Der blaue Kombi: Kurz-Krimi
Von Peter Eggedorfer
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Buchvorschau
Der blaue Kombi - Peter Eggedorfer
P Normal Dr.Pohlmann 2 2013-01-30T10:33:00Z 2013-02-15T13:54:00Z 2013-02-15T13:54:00Z 51 21072 132759 1106 307 153524 11.9999
Holbrexen liegt etwas abseits im Höxterer Land, etwa zwischen Ottbergen und Brakel. Das im Jahr 632 erstmals urkundlich erwähnte Dorf hat heute etwa siebenhundert Einwohner. Das sind ziemlich genau so viele, wie gegen Ende des 16. Jahrhunderts, gegen Mitte des 17. und während des gesamten 18. und 19. Jahrhunderts. Das Dorf verfügt über einen Briefkasten, das Nebenerwerbsgasthaus ‚Dorfkrug’ am historischen Dorfanger und - um ihn herum - jede Menge malerische Fachwerkhäuser. Früher waren dies aktiv bewirtschaftete Bauernhöfe oder Kleingewerbebetriebe gewesen, aber inzwischen gibt es nur noch zwei Landwirte im Ort. Die gewerbliche Infrastruktur reduziert sich auf einen Dorfladen, der neben dem Gasthaus liegt und von der Gastwirtin Anna Dörichen mit betrieben wird. Bei den Einheimischen heißt sie kurz ‚Änne’. Ihr Mann Gerd hatte schon vor Jahren seinen eigenen Arbeitsplatz im Dorfgasthaus wegrationalisiert und arbeitet, wie viele Männer, in Brakel. Sicherlich wäre es für die Bewohner von Holbrexen unter mittelfristiger Betrachtung sinnvoller gewesen, in Brakel ein Haus zu bauen und umzuziehen. Aber das Heimatgefühl in diesem lieblichen Landstrich nahe der Weser ist sehr stark ausgeprägt. Und wer die leicht wellige Landschaft, in der sich Wiesen, Felder und Wälder abwechseln, kennt, versteht das. Ausschlaggebender ist sicherlich, dass die meisten Häuser den Bewohnern vererbt wurden und auf diese Weise kostenlosen Wohnraum bieten.
Im Sommer wird dieses kleine Paradies mitten in Deutschland auch zunehmend von Wanderern entdeckt, meist älteren Paaren oder Gruppen, die sich ‚bei Änne’ einquartieren und tagsüber durch die Gegend streifen. Die Gegend ist – wie schon angedeutet – seniorengerecht, das Klima ausgeglichen und die Küche deftig und ohne jenen neumodischen Firlefanz, der zwar nett auf dem Teller aussieht aber letztlich doch nicht satt macht.
Auch andere Paare genießen die Ruhe des Ortes – allerdings aus etwas anderen Gründen. Der ‘Dorfkrug’ hat sich im Laufe der Jahre den Ruf eines diskreten Hotels erarbeitet, das wenig Wert auf die wirklichen Personalien seiner Gäste legt. Wann immer Paare verschiedenen oder gleichen Geschlechts das Bedürfnis verspüren, mal ganz für sich zu sein, reift nicht selten die Idee zu einem Abstecher in den ‚Dorfkrug’. Hier werden keine Meldezettel ausgefüllt, hier quietschen die Matratzen der Betten nicht und hier hört man auch nichts aus den Nebenzimmern, falls es dort bereits am frühen Nachmittag zu etwas lauteren Betätigungen käme. Ganz wichtig sind auch die Parkmöglichkeiten in einer ehemaligen Scheune, die nur durch die Nebenstraße erreicht werden kann. Wer die Örtlichkeiten kennt, parkt also nicht vor dem Haus, sondern fährt gleich direkt in die Nebenstraße und in die Scheune, und ist auf diese Weise vor neugierigen Blicken sicher. Dieser angenehme Service spricht sich mit der Zeit rum.
Der eigentliche Clou des Gasthauses ist aber der Dorfladen, der sich perfekt auf die Wünsche dieser Übernachtungsgäste eingestellt hat, selbst wenn sie bereits nach wenigen Stunden wieder abreisen wollten. Das kleine Geschäft verfügt über diverse hochwertige Champagner oder Weine, und auch für den kleinen Hunger zwischendurch können Leckereien diskret auf das Zimmer geliefert werden. Natürlich auch jene Utensilien für den Genuss ohne Reue. Sie sind vorrätig in allen denkbaren Farben, Geschmäckern und Größen und werden nicht extra berechnet, sofern sie in haushaltsüblichen Mengen abgerufen werden. Aber über so etwas spricht man nicht in Holbrexen.
Die Zeiten, in denen im ‚Dorfkrug’ der sonntägliche Frühschoppen ein solider Umsatzbringer war, sind schon lange vorbei. Dieses Geschäft brach weg, als die katholische Dorfkirche ihren sonntäglichen Dienst einstellte, weil der letzte Pfarrer in Pension ging. Zunächst wurde die Kirche von der Nachbargemeinde in Henzten mitbetreut, aber jener Pfarrer gab seinen Dienst auf, als die Frau, mit der er sich in regelmäßigen Abständen Zweisamkeit wünschte, Dreisamkeit wünschte. Zur eigenen Überraschung stellte die gläubige Dorfgemeinschaft fest, dass es sich in Holbrexen auch ohne den sonntäglichen Gottesdienst prima leben ließ. Anfangs vermissten besonders die Witwen den wöchentlichen Gang in die Kirche, da man anschließend häufig noch länger zusammenstand und sich über das Leben im Dorf austauschte. Schließlich organisierte die Kirchengemeinde einen wöchentlichen Altennachmittag im ‚Dorfkrug’. Die Damen konnten so wetterunabhängig und bei einer leckeren Tasse Kaffee und einem glutenfreien Stück Kuchen den Sonntagstratsch nachholen. Die Umsätze, die Änne am Mittwochnachmittag erlöste, machten allerdings nicht annähernd die Umsätze wett, die durch den nun fehlenden sonntäglichen Frühschoppen der Bier trinkenden Herren verloren gingen und reichten nicht ansatzweise an das heran, was die Übernachtungsgäste konsumierten.
***
Emmi hatte diese Entwicklungen alle aus nächster Nähe miterlebt. Sie wurde Anfang der fünfziger Jahre hier geboren. Das Höxterer Land war im Krieg von den Alliierten irgendwie vergessen worden. Zwar war Ottbergen ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt gewesen, an dem sich die Strecke aus dem Ruhrgebiet nach Kreiensen und Northeim teilte. Aber dennoch verzichteten die alliierten Luftwaffen darauf, die Dörfer und Städte dieser Gegend zu bombardieren. Und da die Landwirtschaft voll funktionsfähig blieb, hatte man auch in den Hungerjahren immer genug zu essen.
Emmi heiratete Anfang der siebziger Jahre einen Mann, der viele Jahre lang als Dorffriseur tätig war und auch Generationen junger Friseusen sehr einfühlsam ausbildete. Vor zehn Jahren erkrankte er an Lungenkrebs und starb schließlich nach langem Leiden. Das traf sich insofern gut, als das Geschäft in den letzten Jahren merklich nachgelassen hatte. Am Schluss arbeitete ihr Karl ganz allein, und daher eher lustlos, im Salon und konnte nur noch Herrenschnitte anbieten. Die Natur kam also mit ihrer Entscheidung, Emmis Gatten von der Bühne des Lebens abzuräumen, zu einem akzeptablen Augenblick. Emmi erbte das vollständig abbezahlte Haus an der Hauptstraße und überlegte lange, ob sie es verkaufen sollte. Ihre Tochter, die bereits vor der Hochzeit erfolgreich gezeugt worden war, wohnte jetzt in Paderborn und ihr Sohn, der nach einem Jahr Ehe folgte, in Bielefeld. Aber der Gedanke, in eine dieser großen Städte zu ziehen und ihre nicht immer unbeschwerte Vergangenheit hier zurück zu lassen, machte sie doch recht traurig. Sie kam alleine gut zurecht und liebte die Ruhe im Ort und die Gemeinschaft mit den anderen Menschen um sie herum, mit denen sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Schließlich kannte man sich größtenteils seit der Kindheit.
So waren Emmis Tage seit dem Beginn ihrer Witwenschaft ruhig und geregelt: auch die Samstage. Gewöhnlich fuhr sie mit dem Bus nach Brakel, kaufte im Supermarkt ein, trank einen Kaffee in ihrer Lieblings-Bäckerei, traf immer jemanden für eine kurzweilige Unterhaltung und kehrte am Nachmittag mit dem Bus nach Holbrexen zurück. Ihren sechzigsten Geburtstag feierte sie etwas größer im ‘Dorfkrug’. Das nächste Jubiläum würde erst wieder der Siebzigste werden, wenn die Gesundheit weiterhin mitspielte. Das war noch erfreulich lange hin.
An jenem Samstag, im September, war ihr Leben auch nicht anders als sonst. Vormittags war sie in Brakel zum Einkaufen gewesen. Nach einem Mittagsschläfchen ging sie in ihren liebevoll gepflegten, bunten Küchengarten, um das Unkraut bei seiner Vermehrung zu stören, und schnackte mit den Nachbarn über den Zaun hinweg.
Die meisten ihrer Abende begann sie mit der ‚Tagesschau’ und einem Eierlikör. Am liebsten schlief sie bei ‚Wetten dass….’ ein, einer Sendung, die zweifellos für die jungen Leute gemacht war. Irgendwann nach Mitternacht wachte sie dann auf, machte das Fernsehen aus, trank noch einen großzügig bemessenen Schlummerschluck und ging zu Bett.
Das war auch heute so. Das Wetter war ruhig gewesen, und so genoss sie den Sonnenuntergang über