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GRID alive
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eBook289 Seiten4 Stunden

GRID alive

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Über dieses E-Book

Der hochbegabte Johannes, genannt Joker, und seine Clique planen ein kühnes Vorhaben. Im Grid, einem Verbund von Hochleistungsrechnern der Universität, wollen sie heimlich eine künstliche Intelligenz programmieren. Der Anfang klappt wunderbar, doch dann entwickelt sich GRID, das von Joker geschaffene Wesen, in eine Richtung, die niemand vorhersehen konnte.
Gut, dass Joker seine Möchtegern-Freundin Ljusja zur Seite hat. Sie schafft es ihm zu beweisen, dass man hochintelligent, aber zugleich dumm wie ein Stück Seife sein kann.
Buchbesprechung in LITERRA: "Aber auch die emotionalen Angelegenheiten werden äußerst realistisch und nachvollziehbar behandelt, frei von jeglicher Seifenoper-Romantik. Zieglers Stil ist ausgefeilt und materialistisch, die Handlung rasant und packend. An diesem Buch werden nicht nur Jugendliche ihren Spaß haben, auch Erwachsene werden kurzweilig und durchaus anspruchsvoll unterhalten."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Nov. 2014
ISBN9783737515160
GRID alive
Autor

Reinhold Ziegler

Reinhold Ziegler schrieb über zwanzig Jahre Bücher für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Viele seiner Romane und Erzählungen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Bis zu seinem Tode im Jahr 2017 lebte er mit seiner Familie im Raum Aschaffenburg.

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    Buchvorschau

    GRID alive - Reinhold Ziegler

    GRID alive

    „Dieser ganze Liebesscheiß kotzt mich an!, fluchte Anabell. „Ich komm’ mir vor wie zwölf. Ich will das nicht, verdammt!

    Und im nächsten Augenblick begann sie wieder zu weinen.

    „Dann hör auf damit, Anna!, zischte Ljusja böse, „Und benimm dich nicht wie zwölf!

    Sie lehnte sich zurück und steckte sich eine Zigarette an. „Deine Wimperntusche verschmiert. Und ich hasse es, wenn du heulst!", ergänzte sie dann leise.

    „Und ich hasse es, wenn du rauchst – vor allem bei mir im Zimmer!", giftete Anabell zurück und schniefte.

    Aber natürlich hörte weder die eine auf zu weinen, noch die andere auf zu rauchen.

    Ljusja nahm ein paar tiefe Züge, lehnte sich dann auf dem Sofa weit nach hinten und blies den Rauch steil an die Decke.

    „Weißt du, Anna, ganz ehrlich – wenn ich das sehe, freue ich mich manchmal, dass ich fett und hässlich bin. Deine Probleme hab’ ich schon mal nicht!"

    „Du bist nicht fett und hässlich. Fang nicht wieder damit an! Du hast vielleicht zweieinhalb Pickel – die spätestens weg sind, wenn du achtzehn bist. Und vielleicht fünf Kilo zu viel – die aber nicht aus Fett, sondern hauptsächlich aus Muskeln bestehen. Und die längst besser aussähen, wenn du nicht dauernd darüber reden würdest, sondern …"

    „… keine Pommes mit Mayo mehr essen würde. Ich weiß. Sagt Miss-Germany-kann-alles-essen-und-wird-nicht-fett …

    Sagt Miss-World-jeder-Typ-läuft-ihr-nach-und-will-sie …

    Sagt Miss-Universum-schönste-Frau-der-Welt …"

    Anabell sah sie traurig an: „Sagt Miss Liebeskummer. Die nicht mehr weiter weiß!"

    Nun musste sie doch fast selbst ein wenig lachen.

    „Also, dann fassen wir mal zusammen, schlug Ljusja vor. „Er hat dich angebrüllt!?

    Anabell nickte und tupfte sich vorsichtig mit dem Ringfinger eine Träne von der Backe.

    „Und er hat behauptet, du wärst so dumm, wie die Nacht schwarz?"

    Wieder nickte Anabell. „Aber nur in seiner Wut. Er meinte ‚dumm’ bloß in Bezug auf seine Computer, verstehst du. Er hält mich nicht wirklich für dumm … denke ich."

    Ungerührt führte Ljusja ihre Aufzählung fort: „Und er hat tatsächlich gesagt, wenn du mit einem wie ihm zusammen sein willst, müsstest du dir schon ein bisschen Mühe geben?"

    „Ja – aber ich glaube, es sollte nur Spaß sein!"

    „Spaß! Wenn du mich fragst, hat dein himmlischer Robert ’ne fette Meise. Der glaubt wohl, er ist der Allergrößte, was?"

    „Hör auf, Ljusja! Er ist wirklich unheimlich schlau. Und glaubst du, ich schieße ihn ab, nur weil alle ständig auf ihm herumhacken?"

    Ljusja nickte ungerührt. Genau das glaubte sie, oder hoffte es zumindest. Dieser Robert tat Anabell nicht gut, das spürte sie. Er war einundzwanzig, fünf Jahre älter als Anabell. Er hatte sie bei einem Konzert angesprochen, und bei Anabell waren irgendwie alle Sicherungen durchgegangen. Liebe auf den ersten Blick, hatte sie behauptet. Gut aussehender, sportlicher Student, reiche Eltern, eigenes Auto – schwarzer GTI, klar, man gönnt sich ja sonst nichts – immer coole und teure Klamotten, und immer lockeres Geld auf der Hand.

    Anabell stand auf so was. War sofort voll eingestiegen, hatte sich schon ein paar Wochen später die Pille verschreiben lassen.

    Aber Anabell war eben Anabell. Die sah so verdammt gut aus. Blonde lange Haare, groß und schlank, blaue, verträumte Augen. Und auch wenn sie selbst gerne verkündete, dass ihre Haare zu glatt und ihre Augen zu grau waren und sie für ein Mädchen mit ihren einsfünfundsiebzig eigentlich recht groß war – Anabell wusste im Grunde schon, was sie für einen Eindruck auf Männer machte.

    Und dann war doch klar, dass sich einer wie Robert so ein Mädchen neben seinen nachtschwarzen GTI und seine teuren Klamotten und Schuhe stellen musste. So sah es Ljusja. Der brauchte Anna als Zierde. Und die kapierte das nicht. Obwohl ihre Mutter dauernd dagegen hielt, obwohl Ljusja dauernd dagegen hielt, obwohl jede ihrer Freundinnen dagegen hielt – keine konnte den leiden. Und was meinte Anabell dazu: „Ihr seid ja nur neidisch!"

    Daher freute es Ljusja nun fast, dass bei Anabell die Tränen flossen. Sollte sie heulen, vielleicht kapierte sie dann endlich was.

    Dann ging die Tür auf – Anabells Mutter. Anabell wischte hastig ihre Tränen ab, Ljusja versteckte sofort ihre Zigarette hinterm Rücken. Aber natürlich war das zwecklos. „Fräulein Ludmilla Heinrich! Du kennst die Regeln! Bei uns wird nicht geraucht!"

    Ljusja nahm die Zigarette hinter dem Rücken hervor und drückte sie vorsichtig im Aschenbecher aus.

    „Ich wollte ja nur deine Tochter trösten, eigentlich habe ich sie nämlich für Anna angezündet!", log sie dreist.

    Ljusja war nicht der Typ, der sich leicht einschüchtern ließ. Sie war robust in jeder Hinsicht. Ihr Gesicht war breit und rund, ihre kurzen Haare von diesem rötlichen, schmutzigen Blond, das Ljusja selbst nicht Wasser und nicht Blut nannte. Gelegentlich half sie nach und färbte sich den ganzen Schopf rot. Aber eigentlich nur dann, wenn ihre Mutter mal wieder das hübsche Blond von Anabell zu laut bewundert hatte. Sie spielte Handball in der ersten Mannschaft, und entsprechend sahen ihre Schultern und Arme aus. Aber das störte sie nicht. Sie mochte sich, wie sie war, laut und kräftig – Ljusja eben.

    Die Leitersbachers und die Heinrichs kannten sich schon seit ewig, sie hatten lange im gleichen Haus zwei Mietwohnungen bewohnt. Die beiden Mädchen waren jeden Morgen Hand in Hand mit ihren bunten Täschchen um den Hals die paar hundert Meter zum Kindergarten gelaufen – beste, allerbeste Freundinnen. Anabell, ein Jahr älter und somit immer die etwas Größere, war schon als Baby süß wie Zucker. Dagegen war  Ludmilla, die Kräftige, Kleine, und wurde von ihrer russischen Mutter und inzwischen eigentlich von jedem, der sie kannte und mochte, nur Ljusja gerufen. Nur Barbara Leitersbacher, Anabells Mutter, sagte manchmal, wenn sie versuchte streng zu wirken, Ludmilla zu ihr und sorgte damit automatisch dafür, dass Ljusja sie nicht ernst nahm.

    Vor sechs Jahren, Anabell war gerade ins Gymnasium gekommen und ihr kleiner Bruder Christian in den Kindergarten, waren die Leitersbachers aus dem gemeinsamen Mietshaus ausgezogen. Sie hatten sich ein neues Reihenhäuschen gekauft, hier draußen, am anderen Ende der Stadt. Die Mädchen hatten zuerst gedacht, die Welt ginge unter. Aber dann hatten sie festgestellt, dass sie trotzdem fast jeden Nachmittag miteinander verbringen konnten. Sie wurden von den Eltern gefahren, später nahmen sie das Fahrrad oder den Bus, sie blieben beste Freundinnen, und ein Jahr später kam Ljusja ins gleiche Gymnasium und sie konnten sogar in der Pause wieder jeden Tag zusammenhängen. Und so lief die Freundschaft über all die Jahre bestens. Sie lernten zusammen – in der Schule war Anabell viel besser als Ljusja – und spielten zusammen Handball – da wiederum war Ljusja der absolute Crack – und hingen zusammen mit anderen aus der Schule rum. Also alles soweit okay, bis dieser Robert sich die schöne Anabell um den Hals hängen musste. Seitdem hörte Ljusja jedes Mal, wenn sie anrief und etwas ausmachen wollte, nur „Robert, Robert, Robert".

    „Bleibst du heute Nacht bei uns, Ljusja?", fragte die Mutter.

    „Ich glaube, Anna passt es nicht!", antwortete sie. Die Mutter verdrehte die Augen. Sie wusste, was das hieß. Dass Anabell den Abend wieder mit ihrem Robert verbringen wollte. Aber es hatte schon so viele schwierige Gespräche in dieser Sache gegeben – Anabell mit ihrer Mutter, Anabell mit Ljusja, sogar Ljusja mit Anabells Mutter – so dass niemand mehr Lust hatte, den Namen Robert überhaupt nur auszusprechen.

    Kaum war die Mutter zur Tür draußen, fegte wie ein Wirbelwind der blondschöpfige Christian, Anabells kleiner Bruder, herein.

    „Hi, Ljusja!, rief er und fiel ihr wie einer großen Schwester um den Hals. Ljusja drückte ihn ein wenig. „Lässt du mich mal an deiner Fluppe ziehen?, flüsterte er ihr ins Ohr. Ljusja tippte ihm mit dem Finger an die Stirn.

    „Mach die Fliege, Chris!, rief Anabell, „Du nervst!

    „I can see your lips moving – but all I hear is blablabla!", kreischte er fröhlich und hielt sich die Ohren zu. Es war bisher das Einzige, was er auf Englisch sagen konnte, Ljusja hatte es ihm beigebracht. Und er benutzte den Satz, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.

    Anabell stand drohend auf und machte einen Schritt auf ihn zu: „Raus, Chris!, rief sie und versuchte ihn zu packen. Aber er war schneller, schoss aus der Tür und rief, während er die Treppe hinuntersprang: „Und nicht vergessen, Ljusja, wenn ich groß, bin heiraten wir!

    „Nein! Vergesse ich nicht!, rief sie ihm hinterher. „Wenn er zehn Jahre älter wäre, würde ich ihn auffressen!, meinte sie leise zu Anabell.

    „Bis er zehn Jahre älter ist, bist du auch zehn Jahre älter, vergiss das nicht."

    Ljusja stand auf, schloss die Tür und zündete sich den Rest ihrer Zigarette wieder an. Anabell öffnete demonstrativ das Fenster.

    „Vielleicht solltest du einfach ein bisschen Nachhilfe in Sachen Computer nehmen, wenn dich dein Robert immer für so dumm hält!", nahm Ljusja spöttisch das Thema von vorhin wieder auf.

    Anabell bemerkte den Spott nicht: „Ja, warum nicht. Vielleicht müsste mir jemand nur mal dieses Grid erklären, von dem Robert dauert redet. Ich könnte ja mal den Dr. Bit fragen."

    Dr. Stefan Bitterle war am Gymi ihr Mathe- und Informatiklehrer und zugleich der Betreuer des Schulnetzwerks und aller Schulrechner. Eben einer mit Ahnung. Und, nebenbei gesagt, ein durchaus ansehnlicher und netter Dreißigjähriger, und Single, soweit sie wussten, auch wenn die beiden Mädchen eigentlich aus dem Alter raus waren, in dem man für süße Lehrer schwärmt.

    „Oder du fragst Joker!", meinte Ljusja und versuchte es nur so dahinzusagen, aber anscheinend machte gerade das Anabell stutzig.

    „Joker? Du meinst unsern Überflieger Joker – ich denke, du kannst ihn nicht ab?"

    „Hab ich nie gesagt!"

    „Hast du wohl gesagt!"

    „Vor hundert Jahren vielleicht!"

    Anabell nahm Ljusja an den Schultern und drehte sie zu sich. „Ludmilla Heinrich! Gibt es da etwas, was deine beste Freundin wissen sollte?"

    Ljusja schüttelte sie ab.

    „Du bist eben nicht auf dem neuesten Stand, Anna. Wir waren alle letzte Woche auf seiner Geburtstagsparty."

    „Weiß ich doch!"

    „Du musstest ja mit deinem Robert ins Kino. Du kennst doch die Joker-Partys, oder?"

    „Nein – nur vom Erzählen!"

    „Also: Joker-Party, setzte Ljusja zu einer längeren Erklärung an. „Joker wohnt allein in einem Gartenhaus im Garten von seinem Vater und das schon seit Jahren, obwohl er jetzt erst sechzehn geworden ist. Sein Häuschen steht an einem Bach, in dem man surfen kann. Und einem Teich, in dem man baden kann. Unter hohen Bäumen, auf die man klettern kann. Völlig allein mit seinen Computern. Und es gibt keine Party in der ganzen Stadt, wo so die Sau abgeht wie bei ihm. Die ‚Joker-Party’ eben. Du hast was verpasst!

    „Robert wollte nicht hin."

    „Dabei hätten die beiden sich bestimmt gut verstanden. Joker ist auch ein totaler Computerfreak."

    „Das ist doch der Kleine, Kugelige aus deiner Klasse, richtig? Der mit der Nickelbrille, oder?"

    „Ex-Klasse. Wie du dich erinnerst, musste ich sie unehrenhaft verlassen!"

    Ljusja war durchgefallen. Wegen Englisch und Mathe. Sie fand es ungerecht. Warum musste sie Englisch lernen? Wäre es Russisch, hätte sie eine Eins. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie zweisprachig aufwuchs und hatte mit ihr zu Hause nur russisch gesprochen. Also sprach sie fließend russisch und deutsch, und dann kam diese Schule und wollte ihr Englisch beibringen. Na ja, egal. Anabell war sowieso eine Klasse höher und wäre auch nie und nimmer durchgefallen, denn Anabell war eine verdammte Einserschülerin. Wie Joker. Nur war Joker eigentlich kein Einserschüler, sondern ein Genie. Sagten sogar die Lehrer. Letztes Jahr hatte er in Reli eine Zwei, sonst überall nur Einsen. Er ginge eigentlich nur in die Schule, sagte er, weil es ihm den ganzen Tag allein zu Hause zu langweilig sei.

    Das Reihenhaus der Familie Leitersbacher stand im Westen der Stadt, aber Jokers berühmtes Gartenhaus genau auf der anderen Seite im Osten. Es war ein schöner Sommertag, also entschlossen Anna und Ljusja sich zu Fuß quer durch die Stadt zu laufen.

    Aber schneller, als sie gedacht hatten, zogen dunkle Wolken auf, es begann zu donnern. Die letzten paar hundert Meter rannten sie und als sie den großen Garten mit dem hohen Gras, den riesigen Bäumen und den verwahrlosten Büschen durch das kleine Tor an der Rückseite betraten, fielen die ersten Tropfen.

    Deswegen hielten sie sich nicht lange mit Klopfen auf - eine Klingel gab es an dem hölzernen Häuschen nicht – sondern rissen die Tür auf und stürzten direkt in Jokers Wohn-, Arbeits-, Schlaf- und Esszimmer.

    Er saß an seinem Schreibtisch, vor einem riesigen Bildschirm, und drehte sich erschrocken mit seinem Bürostuhl um.

    War Joker dick? Nein, das täuschte! Er war kompakt, kräftig, klein, sogar noch etwas kleiner als Ljusja. Seine halblangen, braunen Haare standen wirr um sein hübsches, verschmitztes Gesicht mit der runden Nickelbrille, hinter der wache und lebendige Augen verrieten, dass er keineswegs das harmlose, gemütliche Bärchen war, dass man vielleicht auf den ersten Blick meinte ausgemacht zu haben.

    „Hey! Ein Überfall!, rief er. Dann erkannte er Ljusja. „Irgendjemand hinter euch her?, fragte er.

    „Ein bitterböses Gewitter!, meinte Ljusja. „Das ist übrigens Anabell!

    „Kenn ich!, sagte er. „10 C, Anabell Leitersbacher!

    Ljusja nickte. War ja klar. Joker hatte ein Gedächtnis wie eine Festplatte. Wahrscheinlich kannte er die gesamten Schülerlisten aller Klassen vom Gymnasium auswendig, mitsamt Adressen und Geburtstagen.

    „Und? Irgendetwas Dringendes?", fragte er, hatte sich aber schon wieder zurück zu seinem Bildschirm gedreht, auf dem erstaunlich nüchterne Zahlenkolonnen zu sehen waren.

    So hatten die beiden die Gelegenheit, Jokers Reich im Detail zu besichtigen. Die ganze Hütte schien nur aus einem Raum zu bestehen, der etwa so groß war wie eine Doppelgarage. Aber Ljusja wusste von der Party, dass dort hinten die niedrige Tür zu einer kleinen Küche und einem noch winzigeren Bad führte. Im großen Raum gab es diesen Schreibtisch, an dem Joker auf einem lederbezogenen Chefsessel hockte, dazu ein erstaunlich großes Bett, auf dem etliche Klamotten kreuz und quer lagen, einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, ein abgewetztes, altmodisches rotes Sofa mit hölzernen, geschnitzten Armlehnen und – etwas überraschend – ein chromblitzendes Fitness-Workout-Center.

    Erst jetzt bemerkten sie, dass dort noch ein weiterer Junge saß, der, offensichtlich erschrocken durch den plötzlichen Überfall der Mädchen, seine Übungen unterbrochen hatte.

    Er hob die Hand und sagte schüchtern grinsend: „Hi!" Die beiden nickten. Ljusja kannte den Typ. Sie hatte ihn zumindest auf der Joker-Party schon mal gesehen, da war sie sich sicher, obwohl sie nicht mit ihm gesprochen hatte.

    „Das ist Nils!", sagte Joker locker über die Schulter, als er hätte er Ljusjas Gedanken erraten.

    „Ich bin die Ljusja!", stellte sie sich vor.

    Dieser Nils war so einer, den man gern mal übersieht. Nicht unattraktiv, das ganz bestimmt nicht, aber schon auf den ersten Blick sichtbar schüchtern, ein bisschen verpickelt, braune, halblange Haare und der erste, zaghafte Versuch eines Kinnbärtchens. So einer, bei dem du beim zweiten Blick erkennst, dass er vermutlich doch mehr drauf hat, als du beim ersten Blick gesehen hast.

    Er starrte Anabell an. Ljusja erkannte sofort, dass es um ihn geschehen war und dass er verzweifelt nach irgendetwas Schlauem suchte, um mit ihrer schönen Freundin ins Gespräch zu kommen.

    „Habt ihr ja gerade noch mal Glück gehabt!, nahm er schließlich vorsichtig das unverbindliche Thema „Gewitter wieder auf und zeigte nach oben. Von der Decke des Raumes hörte man jetzt deutlich das Fallen großer Regentropfen.

    Noch immer starrte er auf Anabell, als hätte ihn ein Blitz ins Herz getroffen.

    Wenn du wüsstest, dachte Ljusja, dass es da einen gibt, der eineinhalb Kopf größer ist als du und mindestens fünf Jahre älter, könntest du dir dein Anstarren geradewegs sparen. Es war immer dasselbe: Sobald Anabell irgendwo auftauchte, wurden die Jungs nervös und fingen an zu starren, und sobald jemand Anabell anstarrte, erwachte in Ljusja ein kleiner gehässiger Teufel, der sich immer dann diebisch freute, wenn sie wusste, dass daraus nie und nimmer etwas werden würde.

    Erstaunlicherweise antwortete Anabell dem schüchternen Jungen. Aber vielleicht war es auch als Info an Joker gedacht, als sie sagte: „Wir sind eigentlich hergekommen, weil Ljusja meinte, Joker könnte mir was über Computer erklären!"

    „Aha!, rief Joker spöttisch und drehte sich auf seinem Stuhl in erstaunlicher Geschwindigkeit wieder um. „Festplatte tot? Virus gefangen? Windows-Konfiguration vernichtet? Totalabsturz? Da muss man dann den Joker ziehen, was?

    „Nichts von alledem!", erklärte Anabell selbstbewusst, und Ljusja stellte wieder mal fest, wie komplett Arroganz und Spott an ihr abprallten. Es war das Vorrecht schöner Frauen, davon war Ljusja überzeugt, Gegenwind einfach nicht wahrnehmen zu müssen.

    „Ich suche nach jemandem, der mir erklären kann, was Grid ist! Als das Wort „Grid fiel, sahen sich die beiden Jungen erstaunt an.

    „Merkwürdiger Zufall!, meinte Joker, jetzt offensichtlich doch interessiert. „Gerade bevor ihr hier reingestürzt seid, habe ich mich mit Nils über das Grid unterhalten.

    „‚Das’ Grid?"

    „‚Der’ Grid, ‚die’ Grid, ‚das’ Grid. Ich behaupte mal ‚das’ Grid, weil es auch das ‚das Gitter’ heißt, und genau das bedeutet es ja."

    „Von mir aus – und was ist das nun?"

    Ljusja fand das langweilig. Sie hatte nicht mehr Interesse an Computern, als unbedingt sein musste. Viel interessanter fand sie dieses Workout-Center, an dem Nils jetzt wieder vorsichtig begonnen hatte, irgendwelche Armübungen zu machen.

    „Grid ist ein loser Rechnercluster mit inhomogenen Einzelrechnern, die über gemeinsame Bibliotheken zusammenarbeiten." Joker sagte diesen Satz nicht, er stellte ihn in den Raum wie auf Steintafeln gemeißelt, grinste, tat so, als wäre damit die Sache ausführlich und verständlich genug erklärt und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.

    Arschloch, dachte Anabell, auch wenn sie eigentlich nicht zu der Art Mensch gehörte, die so etwas über andere dachte. Aber Joker hatte sie wütend gemacht. Wenn es zu viel wurde, konnte auch sie Ironie und Spott erkennen. Vor allem aber machte es sie sauer, wenn irgendwelche Typen sie einfach ignorierten. Das konnte sie überhaupt nicht leiden.

    Sie tat einen Schritt auf Jokers Chefsessel zu, drehte ihn mitsamt Joker wieder zu sich und sagte böse: „Und du findest, das könnte ich jetzt kapieren, was?"

    Er zuckte ungerührt die Schultern. „Ich kann nicht gut erklären und ich habe zu tun! Vielleicht kann dir der liebe Nils das ein bisschen näher bringen, der weiß da auch was drüber!"!

    Nils sprang sofort von der Folterbank. Er strahlte: „Wir können uns draußen unter das Vordach setzen, dem Regen zuschauen und dann erkläre ich dir, was du wissen willst."

    Die beiden Mädchen sahen sich an, Anabell zuckte etwas ratlos mit den Schultern, aber Ljusja grinste und nickte leicht. Das war eine komische, kleine Geste von Anna, ein paar Zehntelsekunden nur, denn obwohl sie die Ältere der beiden war, bat sie oft Ljusja auf diese Weise um Rat oder Bestätigung.

    Ljusja nahm sofort dort Platz, wo Nils aufgesprungen war, nahm die Griffe in die Hände und drückte die Arme vor der Brust zusammen.

    „Ich wollte dem armen Nils mal ’ne Chance geben, meinte Joker, ohne aufzusehen, „sonst jammert er nachher wieder! Dem sind ja fast die Augen rausgefallen!

    „’ne Chance, ja?", fragte Ljusja, aber Joker ging nicht weiter darauf ein.

    Ljusja klatschte die Griffe vorne zusammen, dass die Gewichte an den Stahlseilen hinter ihr nur so auf und ab flogen.

    Joker grinste. „Lass das nicht Nils sehen, sonst bekommt er noch mehr Komplexe!" Er lachte sie an. Dieser Joker war normalerweise gar nicht so arrogant wie eben beim Auftritt mit Anabell. Der konnte richtig Witze machen. Sie erinnerte sich jetzt, dass er auch früher in der Klasse – es war jetzt schon zwei Jahre her, dass sie nicht mehr in die gleiche Klasse gingen – ab und an üble Witze gerissen hatte. Damals fand sie seine Sprüche meistens ätzend. Aber man konnte ja seine Meinung auch mal ändern, oder? Vor allem konnte er sich alles leisten, schon früher. Kein Lehrer wagte doch, es sich mit seinem Klassengenie zu verderben. Aber meistens war er still gewesen. Ein bisschen pummelig, schweigsam, bis auf gelegentliche Pfeile, die er abschoss, und traurig, so hatte sie ihn in Erinnerung. Sie versuchte dieses Bild mit dem Joker zusammenzubringen, der jetzt vor ihr saß, und auf Kosten seines Freundes Nils rumwitzelte. Der wahrscheinlich noch immer der genialste Schüler war, den ihr Gymi je erlebt hatte, aber jetzt dazu noch ziemlich gut aussah. Anscheinend hatte er sein Fitnesscenter nutzbringend dazu verwendet, an den richtigen Stellen aus seinem Babyspeck Muskeln zu machen. Und die Trauer in seinem Gesicht war auch verschwunden.

    Er sah ihr eine Weile beim Trainieren zu.

    „Die Übung gibt dicke Möpse!", meinte er schließlich und grinste sie an.

    „Du glaubst nicht ernsthaft, dass Möpse aus Muskeln bestehen, oder?"

    „Meine schon!", antwortete er ungerührt.

    Etwas passierte mit ihr. Etwas kribbelte im Bauch. Vielleicht von den Übungen, machte sie sich vor, aber sie hatte schon vor einer Woche auf der Party ein paar Mal mit ihm gesprochen, und da hatte es auch ohne Krafttraining gekribbelt. Wenn sie ehrlich war, hatte sie die ganze letzte Woche eigentlich nur auf eine Gelegenheit gewartet, um ihn endlich wiederzusehen, da war Anna mit ihrem Grid gerade recht gekommen.

    „Sie hat ’nen Freund!", fing sie nun an, obwohl das doch diesen Joker eigentlich überhaupt nichts anging.

    „Dumm gelaufen für Nils!", sagte er.

    „Ne, mein ich nicht. Sie hat ’nen Freund, der an der Uni mit Rechnern zu tun hat. Der hat ihr das mit dem Grid auch nicht erklären können und hält sie deswegen für dumm. Darum sind wir zu dir gekommen. Aber du hältst sie anscheinend ja auch für doof!"

    „Ich halte generell alle schönen Menschen für doof!"

    Generell! Wieder so ein Satz für die Steintafeln: „Joker hält alle schönen Menschen für doof!"

    „Mich auch?", fragte Ljusja. Joker sah sie erstaunt an. Er dachte nach.

    „Das war ’ne Fangfrage, und ’ne verdammt gute dazu!, sagte er schließlich. „Egal, was ich sag’, ich komm’ da nicht mehr raus, was?

    „So ist es! Du kommst da nicht mehr raus. Nie mehr, nie!"

    Mit Ljusja war in der letzten Minute eine seltsame Änderung vor sich gegangen. Sie spürte,

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