette die Nutzung von Zeitungspapier nur verstopft hätte. Über ihrer Eckwohnung befand sich die Mühle, die von unserem Nachbarn Herrn Rühs betrieben wurde.       

    Das Getreide der LPG für die Tierproduktion der LPG und die zahlreichen Eigenversorger, wie wir selbst, wurde hier verarbeitet. Die steile Treppe führte direkt hinter dem Küchenfenster meiner Oma auf den Mühlenboden, und mit Betreten desselben war man in einer anderen Welt. Eigentlich hätte es pro Tag diverse Abstürze mit Schwerverletzten geben müssen, denn die Stufen waren schmal, die Treppen steil und die Arbeitsschuhe rau und groß gearbeitet.       

    Aber es passierte nichts.       

    Ich dachte mir, dass allen klar war, dass ein Sturz nur tödlich enden konnte, und das machte vorsichtig.       

    Die vorhandene abenteuerliche Balkenkonstruktion und das Fachwerk waren über und über mit Mehlstaub bedeckt, und somit sah der ganze, sehr enge Dachboden wie eine weiße Märchenwelt aus.       

    Schräg gegenüber der Treppe auf der anderen Wandseite befand sich die Luke, durch die die Korn- und Mehlsäcke mit Hilfe eines Seilzuges abgelassen wurden.       

    Was von oben wie von unten unheimlich interessant aussah, war für meine Oma nicht so lustig, da sich unter der Luke genau ihr Schlafzimmerfenster befand.       

    Da Herr Rühs unser Nachbar war, ich mit seinen Söhnen zwei gute Spielkameraden gefunden hatte und mein Vater durch unsere kleine Tierhaltung immer Bedarf an rationierten Getreidesäcken hatte, war mein Zutritt zur Mühle frei. Auch wenn ich es nicht übertreiben durfte, so ließ er mich gewähren.      

    Gleich neben der steilen Treppe war ein weiterer kleiner Pferdestall von Herrn Gerdes, dem ehemaligen Kutscher der damaligen Gutsfamilie von Vieregge, die dem Dorf letztendlich das jetzige Kulturhaus spendierte.       

    Zur Herbstfurche im Garten lieh sich Vater immer mal wieder ein Pferd aus, um den Pflug zu ziehen. Ich war über die Ausmaße dieser Arbeitspferde immer wieder erstaunt.       

    Vater hatte auf der Siedlung in Neuendorf auch ein Pferd und konnte damit umgehen. Irgendwann stand kein Pferd mehr zur Verfügung, und so durfte ich es ersetzen.       

    Ich war meinen Eltern jedoch unendlich dankbar, dass sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1