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Déjà Vu
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eBook341 Seiten4 Stunden

Déjà Vu

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Über dieses E-Book

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Oder doch?

Die Weichen stehen auf unaufhaltsames Wachstum. Nichts kann die positive Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft aufhalten. Doch es kommt anders. Ebenso überraschender wie schlagartiger Verfall von Werten stürzt Deutschland in ein Chaos ungeahnten Ausmaßes. Die etablierte Politik bleibt die Antworten schuldig, ganz im Gegensatz zu den immer lauter werdenden radikalen Kräften. Eine Allianz aus Etablierten und Radikalen formiert sich, scheinbar um die einschneidende Krise gemeinsam zu bewältigen. Das Ziel ist ebenso klar wie unausgesprochen. Die Macht. Die Etablierten streben nach deren Erhalt, die Radikalen nach ihrer Gewinnung.

Es kommt, wie es kommen muss. Verbraucht, ohne einen Funken Entschlossenheit und Vision, lassen sich die etablierten Kräfte ausschalten. Die Republik in Deutschland ist am Ende. Dem Terror sind Tür und Tor geöffnet. Wieder einmal.

Alessandro Longari, ein in Berlin akkreditierter italienischer Journalist, versucht Licht ins Dunkel der Machtergreifung und ihrer Folgen zu bringen, doch die allgegenwärtige Gewalt bringt ihn nicht nur in immer wieder beinahe ausweglose Situationen, sondern auch in Lebensgefahr. Sein Gegenspieler Köster, ein verbissener Kommissar der Berliner Polizei, ist unerbittlich. Die Geschichte wiederholt sich nicht? Doch, sie wiederholt sich.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Sept. 2014
ISBN9783847624073
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    Buchvorschau

    Déjà Vu - Christian Brückner

    Déjà Vu

    Kriminalroman

    Ich widme dieses Buch meiner wahrhaft besseren Hälfte und unserem Sohn, der eine einzige Werbung für das Kinderhaben ist.

    Ohne mein Basislager geht Nichts …

    1

    Brandstetter hatte intensiv geplant. Großen Zeitaufwand benötigte er dafür nicht. Er wusste wie so oft schon lange, was zu tun war. Er hatte seine Legionen ausgeschickt und sie leisteten ganze Arbeit. Dabei gaben sie sich keine Mühe, diskret zu sein. Im Gegenteil. Es sollte ein weithin sichtbares Fanal für alle diejenigen sein, die insgeheim hofften, zu einem passenden Zeitpunkt losschlagen zu können. Es würde erstens keinen passenden Zeitpunkt geben, da das Regime keine offensichtliche Schwäche zeigen würde. Und wenn doch, würde zweitens die charakterliche Elite ein für alle Mal ausgeschaltet sein. Keine wahrnehmbaren Persönlichkeiten einer Opposition bedeutete keine Opposition. Die Massen sollten sich mit einer einzigen Führerfigur bis zur Selbstaufgabe identifizieren. Und dieser für alle Zeiten entscheidende Schlag wurde jetzt mit solchem Getöse geführt, dass jeder Gegner konsequent beseitigt sein und für den Rest die Einschüchterung grenzenlos und vollkommen sein würde.

    Natürlich gehörte nicht nur körperliche Gewalt zu dieser Aktion. Auch trat wieder einmal ein Phänomen zutage, das zunächst weithin unterschätzt wurde: der psychische Druck, beginnend mit ausgeklügelter Propaganda für die Massen, über alle bekannten Formen von Erpressung und Kompromittierung bis hin zu konsequenter Gehirnwäsche bei politisch Andersdenkenden. So begann die groß angelegte Säuberung mit der offiziellen und zugleich allgemein akzeptierten Begründung, dass es während der Machtergreifung und deren Stabilisierung zu unerwünschten Exzessen gekommen sei, deren Ursache mit der Wurzel beseitigt werden müsse. Diese Exzesse hätten sich zu sehr handfesten Plänen eines Staatsstreichs ausgewachsen. Der Führer der Regierung sähe sich mit aller Strenge zum Handeln gezwungen und wäre jetzt Deutschlands oberster Gerichtsherr.

    Weite Teile der Bevölkerung verbanden damit die Hoffnung, die Willkür und Gewalt auf den Straßen würde unterbunden sowie Rechtssicherheit wieder hergestellt. Diese Hoffnungen wurden wenigstens teilweise erfüllt, war Rechtssicherheit für alle ab sofort oberstes Gut und einfach zu überschauen, denn es genügte der Blick auf eine einzige Person, deren Daumen sich hob oder senkte: die Vollendung des Führerprinzips. Das war auch das eigentliche Ziel der neuen Machthaber. Die Gewalt auf allen Ebenen blieb, erst recht die deutlich sichtbare auf der Straße.

    So nahmen die Dinge ihren Lauf. Nicht nur offensichtliche politische Gegner wurden einfach ermordet, sondern ganze Personenkreise, die im Verdacht standen, irgendwann einmal in das oppositionelle Lager wechseln zu können, einfach ausgerottet, so der immer wieder zu hörende Terminus technicus. Auch gab es einige Verwechslungen. Diese waren natürlich bedauerlich. Es gab in diesem Zusammenhang aber nur wenige Hundert Tote, eine Zahl, die sich in der Summe fast verschwindend ausnahm. Es fanden gewiss auch zahlreiche Verhaftungen statt, deren Opfer meist in Lagern enden würden und damit auf Raten starben, nachdem sie für die Volkswirtschaft noch eine Weile Frondienste leisten durften. So machten sie sich wenigstens nützlich.

    Auf den ersten Blick gab es keinen wirklichen Schwerpunkt. Die Raserei sparte keine gesellschaftliche Strömung aus. National-Gesinnte, Bürgerlich-Konservative, Kirchenvertreter, Liberale, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und natürlich alle noch weiter links stehenden Gruppierungen waren ohne Ausnahme vertreten. Doch bei genauem Hinsehen war das nur Tarnung, so hart diese Tatsache für die Opfer und insbesondere deren Hinterbliebene klang. Zum zentralen Ziel, der Vollendung des Führerprinzips gehörte vor allem, unterschiedliche Strömungen und deren Galionsfiguren innerhalb der eigenen Bewegung auszumerzen. Das hieß für Mitstreiter und Steigbügelhalter der neuen Machthaber in Deckung gehen und erst wieder das Fähnlein in den Wind hängen, wenn der ärgste Sturm vorüber war. Dann wehte es vielleicht auch gleich in die richtige Richtung und wurde einem nicht von dem Sturm aus der Hand gerissen. Denn niemand wusste, wen es treffen konnte und sollte.

    Heinrich Burger traf es in seiner Villa. Er vergnügte sich gerade mit einem der jungen Dinger, die entweder für Geld oder auch für noch mehr Geld alles machten und sich selbst dann noch mit einem Mann einließen, wenn er sich in jeder Beziehung gehen ließ, fraß, soff, wie ein Schlot rauchte, dementsprechend verfettet aussah und natürlich noch weniger Manieren besaß. Doch das interessierte jetzt keinen mehr. Die Herren in den schwarzen Ledermänteln packen das kleine, blonde Flittchen und schafften sie - spärlich bekleidet, wie sie war - wortlos und entsprechend roh nach draußen. Zeugen sollte es nicht geben. Das würde sie bald merken. Nach ihr würde sowieso kein Hahn mehr krähen.

    Sie schleppten Burger in das zur Villa gehörende Schwimmbad. Seine anfängliche Verstörung wich langsam. Die protzige Ausstattung seines Hauses tat ein Übriges. Sein Selbstbewusstsein kehrte Stück für Stück wieder. Er verstieg sich sogar ansatzweise zu der Arroganz, die seinen Freundeskreis auf das Engste hatte schrumpfen lassen. Überflüssig war die Klärung der Frage, ob es daran lag, dass er es gewohnt war, arrogant zu sein, stets überzeugt war, sich dies leisten zu können und einfach nicht anders konnte oder ob ihm bewusst war, dass er einfach nichts mehr zu verlieren hatte und er das tat, was er schon immer tat, sich nämlich nach allen Regeln der Kunst gehen zu lassen. Letzteres – sprich, dass er nichts mehr zu verlieren hatte – stimmte mit der Realität überein. Alle anderen möglichen Beweggründe interessierten jetzt nicht und würden in wenigen Minuten samt seiner Person unrühmliche Geschichte sein.

    Burger war klar, woher der Wind wehte. Als Vorsitzender einer der großen Parteien war er ein entschiedener Gönner Brandstetters gewesen. Frühzeitig hatte er seine Skrupellosigkeit und absolute Gefühlskälte bemerkt, schon zu Zeiten, als ein kaum der Schulbank entwachsener Brandstetter bei Regionalkonferenzen immer wieder versuchte, das Wort für forsch vorgetragene Beiträge an sich zu reißen. Holprig formuliert, zu Beginn ohne klare Struktur, aber forsch. So etwas beeindruckte. Inhalte waren wie so oft nicht relevant. Die Außenwirkung war das Entscheidende. Burger hatte ihn im Auge behalten, zunächst auf regionaler Ebene verstohlen gefördert, um ihn dann nach und nach an sich zu binden. Der Vorsitz einer großen Partei konnte anstrengend sein. Die ganzen unterschiedlichen Strömungen, die alle zusammen angeblich für eine ach so große Wertegemeinschaft standen, Strömungen, aus denen doch immer wieder der eine oder andere hartnäckige Widerstand kam. Und Hartnäckigkeit war Burgers Sache nicht. Das war einfach nur lästig. Und alles, was ihm lästig war, mussten Andere erledigen. Und dazu brauchte er Charaktere wie Brandstetter. Er hatte die Widersacher auszuspionieren, nach allem nur denkbaren Dreck zu suchen und - wenn es keinen gab – welchen zu machen. Dieser wurde dann in der üblichen Art und Weise genutzt und es gab keinen lautstarken Kritiker, der nicht eher über kurz als über lang nachhaltig verstummt wäre. Ohne Ausnahme. Genau dafür hatte er Brandstetter an seine Seite geholt. Und es hatte sich zunächst bezahlt gemacht. Brandstetter leistete ganze Arbeit.

    Was Burger – wie alle Anderen – unterschätzte, war die Tatsache, dass sich Brandstetter verselbstständigte und sehr rasch lernte, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Falls er sich überhaupt jemals hatte wirklich einspannen lassen. Möglicherweise war es sogar ganz anders und die Honoratioren hatten es nur nicht bemerkt. Ihre Reaktionsschnelligkeit hatten sie sowieso schon vor Jahren und Jahrzehnten eingebüßt. Burger war dennoch irgendwann klar geworden, dass er den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. Die Frage, wer dabei welche Rolle tatsächlich spielte, war mittlerweile absolut unklar. Er versuchte, Brandstetter auf Distanz zu halten. Doch der kam immer näher. Er versuchte ihn zu diskreditieren, zu korrumpieren, seinen eigenen Hals auf irgendeine Weise zu retten. Die Schlinge zog sich enger und enger. Burger hätte es schaffen können. Doch er war nicht konsequent. Er war zu viel zu lethargisch. Und irgendwann nicht mehr tragbar. Brandstetter hatte sich in den Zeiten der sich verschärfenden Staatskrise die Fusion mit der Schwesterpartei zur endgültigen Ausschaltung Burgers zunutze gemacht. Seiner nicht ganz legalen Parallelkarriere bei eben dieser Schwester sei Dank. Jetzt war er der Herr im ganzen Haus. Burger war bei Lichte betrachtet schon lange ein Schandfleck. Brandstetter hatte dem Desaster ein Ende bereitet und war der geborene Saubermann. Die übrigen hochrangigen Funktionsträger hatten längst die Zeichen der Zeit erkannt und Burger stand alleine da, wo er selbst glaubte, absolut nicht hinzugehören.

    Er war zutiefst gekränkt. Und er brütete schon eine Weile ergebnislos darüber, wie er sich rächen konnte, selbst wenn er sich dabei selbst mit in den Abgrund riss. Das wäre ihm die Sache wert. Er hatte viel zu viel gegen Brandstetter in der Hand. Aber schon alleine deswegen war seine Entscheidungsfähigkeit gelähmt. Burger wusste nicht, womit er anfangen sollte. Noch schwerer als er selbst, wog die Tatsache, dass seine über Jahre gepflegte Dekadenz ihn nicht losließ. Warum sich mit einer – wenn auch sehr massiven – Niederlage beschäftigen, wenn das Glück doch weiterhin käuflich schien? So schob er den Zeitpunkt einer Entscheidung immer wieder hinaus. Es bliebe ja noch genug Zeit, Brandstetter zur Strecke zu bringen, sagte er sich immer wieder. Diese Wahrnehmung trog und bewies, dass er nichts gelernt hatte. Er hätte wissen müssen, dass auch Brandstetter die potenziellen Auswirkungen ihrer langen Zusammenarbeit kannte und Mitwisser skrupellos ausschaltete. Schließlich hatte er, Burger, ihn dazu eingestellt, wenn auch jede körperliche Gewalt für ihn selbst immer tabu war.

    Nicht so für Brandstetter. Jetzt brauchte er keine Rücksichten mehr zu nehmen. Die Anwendung exzessiver körperlicher Gewalt brachte ihm mittlerweile Applaus und sogar die eine oder andere Auszeichnung ein. Burger zeterte, er machte sich wichtig, schrie, er habe längst Kontakt zur internationalen Presse und sogar fremdländischen Geheimdiensten geknüpft. Brandstetter könne unmöglich davonkommen. Nur wenn er am Leben bliebe, könne er, Burger, einen handfesten Skandal, eine Staatskrise, einen Krieg oder Bürgerkrieg verhindern. Doch das Urteil war längst gefällt. So wie früher in seiner Ära als Parteivorsitzender, als er Karrieren beendete, wie es ihm gefiel. Und nun würde seine Karriere unwiderruflich beendet, Rückkehr ausgeschlossen. Hier war Brandstetter sehr viel konsequenter als Burger.

    Sie hatten sehr schnell einen Galgen am Rand des Schwimmbeckens aufgebaut. Burger höhnte, ob sie denn nicht wüssten, wie man richtig henkt. Ein Galgen am Rande eines Schwimmbeckens? Hatte man so etwas schon gesehen? Sie packten ihn wortlos, vertäuten den Strick sehr sorgfältig mit den aufgequollenen, feisten Knöcheln Burgers, der sich in ein immer hysterischer werdendes Lachen hineinsteigerte, ob er jetzt mitspielen und so tun solle, als ob er jetzt ersticke oder ihm das Genick bräche. Sie hätten da wohl in Anatomie etwas falsch verstanden. Oder seien dies die Proben für die nächste Prunksitzung? Wenn ja, würde das Publikum ganz sicher seinen Spaß haben.

    Ebenso wortlos wurde Burger mit den Füßen nach oben aufgehängt. Die langen Kerls hatten trotz des erheblichen Gewichts Burgers keinerlei Schwierigkeiten. Sie waren eine eingespielte Mannschaft. Dann banden sie den Strick so fest, dass Burger mit dem gesamten Kopf und auch nur mit dem Kopf ins Wasser tauchte. Zum Atmen würde er zeigen müssen, was die Muskulatur hinter seinem gewaltigen Bauch noch hergab. Es war ein erbärmliches Trauerspiel aus Sicht der Folterknechte. Schon beim dritten Versuch, den lebensnotwendigen Sauerstoff wenigstens noch zu erhaschen, brach er zusammen. Dazwischen lautes und schrilles Gequieke, als würde eine Sau im Schlachthof ihrer letzten Bestimmung zugeführt. Ein gewünschter und aus Sicht der neuen Machthaber und deren williger Vollstrecker überaus passender Nebeneffekt mit einem Schönheitsfehler: Es ging nicht qualvoll genug, weil zu schnell. Wildes Zappeln folgte, der Todeskampf hatte begonnen. Auch der dauerte nicht lange. Der Galgen war grundsolide und hielt das aus. Sie nahmen ihn ab, beseitigten routiniert ihre Spuren, warfen Burger in die nahe gelegene Havel und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Den Rest würde die Kripo erledigen.

    2

    Alessandro Longari erschauerte. Es war ein früher Abend im Januar. Ein kalter Wind ließ die sowieso schon niedrigen Temperaturen noch kälter erscheinen. Obwohl er schon länger hier lebte und sich an das manchmal unwirtliche Klima in dieser Jahreszeit gewöhnt haben sollte, sehnte er sich gerade in diesem Moment besonders nach seiner Heimat tief im Herzen Italiens.

    War es nur das scheußliche Wetter? Auch in seiner Heimat konnte es richtig kalt werden. Auch in Umbrien konnte der Wind richtig ungemütlich sein. Auf gut Italienisch mostruoso, eben scheußlich. Er brauchte gar nicht erst in sich hineinzuhören, um zu wissen, dass es trotz der typisch italienischen Leichtigkeit seiner Garderobe zuallerletzt dieser kalte Januar mit der besonders steifen Brise aus Osten war, der ihm die Gänsehaut über den Rücken jagte.

    Natürlich vermisste er seine Familie, allen voran seine Eltern, die noch immer seinen Bruder Francesco bei der Bewirtschaftung des Hotels in seinem Geburtsort unterstützten, obwohl beider Gesundheit dies kaum noch hergab. Besonders die gutmütigen Augen seiner Mutter Filomena, die über achtzigjährig das war, was sie schon immer gewesen war, seit er denken konnte: l´anima della famiglia, das Herz, die Seele der Familie. Sein Vater Marcello liebte und bewunderte sie, intensiver und dankbarer als jemals zuvor. Seine Position als Capofamiglia berührte dies nicht im Geringsten. Was war das Familienoberhaupt schon ohne die Seele der Familie? Seelenlos, certo. Also gingen sie jeden Sonntag Händchen haltend die steile Hauptstraße zum Dom in den Frühgottesdienst. Das tat ihnen trotz des unübersehbaren körperlichen Verfalls einfach gut. Eine feste Größe in ihrem arbeitsreichen Leben seit mehr als sechzig Jahren und eine Facette ihrer kaum zu erschütternden Ausgeglichenheit. Wie der ausgiebige Plausch auf der Piazza del Popolo nach der Messe.

    Und dann sein Bruder Francesco, gut 8 Jahre jünger als er, Alessandro, mit seiner Frau Beatrice, Daniele und Maria, den beiden Kindern. Erst zum Jahreswechsel hatte er sie besucht und das genossen, was ihm selbst bisher nicht vergönnt war, die stete Geborgenheit in der Familie mit der sprühenden Lebensfreude der beiden Kinder, wenn auch Letztere sich manchmal in derbe Streiche verstieg, deren Ziel meist er war. Alessandro musste lächeln. Die Gedanken an Daniele und Maria ließen ihn für einen Moment vergessen, wo er war.

    Die Kälte hatte er verdrängt. Doch eine scharfe Böe riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Da war sie wieder, diese zähe und nicht nachlassende Kälte, als wollte sie ihn mit ihren Klauen nie wieder loslassen. Alle Verdrängung half nichts. Auch ein wärmerer Mantel hätte nicht geholfen. Diese Kälte hatte eine Schärfe, die über ein reines Witterungsphänomen hinausging. Diese Kälte wurde durch die Einsamkeit gesteigert, fernab seiner Familie, die er so liebte. Wetter klamm, ja, Einsamkeit, auch, natürlich. Doch das waren nicht die Faktoren, die diese Kälte zutreffend beschrieben.

    Seit er für seine große alte Zeitung Il Messaggero schrieb, hatte er manches erlebt, besonders seit er als Auslandskorrespondent tätig war. Nicht nur die ständigen Irrungen und Wirrungen in seinem eigenen Land, das teilweise sehr eigenwillige Verständnis einer Balance zwischen Macht und Vertrauen in der italienischen Politik. Das hatte es schon immer gegeben, Normalität gewissermaßen, ebenso wie ausgeprägte und immer wieder komisch, ja geradezu grotesk anmutende Selbstinszenierungen der obersten Staatsführung. La Serenita, die charakteristische italienische Gelassenheit relativierten Vieles.

    Überhaupt, diese italienische Gelassenheit. Eine feste Größe, scheinbar. Doch die schien selbst er als routinierter Berichterstatter im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich zu lassen, sobald ihn ein Auftrag über die Grenzen seiner Heimat ins Ausland führte. Er glaubte selbst schon lange nicht mehr an die immer noch verbreitete Sichtweise, das Gros der Italiener ließe sich sowieso nicht ernsthaft aus der Ruhe bringen. Meist sah er in Äußerungen dieser Art die heimliche Bewunderung, Aufregung, Hektik, Fremdbestimmung weitgehend ungerührt zur Kenntnis zu nehmen, unbeeindruckt zu bleiben von Dingen, die trotz ihrer momentan einschneidenden Wirkung sich doch immer wieder im Zeitgeist verloren. Und nicht zuletzt erblickte er darin auch den Wunsch, sich eine entspanntere Haltung leisten zu können. Einen Wunsch, den er als Italiener für sich mittlerweile als beinahe unerfüllbar einstufte. Obwohl er La Serenita mit der Muttermilch aufgesogen hatte.

    An ihm selbst war Alessandro das schon lange aufgefallen, dass Vieles, über das er zu berichten hatte, nicht dazu geeignet war, sachlich und rein an Fakten orientiert betrachtet zu werden, obwohl seine Leser gerade dies von ihm erwarten durften. Es gelang ihm auch immer noch, seine Emotionen weitgehend aus seinen Artikeln herauszuhalten. Er war Profi, certo. Doch der Versuch, ein objektives Bild zu vermitteln, fiel ihm immer schwerer. Aufmerksamen Beobachtern blieb diese innere Zerrissenheit nicht verborgen, denn es hatte sich allmählich ein süffisanter Unterton in seine Lageberichte eingeschlichen, der sensiblen Charakteren einen klaren Weg wies.

    Und nun, nach hautnahen, manchmal gefährlichen Einsätzen in den üblichen und immer wiederkehrenden Brennpunkten dieser Welt, stand er am Adlon in Berlin. Er war nach längerer Zeit wieder hier im Einsatz. Die Entwicklung verlangte nach einem ruhigen, souveränen Reporter, also nach ihm, wie sein Chef ihm kurz und knapp mitteilte, während er Longari die Reiseunterlagen übergab. Es gab keinen besseren Kenner der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der Berlins im Speziellen. Das war jetzt auch schon wieder über 18 Monate her.

    Vor Jahren hatte er schon einmal mehr als zwei Jahre in Berlin verbracht und sein ursprüngliches Bild angeblicher teutonischer Strenge und der scheinbar verbreiteten Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit in Deutschland revidieren müssen. Er hatte es aber auch nur zu gerne revidiert. Er hasste Humorlosigkeit, er hasste übertriebenen Ernst, der sich zur Verbissenheit auswuchs und ganz besonders hasste er Vorurteile. Er war natürlich selbst nie ganz frei davon, aber hatte eine tiefe innere Abneigung gegen alles Vorgefasste, scheinbar Unverrückbare. Longari war immer ein Stück weit verärgert, wenn er sich selbst dabei ertappte, kein möglichst umfassendes eigenes Bild einer Situation, sondern mehr oder weniger reflektiert die allgemeine Meinung verinnerlicht zu haben. Vorurteile??? Die hatten schon zu viel Unheil angerichtet. Also weg damit, zumindest in einem Bereich, den er, Alessandro, selbst beeinflussen konnte. Dieser Bereich war fast nur auf seinen eigenen Kopf beschränkt und selbst das schaffte er manchmal nicht wirklich.

    Und bei seinem ersten Besuch in Berlin? Er war mit Gedanken voller Klischees angereist. Ärgerlich genug. Entsprechend sauer war er auch aus dem Zug gestiegen. Doch es hatte kaum eine Woche gedauert und Longari begann, sich wohlzufühlen. Das war ein gutes Zeichen, brauchte er für gewöhnlich recht lange, um ein Mindestmaß an innerer Ruhe zu finden, wenn er schon wieder reisen musste. Und er musste ja ständig reisen. Doch seine für Umbrien typische Bodenständigkeit hatte – wie so vieles – ihre zwei Seiten. Und eine war, dass Flexibilität nicht eben seine Stärke war. Das lag natürlich auch an seinen mittlerweile 47 Jahren, dass das Einstellen auf neue Situationen noch zäher vonstattenging als früher.

    Also kam er nicht nur mit besagten Gedanken voller Klischees, sondern auch mit einer gehörigen Portion Skepsis in Berlin an, einer Skepsis, die zunächst gar nichts mit dem konkreten Einsatzziel zu tun hatte. Vielmehr hatte er immer wieder Angst davor, zu scheitern, sich nicht feinfühlig genug zu zeigen, seinen Lesern in der Heimat ein möglichst neutrales Bild zu vermitteln. Gerade weil Longari um den harten und kaum zu gewinnenden Kampf gegen Subjektivität wusste, wollte er mit seiner Arbeit kein Wasser auf die Mühlen derjenigen bringen, die diese Subjektivität pflegten und für ihre Ziele nutzten. Er nannte es sein Lampenfieber, das er eben vor jedem neuen Auftrag empfand.

    Doch schlich sich damals in seine sowieso vorhandene latente Unsicherheit eine Komponente ein, die er nur in Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Deutschland im Allgemeinen und Berlin im Speziellen bringen konnte. Denn vorher waren ihm diese Empfindungen fremd. Dazu war er einfach zu lange im Geschäft. Jetzt ging die Geschichte über das übliche Lampenfieber hinaus und er führte es auf die Wurzel allen Übels zurück, nämlich auf Vorurteile. Seine Vorurteile. Er hatte einfach ein ungutes, regelrecht flaues Gefühl, ein Land und seine Hauptstadt besuchen zu müssen, das im Ruf stand, das genaue Gegenteil der italienischen Serenita zur Perfektion entwickelt zu haben. Perfektion schien sowieso das Stichwort. Nichts sollte schief laufen dürfen, nichts sollte Zufall sein, Ergebnisse zählten und diese hatten bitteschön Bewunderung und Ehrfurcht zu erzeugen. So eine Sicht, die Alessandro von zu Hause mitbrachte.

    Umso so angenehmer war dann der Kontrast seiner Klischees zur Realität. Beinahe nichts davon traf zu. Die Lebensfreude, ja die pure Lust am Leben, die ihn sofort erfasste, als er den Bahnhof verließ, war eine der großen Überraschungen, die sein Berufsleben für ihn parat hielt. Die warme Sommersonne von damals half sicherlich, und als er zurückdachte, fiel im als Paradebeispiel die Fußball spielenden Kinder vor dem Reichstag ein. Dazu unzählige Familien, die sich hier zu Picknick und fröhlichem Plausch trafen. Es war eine geradezu ausgelassene Stimmung. Das hätte eine italienische Idee sein können, vor dem Parlament Fußball zu spielen und mit der Familie zu feiern.

    Überhaupt die Vielfalt. Klar hatte er zu arbeiten. Aber er war Italiener. Also konnte er auch einen gewissen Mut zum Liegenlassen entwickeln. Und dann war er mit dem Blick hinter die Kulissen beschäftigt. Nicht hinter die Kulissen der Macht, nein. Das war Beruf. Er wollte Stimmung und Stimmungen aufnehmen, wollte wissen, wieso eine Stadt, ein Landstrich pulsierte oder eben nicht. Und Berlin pulsierte! Von Strenge keine Spur. Also ab ins Nachtleben, rein in Bars mit fetziger Musik, rein in prachtvolle Revuen, die immer wieder der Feder italienischer Bohemiens entsprungen schienen. Dazu die spitzen Zungen Berliner Kabarettisten, denen keiner der Mächtigen entkam. Und für die melancholischen Momente Konzerte in jeder nur vorstellbaren Besetzung mit jedem nur denkbaren Programm. Meist verflog seine Melancholie dann sehr rasch. Typisch für eine Metropole von der Größe Berlins, certo, aber so unerwartet. Gerade hier. Es gab buchstäblich nichts, was es nicht gab und was nicht möglich gewesen wäre und er hatte es genossen.

    Innerlich musste Longari wegen dieser Erfahrung grinsen. Dieser neuerlichen Erfahrung. Er hätte es wissen müssen. Das Schlimmste am Gegenstand einer Betrachtung waren die vorgefertigten Meinungen, die darüber in Umlauf waren. Für ihn eine uralte Binsenweisheit. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, er wäre schon wieder angetreten. Seine augenblickliche Freude darüber überdeckte sogar den immer wiederkehrenden Gedanken, ob seine strikte Aversion gegen jede Form von Subjektivität nicht auch schon so unverrückbar war, dass er mit sich selber hätte hadern müssen. Die von ihm so geliebte italienische Gelassenheit war in diesem Moment eben nicht zu schlagen gewesen.

    La Serenita! Damals hatte er sie sehr intensiv empfinden können, ausgerechnet hier. Doch wo, wann und vor allem warum war ihm diese Gelassenheit abhandengekommen? Wieso befürchtete Longari mittlerweile sogar, er könnte diese Fähigkeit sogar komplett und auf ewig verloren haben? Was war das für ein verfluchter Urknall, der seine Emotionen auf den Kopf stellte, eine nicht abzuschüttelnde, bleierne Schwere auf ihm lasten ließ? Gab es diesen Urknall überhaupt? Oder war es ein mehr oder weniger schleichender Prozess gewesen?

    Denn just in dem Moment der warmen Gedanken an einen vergangenen Aufenthalt an selber Stelle sorgte ein neuerlicher und eiskalter Schauer, der über seinen Rücken lief, dafür, dass er aus seinem Tagtraum erwachte. Wieder einmal wurde ihm nur zu deutlich, dass es eherne Gesetze in Wirklichkeit nur in der Mathematik und den verwandten Wissenschaften gab. Definitiv nicht in seinem Beruf. So sehr er sich das auch manchmal gewünscht hätte.

    Nichts von dem, was er an Berlin so geliebt hatte, war geblieben. Und es gab einen wesentlichen Unterschied zu seinem früheren Aufenthalt. Diesmal wusste er, was ihn erwartete, wusste, dass die Stimmung gekippt war. Er hatte sich darauf einstellen können. Und das war auch seine Rettung, sonst hätte die ihm entgegen schlagende Kälte Alessandro den letzten Optimismus geraubt. Nur so konnte er in der einstmals nördlichsten Stadt Italiens – wie er Berlin mit einem Augenzwinkern genannt hatte – die mittlerweile versteinerten, maskenhaften, grauen Gesichter der Passanten um ihn herum ertragen. Niemand wagte es mehr, durch seinen Gesichtsausdruck irgendeine Emotion nach außen dringen zu lassen, schon gar keine fröhliche. Die Angst, das Misstrauen waren greifbar. Keiner traute dem Anderen über den Weg. Jeder Kontakt konnte der falsche sein. Also am besten keine haben und bestehende, unausweichliche auf ein Minimum beschränken. Das Leben in Berlin war für jeden Einzelnen zum Kokon mutiert.

    Der Platz vor dem Reichstag war befestigt worden. Kein Platz mehr für Fußball spielende Kinder und Familienausflüge. Eine Einfriedung aus massiven Granitpfosten, verbunden mit schweren Ketten, verlieh dem Ensemble eine kasernenartige Ausstrahlung. Das Ergebnis passte, jedenfalls aus Sicht der neuen Machthaber: Die Menschenleere vermittelte nicht nur den Eindruck von Sauberkeit und Ordnung, sondern flößte vor allem Ehrfurcht ein. Das war eines der großen Versprechen beim Regierungsantritt und schon lange davor, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Dazu bediente sich der Apparat sehr gerne Symbolen. Und eines war sicherlich, den Platz vor einem wichtigen Denkmal des deutschen Parlamentarismus gesäubert zu haben. Sinnbild für den

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