Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Im Bann des Augenblicks
Im Bann des Augenblicks
Im Bann des Augenblicks
eBook696 Seiten8 Stunden

Im Bann des Augenblicks

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In einer verlassenen Lagerhalle wacht Nina Lange aus ihrer Betäubung auf. Sie ist nackt, ihre Kleider liegen verstreut umher. Sie ist aber nicht vergewaltigt worden, was sie zunächst befürchtet. Vielmehr wurde sie Opfer eines Kidnappings, ihre Kidnapper waren auf etwas anderes aus.
Es kommt zu Gewaltverbrechen in Ninas nächstem Umfeld.
Auf eigene Faust und unterstützt von ihrem Freund macht sich Nina daran, ihre Peiniger ans Messer zu liefern.

Sie und ihr Freund geraten in große Gefahr, als die Spur nach Lanzarote führt und sie den Weg dorthin nicht scheuen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland aber hängt beider Leben am seidenen Faden.

Der Titel "Im Bann des Augenblicks" offenbart seine Doppeldeutigkeit erst mit den letzten Romanzeilen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum7. Jan. 2012
ISBN9783844216165
Im Bann des Augenblicks

Ähnlich wie Im Bann des Augenblicks

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Im Bann des Augenblicks

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Im Bann des Augenblicks - Uwe Bekemann

    Impressum

    Im Bann des Augenblicks

    Uwe Bekemann

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    Copyright: © 2012 Uwe Bekemann

    ISBN 978-3-8442-1616-5

    Inhalt

    1 – Böses Erwachen

    2 – Mutter in Angst

    3 – Warten

    4 – Geheimnisvolles Telefonat

    5 – Im Bann des Augenblicks I

    6 –Mut und Entschlossenheit gegen Scham und Angst

    7 – Ben

    8 – Alex

    9 – Ein offenes Verlangen

    10 – Nacht und Morgen danach

    11 – Mutter unter Druck

    12 – Ein trennendes Geheimnis

    13 – Alex II

    14 – Ringen um Widerstandskraft

    15 – Alex III

    16 – Ringen um neue Normalität

    17 – Mutters Warten

    18 – Geschäft im Dunkeln

    19 – Alex IV

    20 – Sorgen unter südlicher Sonne

    21 – Schlechte Nachricht in dunklen Geschäften

    22 – Im Stahlbad der Gefühle

    23 – Vermisst

    24 – Eine Sache für die Polizei

    25 – In der Bauverwaltung der Stadt

    26 – Geschäft im Dunkeln II

    27 – Brauer und Thiel in der Bauverwaltung

    28 – Ein Abstecher in die Klinik

    29 – Hinweise aus der Bauverwaltung

    30 – Bauunternehmen im Zwielicht

    31 – Was geschah in der Bauverwaltung?

    32 – Spurenbeseitigung

    33 – Frau Hemmersbach muss reden!

    34 – Besuch in der Klinik

    35 – Alex V

    36 – Eine Zwischenbilanz

    37 – Nach dem Besuch beim Staatsanwalt

    38 – Neuer Mordfall, noch mehr Fragen

    39 – Ben ist zurück!

    40 – Fotos, Fragen, Fantasie

    41 – Intime Öffentlichkeit, öffentliche Intimität

    42 – Mit Ben zurück ins Leben

    43 – Eine Liste wirft Fragen auf

    44 – Ein Zeuge soll aussagen

    45 – Ben sieht neue Zusammenhänge

    46 – Ninas Plan

    47 – Was weiß Hauboldt?

    48 – Erstaunliche Entdeckung, flüchtige Begegnung

    49 – Pressekonferenz

    50 – Mordauftrag am Horizont

    51 – Nina im Visier

    52 – Gefährliche Entdeckung, gefährliche Begegnung

    53 – Benjamin steigt ein

    54 – Plausible Spekulationen

    55 – Brauer sieht eine Spur

    56 – Eine Spur in den Süden

    57 – Brauer und Thiel mit kleinen Schritten

    58 – Verdächtiges Interesse

    59 – Abschied

    60 – Ninas kompromissloser Wille

    61 – Besuch des Vaters

    62 – Beängstigende Entdeckung

    63 – Den Stier bei den Hörnern gepackt

    64 – Unheilvolle Beschattung

    65 – Flug in den Süden

    66 – Hoteldirektor Rodenbach

    67 – Polizei unter Druck

    68 – Nina riskiert alles

    69 – Ein ungebetener Gast

    70 – Die Polizei sucht neue Ansätze

    71 – In der Spur von Nina und Ben

    72 – Ein Buch von Bedeutung

    73 – Eine eindeutige Warnung

    74 – Todesurteil

    75 – Neuer Schwung aus der Stadtverwaltung

    76 – Der relative Wert der Figuren

    77 – Brauer und Thiel auf der Zielgeraden

    78 – Empfang am Flughafen

    79 – Plötzliche Helfer

    80 – Verdeckte Gefahren, verdeckte Ermittler

    81 – In der Falle

    82 – Spurenbeseitigung

    83 – Weg zur Hinrichtung

    84 – Menschenjagd

    85 – Brauer bleibt dran

    86 – Vor der Entscheidung

    87 – Nina in Angst

    88 – Todesschuss

    89 – Nina in Not

    90 – Im Bann des Augenblicks II

    1- Böses Erwachen

    Regungslos lag sie da, kam aber langsam wieder zu sich. Sie blinzelte, alles erschien ihr unklar und schemenhaft. Es war nicht sonderlich hell, eher etwas dämmrig. Sie hob den Kopf ein wenig. Er schmerzte. Sie hielt deshalb inne und schloss für einen Moment die Augen, um ihren Kopf dann wieder zurücksinken zu lassen und zu versuchen, wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Auch ihr Rücken schmerzte. Ihr war lausig kalt. Was war passiert? Sie verweilte einige Momente, hob dann erneut den Kopf und richtete sogar den Oberkörper ein wenig auf. Immer noch benommen stützte sie sich mit den Armen nach hinten ab und sah in die Runde. War sie in einer Lagerhalle, in einer leeren Lagerhalle? Warum lag sie auf dem Boden? Wie war sie hierher gekommen? Sie zog die Beine an den Körper. Die Kälte hatte ihre Gelenke ganz steif werden lassen. War es einfach nur die Kälte gewesen? Etwas war anders. Sie sah ihren Körper hinab. Er war unbekleidet.

    „Oh Gott, ich bin nackt!, schoss es ihr durch den Kopf. „Vergewaltigt!

    Panik breitete sich schrill in ihrem Denken aus und hämmerte ihr ein, dass sie von hier verschwinden musste, ganz schnell von hier verschwinden musste.

    Sie sprang auf, fiel aber sofort wieder zurück auf den Boden. Ihr noch labiler Kreislauf ließ derart abrupte Bewegungen nicht zu. Sie hockte sich hin, um sich dann erneut, diesmal jedoch behutsam, zu erheben. Planlos rannte sie los, dem Licht entgegen. Irgendwo dort, wo Helligkeit durch eine ganze Reihe von Oberlichten einfiel, musste auch eine Tür zu finden sein. Sie war panisch, hatte unüberwindliche Angst. Was war denn bloß geschehen? Was alles hatte sich abgespielt? Unvermittelt blieb sie stehen.

    „Ich bin doch nackt!, schoss es ihr erneut durch den Kopf. Ich muss mich doch erst wieder anziehen!

    Was war das gerade für ein Geräusch gewesen? War der Täter etwa noch da? Wieso eigentlich der Täter? Vielleicht waren es mehrere Täter gewesen. Nein, sie hatte nichts gehört, niemand außer ihr war hier.

    „Nicht durchdrehen, Nina Lange!", beschwor sie sich.

    Sie lief zurück, zurück zu jener Stelle, wo sie soeben auf dem Boden liegend zu sich gekommen war. Woher kam das Blut, jener kleine Fleck auf dem Beton? Die Rückenschmerzen wurden ihr wieder bewusst. Mit verdrehtem Oberkörper versuchte sie mit der rechten Hand zu ertasten, was diese Rückenschmerzen auslösen könnte. Sie fand die Körperstelle, von der die Schmerzen ausgingen, verzog unvermittelt ihr Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Sie schaute auf ihre Hand und sah das Blut, das krümelige, trockene Blut. Eine Verletzung, aber wohl nur oberflächlich. Nicht weit entfernt lagen ihre Kleider ungeordnet und zerstreut auf dem Boden. Jemand musste sie hastig ausgezogen und ihre Kleidungsstücke achtlos zur Seite geworfen haben. Es schien aber nichts zu fehlen. Eilig zog sie sich an, trat notdürftig in ihre Schuhe und lief wieder los, während sie versuchte, ihre Füße ganz hinein schlüpfen zu lassen. Sie fand eine Tür, die nach draußen zu führen schien.

    „Lass sie bitte unverschlossen sein!", betete sie in Gedanken.

    Sie drückte den Griff nach unten und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, so als ob diese mit Sicherheit klemmen würde, nicht ohne Gewalt zu öffnen sein würde. Sie war unverschlossen und fuhr schwungvoll und von einem schrillen Quietschen begleitet so weit auf, dass sie krachend an einen Stopper schlug. Nina verlor den Halt und fiel erneut zu Boden, rappelte sich aber sogleich wieder auf, sprang nach draußen und lief, lief einfach fort von der Halle.

    „Frei, ganz schnell weg von hier!", war ihr einziger Gedanke.

    Erst als sie einen vor der Halle liegenden, offensichtlich nicht mehr genutzten und deshalb verwahrlosten Parkplatz hinter sich gelassen und eine weitere Fabrikhalle passiert hatte, erreichte sie eine belebte Straße und hielt inne. Es musste bereits Spätnachmittag oder schon früher Abend sein, denn der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt.

    „Wo bin ich denn überhaupt?, flüsterte sie, um sich die Frage nach einem schnellen Blick in die Runde sogleich selbst zu beantworten. „Ach ja, Berliner Straße, Ecke Industriestraße. Erst mal nach Hause!

    2 – Mutter in Angst

    „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie! Ich melde mich!"

    Diese Nachricht hatte Erika Lange vorgefunden, als sie wie üblich, gleich nach ihrer Rückkehr vom Dienst, den Anrufbeantworter abgehört hatte. Die männliche Stimme hatte seltsam gedämpft geklungen, so als ob der Anrufer durch ein vor den Mund gehaltenes Tuch gesprochen hatte.

    „Ihre Tochter braucht Sie!", hatte der Mann gesagt. Wieso, was war mit Nina? Wollte jemand sie beunruhigen, ein Schockanrufer vielleicht? Dann hatte er sein Ziel erreicht, sie war beunruhigt!

    Sie hatte die Nachricht mehrmals abgespielt, um sicher zu gehen, sich nicht verhört zu haben, um die Gewissheit zu erlangen, dass sie alles richtig verstanden hatte.

    „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie!"

    Kein Zweifel! Sie hatte alles richtig verstanden gehabt und zur Uhr gesehen; es war gegen 16.30 Uhr gewesen.

    Wie lange lagen diese schrecklichen Minuten zurück? Sie sah auf ihre Armbanduhr. Mehr als eine Stunde war seitdem vergangen, deutlich mehr. Die Herfahrt durch den dichten Straßenverkehr hatte einige Zeit in Anspruch genommen.

    Sie ging in Ninas Wohnung auf und ab und wartete, wartete sehnsüchtig auf das Erscheinen ihrer Tochter. Warum hatte der Fremde sie mit seinem zweiten Anruf hierher dirigiert?

    Hektisch hatte sie nach dem Abhören des Anrufbeantworters das Mobilteil ihres Telefons zur Hand genommen und die Rufnummer ihrer Tochter gewählt. Sechs-, sieben oder achtmal musste es bei Nina geläutet haben, dann hatte sie aufgelegt, jedoch sogleich wieder neu gewählt. Sie hatte sich gezwungen, die Zifferntasten sorgfältig und mit Bedacht zu drücken, um ein Verwählen auszuschließen.

    „Geh bitte ran, Nina!", hatte sie gefleht, vor Angst und Aufregung zitternd. Ihr Hoffen war vergebens gewesen. Nina hatte sich nicht gemeldet. Ihren Anrufbeantworter musste sie ausgeschaltet haben, denn er war nicht angesprungen.

    Sie hatte im Kindergarten angerufen, in dem Nina als Erzieherin arbeitete und dessen Telefonnummer ihr geläufig war. Unter normalen Umständen hätte sie Nina um diese Tageszeit nicht mehr erreichen können. Sie hatte es gewusst, aber auf ihr Glück gehofft, dass es heute anders sein würde. Auch dieses Hoffen aber hatte sich nicht erfüllt. Der dortige Anrufbeantworter hatte sie auf den Folgetag vertröstet.

    Mit dem Mobilteil in der Hand war sie in den Flur geeilt, wo sie ihre Handtasche auf der Garderobe liegen gewusst hatte. Hastig hatte sie diese geöffnet, den Inhalt auf das Garderobenschränkchen geschüttet und ihr Notizbuch aus dem kleinen Häuflein hervor gezogen, in welchem sie auch Ninas Handynummer notiert hatte. An Ort und Stelle hatte sie diese gewählt, jedoch ohne Erfolg.

    „Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Sie haben jedoch die Möglichkeit, nach dem folgenden Signalton eine Nachricht zu hinterlassen", hatte sich die weibliche Stimme der automatischen Anrufbeantwortung des Mobilnetzbetreibers gemeldet.

    „Verdammt!", hatte sie geflucht und die Verbindung unterbrochen, um jedoch sogleich erneut zu wählen und diesmal auf das Angebot der Sprecherin einzugehen.

    „Hallo Nina, ich bin´s, Mutter. Ruf mich bitte an! Bitte! Schnell! Ich warte sehr! Bis gleich!"

    „Ich muss hinfahren!, war es ihr durch den Kopf geschossen. „Hinfahren und nachsehen!

    Beinahe im selben Atemzug hatte sie sich ihre Jacke von der Garderobe gegriffen. Der Bügel, auf dem diese gehangen hatte, war zu Boden gefallen. Sie hatte ihn liegen gelassen und war, sich im Gehen die Jacke überwerfend, der Wohnungstür entgegen gehastet.

    „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann!", hatte der Anrufer gemahnt. Wenn sie nun das Haus verlassen hätte, um zur Wohnung der Tochter zu fahren, wäre sie keinesfalls um 17 Uhr zurück gewesen.

    „Aber was wird, wenn ich Nina nicht zu Hause antreffe? Was wird, wenn sich der Anrufer tatsächlich um 17 Uhr wieder meldet, mich aber nicht erreicht?", hatte sie sich gefragt. Sie hatte nicht gehen dürfen.

    Die Polizei! Hätte sie die Polizei einschalten sollen? Aber was wäre ihr zu melden gewesen, was war vorgefallen? Ein Mann hatte auf ihren Anrufbeantworter gesprochen und sie gebeten, sie um eine bestimmte Uhrzeit telefonisch sprechen zu können, weil ihre Tochter sie brauche. Was hieß das schon! Vielleicht brauchte Nina sie tatsächlich und der Anrufer war ein freundlicher Helfer, der aus irgendeinem Grund seinen Namen nicht genannt hatte. Vielleicht hatte er beste Absichten. Aber warum hatte er seinen Namen nicht gesagt?

    Sie hatte ihre erwachsene Tochter trotz mehrerer Versuche nicht telefonisch erreichen können. Auch dies hätte die Polizei gewiss nicht als ungewöhnlich eingestuft.

    Sie hatte in der Wohnung bleiben müssen, warten müssen, warten bis 17 Uhr. Es war etwas nicht in Ordnung. Sie hatte es gewusst. Aber sie hatte warten müssen, mindestens noch eine quälend lange halbe Stunde.

    „Bei Ben, vielleicht ist sie schon bei Ben", war ihr eine neue Idee gekommen. Warum hatte sie nicht sofort an diese nahe liegende Alternative gedacht?

    Auch Bens´ Telefonnummer stand in ihrem Notizbuch, da sie Nina schon mehrfach bei ihm angerufen hatte. Zitternd hatte sie die Nummerntasten gedrückt und die letzten Zahlen jeweils leise vor sich hin geflüstert.

    „Sieben, fünf, drei, bitte geh ran!"

    Ben hatte sich nicht gemeldet. Es war gar nichts passiert, Ben hatte keinen Anrufbeantworter. Nach oftmaligem Erklingen des Rufzeichens hatte sie den Verbindungsversuch enttäuscht abgebrochen. Hatte Nina nicht sogar erwähnt, dass Ben für ein paar Tage abwesend sein würde? Sie hatte sich zu erinnern geglaubt.

    Sie hatte ihre Jacke wieder abgestreift, diese achtlos über einen Garderobenhaken geworfen und war zurück ins Wohnzimmer geeilt. Sie hatte erneut die Festnetznummer ihrer Tochter gewählt, das Rufzeichen so oft abgewartet, bis es systembedingt vom Besetzzeichen abgelöst worden war. Dann erst hatte sie die Verbindung unterbrochen, sogleich aber die Wahlwiederholungstaste gedrückt und wieder in den Hörer gehorcht. Diesen Vorgang hatte sie wiederholt, mindestens ein halbes Dutzend Mal wiederholt. Doch sie hatte ihre Tochter nicht erreichen können.

    Irgendwann aber, kurz vor 17 Uhr, hatte sie ihre Versuche eingestellt, um die Leitung für den Unbekannten frei zu machen. Sie hatte auf dem Sofa Platz genommen, sich zur Ruhe gezwungen und das Mobilteil direkt vor sich auf den Tisch gelegt, um beim erwarteten und inzwischen sehnlichst erhofften Läuten schnell zugreifen zu können.

    Es war ihr so vorgekommen, als wäre die Zeit nur zäh und schwerfällig vorangegangen, so wie Honig vom umgedrehten Teelöffel tropft.

    Schließlich hatte die Wanduhr 17 Uhr angezeigt. Ein Fehlgehen war ausgeschlossen gewesen, da sie funkgesteuert wurde. Das Telefon war jedoch stumm geblieben. Weitere Minuten waren verronnen, ohne dass etwas passiert war.

    „Welches Spiel treibt der Kerl mit mir, warum ruft er nicht an?", hatte sie sich gefragt. Hatte er sie in Panik treiben wollen, sie mit ihrer wachsenden Angst um die Tochter quälen wollen?

    Endlich, nach weiteren fünf Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte sich das Telefon erbarmt und sein Rufzeichen ertönen lassen. Reaktionsschnell hatte sie zugegriffen, dabei nur kurz auf das Display gesehen, welches jedoch nur den eingehenden Anruf ohne die Rufnummer des Anrufers angezeigt hatte, die Hörertaste betätigt und sich das Mobilteil verkrampft mit beiden Händen an das rechte Ohr gehalten.

    „Ja bitte, Lange?", hatte sie sich fragend gemeldet. Es war ihr bewusst geworden, dass ihre Stimme Angst und Unsicherheit ausstrahlte, sie nicht wie gewohnt schon durch deren festen Klang Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen vermitteln würde.

    „Frau Lange?"

    Es war die Stimme vom Anrufbeantworter gewesen! Sie hatte wiederum irgendwie gedämpft geklungen. Aber da war noch etwas gewesen, was ihr an der fremden verstellten Stimme aufgefallen war! Jetzt wurde es ihr bewusst, als sie in ihren frischen Erinnerungen wühlte. Was war es gewesen? Sie sann kurz nach, kam jedoch nicht darauf. Es war jetzt nicht wichtig!

    „Ja, ich bin am Apparat", hatte sie sich mit der Antwort beeilt.

    „Was ist mit meiner Tochter, wo ist sie, wer sind sie und was wollen Sie?", waren alle ihre brennenden Fragen aus ihr hervor gesprudelt.

    „Nun mal langsam, liebe Frau Lange, hatte ihr der Anrufer Einhalt geboten. „Alles schön der Reihe nach! Wer ich bin ist zunächst unerheblich, ganz ohne Belang, was ich will, erfahren sie schon noch früh genug. Ihre Tochter habe ich zuletzt heute Nachmittag gesehen, und da ging es ihr, na ja, sagen wir mal, den Umständen entsprechend gut, und wo sie jetzt genau ist, kann ich nicht sagen, aber wo sie mutmaßlich bald sein wird, erfahren sie gleich.

    Erika Lange hatte die kurze Pause, die der Anrufer folgen lassen hatte, genutzt.

    „Nun sagen Sie mir doch bitte, wo meine Tochter ist, sagen Sie mir doch bitte, wo ich sie finden kann!", hatte sie gefleht.

    Der Anrufer war nicht darauf eingegangen.

    „Lassen Sie zunächst auf jeden Fall die Polizei aus dem Spiel, wenn Sie Ihrer Tochter nicht böse schaden wollen!, hatte er gefordert. „Sie haben doch sicherlich einen Schlüssel für die Wohnung Ihrer Tochter, oder?

    Sie hatte natürlich einen Schlüssel und hatte dies bestätigt. „Ja, den habe ich, aber warum wollen Sie das wissen?"

    Erneut hatte der Anrufer ihre Frage überhört.

    „Fahren Sie jetzt bitte zur Wohnung Ihrer Tochter und warten Sie dort! Ich gehe davon aus, dass auch Ihre Tochter bald dort eintreffen wird. Warten Sie zusammen mit Ihrer Tochter in deren Wohnung! Ich rufe Sie dort an. Ich melde mich im Laufe des Abends wieder. Und vergessen Sie nicht: Keine Polizei!"

    Er hatte die Verbindung kurzum unterbrochen, ohne ihr noch eine Gelegenheit zu geben, sich noch einmal zu äußern.

    Sie hatte ein paar Sekunden gezögert, um ihre Gedanken zu ordnen, und dann noch einmal die Rufnummer ihrer Tochter gewählt, aber wieder ohne Erfolg. Sie war aufgestanden und zur Garderobe gehastet, hatte in aller Eile den vorhin ausgeschütteten Inhalt in ihre Handtasche zurückgestopft, wobei sie den Autoschlüssel ausgelassen hatte, um ihn gleich in ihrer Hand zu behalten. Sie hatte sich die Jacke übergestreift, ohne dabei wie üblich auf einen korrekten Sitz zu achten, und sich auf den Weg zur Wohnung ihrer Tochter gemacht.

    3 - Warten

    Erika Lange ging weiterhin ruhelos in der Wohnung ihrer Tochter auf und ab, ständig darauf bedacht, dass sie sowohl jederzeit das Läuten des Telefons hören als auch aufmerksam werden würde, wenn sich etwas an der Wohnungstür tat. Zwischendurch schaute sie immer wieder durch das der Anliegerstraße zugewandte Wohnzimmerfenster hinab auf die Straße und den Gehsteig, jeweils in der Hoffnung, die Tochter nahen zu sehen.

    Ninas kleine Wohnung, die aus zwei Zimmern mit Küche und Bad bestand, verriet in Einrichtung und Gestaltung Geschmack und Stil. Sie hatte sich dieses Zuhause geschaffen, nachdem sie sich vor knapp zwei Jahren, kurz nach ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, von ihrem damaligen Lebensgefährten Alex getrennt hatte. Es passte gut zu ihr.

    Sie hatte den größten Teil der Einrichtung nach der Trennung neu beschaffen müssen. Es war für sie ein finanzieller Kraftakt gewesen, die vom Vermieter geforderte Kaution sowie die für die Renovierung und für die Einrichtung notwendigen Mittel aufzubringen. Auch in den Monaten darauf hatte sie so manchen Teil ihres Einkommens als Erzieherin für die weitere Gestaltung der Wohnung ausgegeben. Alle Angebote auf eine finanzielle Unterstützung hatte sie strikt abgelehnt. Nina war stolz auf ihre Selbstständigkeit und nahm lieber finanzielle Engpässe in Kauf als auch nur die Spur einer Abhängigkeit von ihrer Mutter.

    Der größte Raum war das Wohnzimmer. Zwar war auch dessen Wohnfläche nicht gerade großzügig bemessen, doch hatten ein großes Sofa, zwei Sessel, ein Tisch, eine offene Regalwand mit Fernseher und Musikanlage und sogar ein Schreibtisch mit Computer darin Platz gefunden, ohne dass der Raum einen überfüllten Eindruck machte. Mehrere gerahmte unterschiedlich große Drucke offenbarten ihre Vorliebe für die Kunst Salvatore Dalis. Sie hatte die Bilder über die Wände verteilt und dabei auch eine größere Wandfläche nicht ausgespart, die von einem Fach der Regalwand umkränzt war. Etliche Figuren, vor allem Eulen und Clowns, die überwiegend aus Gips oder Ton gefertigt sein mochten, hatte sie in deren Fächern platziert.

    Zahlreiche in der Regelwand aufgestellte Bücher, geordnet, aber in Gruppen verteilt, verrieten ihre Lust am Lesen. Mehrere bunte Glaskugeln, die sie vor einiger Zeit vom Besuch einer Glasbläserei in Bayern mitgebracht hatte, baumelten an Nylonschnüren in einer Zimmerecke von der Decke herab, zwei weitere Kugeln hatte sie in das Fenster gehängt. Diese allerdings waren vom Raum aus kaum zu sehen, da sie von der Gardine verdeckt wurden. Nina hatte damals beim Bezug der Wohnung lange mit sich gerungen, ob sie eine Gardine anbringen sollte oder nicht. Eigentlich hatte sie diese noch nie gemocht, sich dann aber doch dafür entschieden. Sie würde sich vornehmlich in diesem Zimmer aufhalten, so hatte sie überlegt. Ohne Gardinen wäre der Raum von den Wohnungen der auf der gegenüber liegenden Straßenseite stehenden Häuser aus vollständig einsehbar gewesen.

    Der Parkettfußboden gab dem Raum eine eigene Atmosphäre, wie sie eben nur von einem Parkettfußboden vermittelt werden kann. Ein Läufer, den Nina knapp außerhalb des Drehbereichs der Wohnzimmertür ausgelegt hatte, sorgte einerseits für Wohnlichkeit und minderte darüber hinaus den Trittschall.

    Auf dem Schreibtisch hatte sie das gerahmte Porträt ihres Freundes Benjamin, von ihr immer zärtlich Ben genannt, aufgestellt, mit dem sie inzwischen deutlich länger als ein Jahr zusammen war. Ein weiteres Portrait von ihm stand in der Regalwand, wo sie zudem ein Bild ihrer Eltern, Erika und Rolf Lange, aufgestellt hatte, das aus der Zeit vor deren Scheidung stammte. Ein jünger datiertes Einzelbild ihrer Mutter hatte daneben seinen Platz gefunden.

    Das Wohnzimmer machte wie immer einen überaus gepflegten Eindruck. Nina war von Kindesbeinen an sehr ordnungsliebend gewesen und legte größten Wert auf die Sauberkeit ihres Zuhauses.

    Erika Lange registrierte ihre Eindrücke zwar flüchtig, verdrängte die sich damit verknüpfenden Gedanken jedoch wieder, obwohl ihr diese eine wohltuende Ablenkung verschafften. Sie hatte im Moment kein wirklich interessiertes Auge für die Wohnung, und sie wollte jetzt auch keins haben!

    Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen war, obwohl kaum mehr als 30 Minuten vergangen sein mochten, hörte sie, dass von außen ein Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür gesteckt wurde. Sie hatte soeben wieder an das Fenster treten und den nächsten der ungezählten Blicke auf die Straße hinunter werfen wollen. Nun sah sie, wie die Tür für einen Spalt geöffnet wurde und hörte, dass der Schlüssel wieder aus dem Schloss gezogen wurde. Während sie mit kurzen schnellen Schritten und in der bangen Hoffnung, dass Nina erscheinen möge, dem Eingang entgegen strebte, öffnete sich die Wohnungstür ganz und sie erkannte mit unendlicher Erleichterung, dass tatsächlich ihre Tochter eintrat.

    „Endlich!", rief sie ihr entgegen und ging mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu umarmen.

    Nina erschrak beim Anblick der Mutter. Einen Moment lang blieb sie stehen, so als ob sie unschlüssig wäre, wie sie sich verhalten sollte. Dann aber machte sie die zwei oder drei fehlenden Schritte auf die Mutter zu, während sie von einem heftigen Weinkrampf erfasst wurde, und fiel ihr in die Arme.

    „Was ist los, Nina?", fragte Erika Lange erregt, während sie mit ihrer rechten Hand den Hinterkopf der Tochter umfasste und deren Stirn dann fest an ihre Schulter presste.

    „Kind, so sprich doch! Was ist passiert? Was hast du denn?"

    Nur mit Mühe schaffte es Nina, eine Antwort zu schluchzen.

    „Ach Mutti, es ist so schrecklich!"

    Was ist denn passiert?", drang die Mutter weiter auf sie ein.

    „Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber... unterbrach sich die Tochter, während sie sich langsam aus der Umarmung löste. „Ich muss mich jetzt erst setzen. Holst du mir bitte ein Glas Wasser?

    Erika Lange zögerte kurz, gab dann der Wohnungstür einen Stoß, sodass sie ins Schloss fiel, und eilte in die Küche. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es aus einer bereits angebrochenen Flasche mit Mineralwasser, welche sie ihm Kühlschrank fand. Nina schlich während dessen ins Wohnzimmer und ließ sich dort in das Sofa fallen. Im nächsten Moment kniete die Mutter vor ihr, reichte ihr das Glas Wasser und forderte sie erneut ungeduldig zum Sprechen auf.

    „Kind, nun sag doch endlich, was los ist!"

    „Moment!", bat Nina um ein paar Sekunden Zeit und trank das Glas vollständig aus, wobei sie darauf Acht geben musste, dass sie sich nicht wegen des Schluchzens verschluckte.

    „Ich weiß nicht, was passiert ist, Mama, begann sie sodann, das bohrende Verlangen der Mutter um Information jedoch kaum befriedigend. „Ich weiß nur, dass es schrecklich gewesen ist. Erst dachte ich, ich sei vergewaltigt worden, aber nun glaube ich es nicht mehr.

    Sie musste einen Moment innehalten, weil eine neuerliche Weinattacke über sie kam. Recht schnell aber hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie fortsetzen konnte.

    „Ich fand mich nur auf dem Boden einer Lagerhalle irgendwo im Bereich Berliner Straße, Industriestraße. Ich lag auf dem Boden, als ich wach wurde, und war völlig nackt, und auch leicht am Rücken verletzt."

    Du warst nackt? Warum warst du nackt, woraus bist du erwacht, und wie bist du in die Halle gekommen?

    „Ich weiß es doch nicht, ich sage es dir doch!, entgegnete Nina ungehalten, um dann, immer wieder durch ein Schluchzen unterbrochen, fortzusetzen. „Ich bin auf jeden Fall entführt worden, denn das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich mein Auto aus der Tiefgarage unter dem Theaterplatz holen wollte, als mir jemand plötzlich von hinten ein süßlich riechendes Tuch auf Mund und Nase gedrückt hat. Ab da fehlen mir sämtliche Erinnerungen bis zu dem Moment, als ich am Boden liegend wach geworden bin.

    Erika Lange kniete weiterhin vor ihrer Tochter und streichelte ihr unbewusst und nur aus einem mütterlichen Gefühl heraus den linken Arm. Sie fühlte sich hilflos, unendlich hilflos. Angst und Sorge wollten nicht von ihr weichen, denn zu ungewiss waren die Hintergründe dessen, was die Tochter hatte erleben müssen. Ihre Kehle war nun wie zugeschnürt, sie hätte kein Wort über ihre Lippen gebracht, selbst wenn sie eine Idee gehabt hätte, womit sie ihre Tochter aufrichten und stützen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu quälen. Tränen liefen ihre Wangen hinunter.

    Die beiden Frauen verharrten einige Augenblicke in ihren Positionen, ohne ein einziges weiteres Wort zu wechseln.

    „Wieso bist du eigentlich hier in meiner Wohnung, wieso warst du schon da, als ich kam?", fragte Nina unvermittelt. Sie gewann langsam ihre Fassung zurück, und so wurde ihr nunmehr das ungewöhnliche Verhalten der Mutter bewusst. Nur die gelegentlichen reflexhaften Atemzüge, die gewöhnlich einem heftigen Weinkrampf folgen, sowie ihre geröteten Augen erinnerten noch an die vergangenen Minuten.

    Erika Lange sah in die fragenden Augen der Tochter, sie schluckte mehrfach kräftig, um das Gefühl der zugeschnürten Kehle zu überwinden und ihre Sprache wieder zu erlangen. Es vergingen etliche Sekunden, während derer sich die beiden Frauen stillschweigend ansahen.

    „Ich bin von einem Mann hierher dirigiert worden. Erst hat er auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, dann hatten wir auch ein persönliches Gespräch am Telefon. Zunächst hat er verlangt, dass ich in meiner Wohnung auf seinen zweiten Anruf warte, und dann im persönlichen Gespräch, dass ich mich in deine Wohnung begebe und dort auf dich warte."

    Sie verkürzte ihre Schilderung auf ein zum oberflächlichen Erfassen notwendiges Minimum.

    „Wer war der Mann und was bezweckt er?", fragte Nina, obwohl ihr klar war, dass die Mutter keine befriedigenden Antworten für sie haben würde.

    „Ich weiß es nicht, machte diese Ninas Annahme zur Gewissheit. „Er hat verlangt, dass ich hier in deiner Wohnung auf einen neuerlichen Anruf von ihm warte. Wahrscheinlich wird er dann mit der Sprache herausrücken und offenbaren, was er von mir oder von uns will.

    „Er will hier bei mir anrufen und dann dich sprechen?", fragte Nina. Sie hatte das Gefühl ohnmächtig Abläufen gegenüber zu stehen, von denen sie noch nichts verstanden hatte.

    „So hat er es gesagt, bestätigte ihre Mutter. „Und er hat mich eindringlich davor gewarnt, die Polizei einzuschalten, da er dir sonst schweren Schaden zufügen würde.

    Die Frauen schwiegen erneut für ein paar Sekunden. Die jüngsten Geschehnisse hatten Eindrücke und Gefühle aufgebaut, die nicht einfach in Minuten verarbeitet werden konnten.

    Unversehens sprang Nina, die sich von der eingetretenen Stille bedrängt fühlte, auf.

    „Was bildet sich dieser Kerl ein?", entrüstete sie sich. Sie schritt zum Fenster und sah auf die Straße hinab, so wie es auch Erika Lange während des Wartens auf ihre Tochter unzählige Male getan hatte, um sich sogleich wieder abzuwenden und plan- und ziellos im Zimmer hin und her zu gehen.

    „Diese Warterei macht mich verrückt!"

    Erika Lange stand auf und stellte sich ihrer Tochter in den Weg, um ihr sodann beide Hände auf die Schultern zu legen.

    „Quäl dich nicht noch mehr, mein Schatz!", versuchte sie auf Nina einzuwirken, obwohl sie sich eigentlich selbst in einer Verfassung befand, in der sie Zuspruch benötigte.

    Nina verhielt für einen Augenblick, wand sich dann jedoch aus den Armen der Mutter und ging zurück zum Fenster.

    „Ich quäle mich nicht!, rief sie barsch aus. „Ich bin gequält worden und ich werde gequält!

    „Vielleicht will der Unhold doch nur erreichen, dass wir in Panik geraten", versuchte ihre Mutter eine Erklärung, von der Sie jedoch bereits vor dem Aussprechen wusste, dass diese nur den Charakter einer Beschwichtigung, nur den Wert einer Illusion haben konnte.

    „Der Kerl will mehr! Wer solche Anstrengungen unternimmt, will nicht einfach nur Panik auslösen!"

    Sie ging wieder auf ihre Mutter zu und blieb direkt vor ihr stehen, um ihr ernst in das Gesicht zu sehen.

    „Der Dreckskerl lässt uns warten. Das macht er ohne Zweifel bewusst, aber damit wird es nicht getan sein. Wenn jemand zu solchen Mitteln greift, dann geht von ihm eine schlimme Drohung aus! Da kommt etwas Schreckliches auf uns zu, glaub mir! Der hält etwas für uns bereit, vor dem wir uns schon im Vorfeld ängstigen dürfen! Ich weiß, dass uns etwas droht, aber ich weiß nicht, was es ist. Diese Ungewissheit macht mich verrückt!"

    4 – Geheimnisvolles Telefonat

    Nur einen Katzensprung von wenigen hundert Metern entfernt wurde zur gleichen Zeit ein Telefongespräch geführt, dessen angerufener zweiter Teilnehmer unter südlicher Sonne weilte.

    „Es interessiert mich nicht, ob Sie alles in die Wege geleitet zu haben meinen, um die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen!, schnaubte der soeben in sein Mobilteil. „Ich will nur schnellstens von Ihnen hören, dass Sie Ihr Versäumnis von damals aus der Welt geschafft haben! Ohne Ihr unprofessionelles Verhalten gäbe es heute überhaupt kein auszuräumendes Problem!

    Er holte tief Luft, um dann fortzusetzen, ehe der Gesprächspartner auf die Idee kommen konnte, etwas zu erwidern.

    „Ab sofort nehmen Sie darüber hinaus gefälligst Abstand davon, diese Angelegenheit stückchenweise telefonisch mit mir erörtern zu wollen! Ich habe nicht das geringste Interesse daran, über jeden einzelnen Ihrer Schritte informiert zu werden. Wenn es wirklich etwas zu berichten gibt, dann rufen Sie mich an, und sonst lassen Sie die Finger vom Telefon! Und noch etwas: Wenn es ein nächstes Mal geben sollte, dann erwarte ich Ihren Anruf von einem öffentlichen Fernsprecher aus, nicht aus Ihrem Büro! Andernfalls erwarte ich nur noch Ihre Vollzugsmeldung, von Ihnen persönlich und ebenfalls von einem öffentlichen Fernsprecher aus! Und vergessen Sie nicht: Sie sitzen dick und fett mit im Boot! Sie haben so viel Dreck am Stecken, dass Sie, sofern alles auffliegen sollte, alt und grau sein werden, wenn Sie aus der Haft kommen! Und das wollen wir doch beide nicht, oder? Guten Tag!"

    Mit vor Erregung gerötetem Gesicht trennte er die Verbindung. Er sah in die Ferne, hatte aber jetzt unter dem Eindruck des Telefonats kein Auge für die Schönheit des Ausblicks, der sich von dieser Stelle seines erhöht liegenden Anwesens aus bot.

    In der Abendsonne erschien der Atlantik blau und türkis gefleckt. Mehrere Motorboote, deren Motorengeräusche jedoch wegen der Entfernung nicht bis hierher dringen konnten, durchzogen das Wasser und hinterließen lange Streifen, die beinahe an Kondensstreifen von Flugzeugen erinnerten.

    5 – Im Bann des Augenblicks I

    Mutter und Tochter fuhren zusammen, als endlich nach unerträglichem Warten das Telefon läutete. Nina Lange reagierte blitzschnell und hastete zum Wohnzimmertisch, auf dem sie das Mobilteil abgelegt hatte.

    Ohne zu zögern nahm sie es zur Hand, sammelte ihren Mut und drückte den Empfangsknopf.

    „Lange?"

    Ihre Art, den Namen in das Telefon zu sprechen, erinnerte mehr an eine Frage als an eine Meldung am Telefon.

    „Ja, Nina Lange, bestätigte sie auf eine Nachfrage des Anrufers. „Wer sind Sie denn bitte?

    Erika Lange war inzwischen neben ihre Tochter getreten und versuchte, etwas von dem zu erhorchen, was der Anrufer übermittelte. Bruchstückhaft meinte sie zu vernehmen, dass der Anrufer soeben geltend machte, dass seine Identität nichts zur Sache täte und er sie, Erika Lange, sprechen wollte.

    „Ja, meine Mutter ist auch hier, ich gebe Sie Ihnen, zuvor aber verlange ich eine Auskunft! Sie haben etwas damit zu tun, was mir heute widerfahren ist! Sagen Sie mir: Hat sich jemand in irgendeiner Weise an mir vergangen, als ich bewusstlos und nackt war?"

    Sie spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf schlagen.

    „Nein!", antwortete der Unbekannte mit Nachdruck und bestätigte damit zugleich, dass Ninas Annahme seiner Beteiligung zutraf.

    „Ihnen ist körperlich nichts geschehen. Und jetzt geben Sie mir endlich Ihre Mutter!"

    Die Stimme des Anrufers klang verstellt und merkwürdig gedämpft. Es war nur zu deutlich, dass er Vorkehrungen getroffen hatte, um deren wahres Klangbild nicht offenbar werden zu lassen.

    Nina war zu angespannt, als dass sie sich nach der Auskunft des Fremden schon jetzt zumindest etwas erleichtert fühlen konnte. Mit beiden Händen hielt sie ihrer Mutter das Mobilteil hin, und diese nahm es hastig an sich.

    „Erika Lange", meldete sie sich, und diesmal war ihrer besonnen klingenden Stimme zu entnehmen, dass sie auch schwierige Gespräche in Stresssituationen gekonnt zu führen gewohnt war. Sie erkannte den Anrufer als jenen wieder, der ihr bereits in ihrer eigenen Wohnung Angst und Schrecken eingejagt hatte.

    „Nun sagen Sie doch jetzt schon, was Sie wollen!", forderte sie. Der Anrufer schien sie erneut auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten zu wollen. Dann aber musste sie wohl doch auf ein Begehren des Anrufers eingehen.

    „Na gut, ich muss mich wohl fügen", rückte sie kurz darauf von ihrem Verlangen ab, ohne dass dies resignierend klang. Demnach sah sie keine andere Wahl für sich, als einzuwilligen.

    „Augenblick bitte", bat sie kurz darauf, und wendete sich ihrer Tochter zu.

    „Schnell, einen Zettel und einen Stift bitte!"

    Nina eilte zum Schreibtisch und kehrte sofort mit den geforderten Utensilien zurück.

    „Ich höre."

    Der Anrufer gab der Mutter eine Internetadresse durch, welche diese Buchstabe für Buchstabe notierte und anschließend sicherheitshalber wiederholte, damit eventuelle Fehler ausgeräumt werden konnten.

    „Sie benötigen noch ein Passwort. Es heißt tabulos, alles klein geschrieben. Haben Sie alles, auch das Passwort?"

    „Ja, ich habe alles", bestätigte Erika Lange, um aus einem für Nina nicht ersichtlichen Grund noch eine Nachfrage zu halten.

    „Um welche Zeit wird dies etwa sein?"

    Kurz darauf nahm sie das Telefon vom Ohr, ohne dass einer Reaktion von ihr zu entnehmen gewesen wäre, ob der Anrufer ihr eine befriedigende Antwort gegeben hatte. Sie hielt das Mobilteil flach vor sich in der Hand und drückte den Knopf zum Trennen der Verbindung.

    „Er hat aufgelegt", stellte sie fest.

    „Was hat er von dir gewollt? Warum hat er dir die Internetadresse durchgegeben und was hatte es mit deiner Nachfrage zur Uhrzeit auf sich?"

    „Er wollte mir nicht sagen, was er von mir will. Er hat verlangt, dass ich heute Abend zu Hause bleiben soll, damit er mich dort wieder telefonisch erreichen kann. Er hat verlangt, dass ich allein sein soll."

    „Was soll das denn? Warum dirigiert er dich erst hierher, wenn er dann doch nicht sagt, was er will? Es kommt doch gar nicht in Frage, dass du allein bist, wenn er anruft oder sogar kommt."

    „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf seine Forderung einzugehen. Es ist doch klar, dass ich allein sein soll, wenn er mit der Sprache herausrückt, damit niemand sonst erfährt, um was es geht, auch du nicht. Er will wieder anrufen, und in die Wohnung würde ich ohnehin niemanden lassen. Da musst du keine Angst haben, Nina!"

    „Und was hat es mit der Internetadresse auf sich?"

    „Er hat gesagt, dass die Seite, die sich hinter dieser Adresse verbirgt, mich bei der Entscheidung unterstützen wird, auf seine Forderung einzugehen und uns beide veranlassen wird, die Polizei aus dem Spiel zu lassen."

    Nina nahm den Zettel mit der Internetadresse an sich und ging, von ihrer Mutter gefolgt, nachdenklich zum Computer hinüber und schaltete die Anlage ein. Während das System hochfuhr, zog sie sich den Schreibtischstuhl heran und nahm Platz. Sie startete den Browser und stellte die Netzverbindung her, woraufhin ihre übliche Startseite erschien. Ihre Mutter stand hinter ihr und sah über ihre Schulter hinweg auf den Bildschirm.

    Sorgfältig, um einen Eingabefehler zu vermeiden, tippte sie die auf dem Notizzettel stehende Adresse in das Eingabefenster des Browsers und bestätigte diese dann. Für die Dauer von drei oder vier Sekunden zeigte das Programm nur seine Suche an, und dann, nach deren erfolgreichem Abschluss, den Status des Ladevorgangs. Kurz darauf erschien eine Seite, die lediglich eine Passwortabfrage auf einem weißen Hintergrund zeigte. Nina tippte das auf „tabulos lautende Passwort ein und klickte auf eine in die Passwortabfrage eingearbeitete Schaltfläche mit der Bezeichnung „. Wenige Sekunden lang veränderte sich der Bildschirm nicht. Plötzlich aber verschwand die Passwortabfrage und es erschien ein dunkelblauer Hintergrund, in dessen Mitte ein Rahmen erzeugt wurde, der sich nach und nach von oben nach unten mit einem Bild füllte. Nach wenigen Augenblicken war es vollständig, allerdings noch unscharf. Dennoch war bereits jetzt die Brisanz des Fotos zweifelsfrei zu erkennen. Einen Atemzug später erbarmte sich keine Unschärfe mehr, den Augen der Betrachterinnen Eindeutigkeit zu verwehren. Unzweifelhaft zeigte das Bild Nina, gänzlich unbekleidet und mit angewinkelten Knien auf dem Rücken liegend.

    Mutter und Tochter waren geschockt. Nina verlor in diesem größten Entsetzen, das sie jemals verspürt hatte, beinahe das Bewusstsein, einem Entsetzen, das von einer tiefen und demütigenden Scham beherrscht wurde.

    Der Fotograf hatte das Foto offensichtlich zwischen ihren gespreizten Beinen liegend mit aufgestützten Ellbogen geschossen, sodass die Scham in pornografischer Eindeutigkeit den Mittelpunkt des Bildes einnahm. Ninas zur Seite gerichtetes Gesicht war so deutlich zu erkennen, dass jeder Bekannte sie eindeutig würde identifizieren können.

    Unter dem Bild war ein Button angebracht, der mit „ beschriftet war. Nina zwang sich zu einem kurzen Mausklick darauf. Es öffnete sich ein neues Fenster, welches sie mit einem weiteren Mausklick auf volle Bildschirmgröße erweiterte. Der Aufbau dieser Seite war identisch mit der Eingangsseite; erneut füllte sich ein in der Mitte angebrachter Rahmen nach und nach mit einem Foto. Auch der „-Button war wieder darunter zu finden. Auch dieses Bild zeigte erwartungsgemäß wieder sie, wieder unbekleidet, aber aus einer anderen, ihre Nacktheit jedoch erneut brutal herausstellenden Position. Der Fotograf hatte bei dieser Aufnahme allerdings offensichtlich ganz großes Interesse daran gehabt, dass Nina durch die klare Abbildung ihres Gesichts auch von eher flüchtig Bekannten als Person identifiziert werden konnte.

    Wie apathisch klickte sie sich durch die Reihe aller Bilder, die ihr Peiniger ins Netz gestellt hatte. Sie konnte nicht aufhören, sich mit dem Betrachten jedes neuen Fotos ein weiteres Mal zu quälen. Erika Lange stand noch immer hinter ihr, aus hilflosem Entsetzen heraus beide zur Faust geballten Hände fest vor den Mund gepresst. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, sodass sie die Darstellungen auf dem Bildschirm nur noch schemenhaft erkennen konnte.

    Nachdem Nina das letzte Foto erreicht hatte, ließ sie ihre Arme sinken und starrte sekundenlang mit leerem Blick auf den Bildschirm. Auch ihre Augen füllten sich mehr und mehr mit Tränen, bis sie sich schließlich mit einer Vierteldrehung ihres Stuhles abwandte, ihren Oberkörper nach vorn beugte, während dessen zugleich ihre Ellbogen auf die Knie stützte und ihr Gesicht dann in ihren Handflächen verbarg. Ihr anfängliches Schluchzen steigerte sich in einen heftigen Weinkrampf, der ihren Körper erbeben ließ.

    6 –Mut und Entschlossenheit gegen Scham und Angst

    Nina war wieder allein in ihrer Wohnung. Ihre Mutter hatte sich auf den Heimweg machen müssen. Widerwillig war sie gegangen, von Unbehagen und Sorgen begleitet und nur ein wenig davon beruhigt, dass Nina ihre Weinkrämpfe überwunden hatte. Sie hatte ihre Tochter in deren Schockzustand nicht allein zurück lassen wollen, aber es war nicht anders gegangen. Der Fremde hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Er hatte seinen abendlichen Anruf bei ihr zu Hause angekündigt und ihre Anwesenheit gefordert. Dem hatte sie sich beugen müssen.

    „Bitte sorg dafür, dass jemand bei dir ist, bis Benjamin kommt, ruf jemanden an, lad dir Besuch ein!", hatte sie besorgt gefordert, aber Nina hatte abgelehnt.

    „Ich möchte jetzt lieber allein sein", hatte sie gesagt und der Mutter ins Gedächtnis zurück gerufen, dass Benjamin noch bis zum übernächsten Wochenende im Ausland sein würde, im australischen Melbourne.

    Sie hatte ausgiebig geduscht, als ihre Mutter gegangen war, und ihre Kleidung vollständig gewechselt. Anschließend hatte sie sich gleich etwas besser gefühlt. Jetzt aber fühlte sie sich einsam und allein, so schrecklich einsam und allein. Zugleich aber war sie froh, allein zu sein, kein Mitleid und keine Fragen ertragen zu müssen, ungestört ihren eigenen Gedanken nachhängen zu können. Es hätte schlimmer kommen können, sie hätte viel größeren Schaden davon tragen können!

    Was hätte schlimmer kommen können? Es war schlimm, was ihr widerfahren war und was sie jetzt fortwährend ertragen musste! Es gab keinen Vergleich, keine Abstufung im schlimmen Leid! Es hätte anders kommen können, ja, anders, aber nicht schlimmer als es jetzt war, nur anders schlimm!

    Ihr Auto stand noch immer in der Tiefgarage unter dem Theaterplatz. Sie hatte es stehen lassen, sie hatte es schlicht vergessen auf der Flucht aus der Halle und von der Halle weg. Sie musste es holen!

    „Jetzt nicht!, sagte sie sich. „Es läuft mir nicht weg! Jetzt nicht wieder dort hin, nie wieder dort hin! Nie wieder dort auflauern lassen!

    Unfähig zu ruhen ging Sie fortwährend grübelnd in ihrer Wohnung auf und ab.

    „Eigentlich geht es mir gut, sagte sie sich. „Ich müsste zufrieden sein. Ich bin gesund!

    Was sollte sie tun?

    „Ich bin nicht gesund!, widersprach sie sich. „Ich bin krank, ich bin verletzt, ich bin gedemütigt worden, man hat mich vergewaltigt, auf miese hinterhältige Art vergewaltigt, auch wenn man mich nicht körperlich missbraucht hat!

    Sollte sie stillhalten und warten, bis der Fremde seine noch unklaren Ziele erreicht haben und die Bilder selbst wieder entfernen würde?

    „Blödsinn, vergewaltigt, ich bin doch nicht vergewaltigt worden!, hielt sie sich erneut selbst die Gegenrede. „Was erzähle ich? Ich mache es nur schlimmer! Ich bin nicht vergewaltigt worden! Ich muss diese Gedanken lassen, ich quäle mich nur selbst, ich spiele ihm in die Hände! Ich bin nicht vergewaltigt worden!

    Wenn sie stillhalten und warten würde, dann lief sie Gefahr, dass die Fotos Verbreitung finden würden, und zudem gab es nicht die geringste Gewähr dafür, dass der Fremde die Bilder irgendwann freiwillig vollständig und ohne verbleibende Kopien beseitigen würde.

    „So, ich bin nicht vergewaltigt worden?, gingen ihre hysterischen Gedanken auf sie selbst los. „Was ist denn jetzt, gerade jetzt? Ich werde jetzt, gerade jetzt, ich werde immerfort vergewaltigt! Das Schwein vergewaltigt mich im Internet, jetzt, eben und auch gleich noch!

    Es war seltsam! Ihre Gedanken wurden hektischer und hektischer, zerstörerischer und zerstörerischer, aber sie halfen! Nina wurde körperlich ruhiger, sie verarbeitete die Situation, sie erarbeitete sich das Feindbild, auf das sie all ihren Hass, all ihre schlechten Wünsche und all ihre Tatkraft richten konnte. Jawohl, sie hatte kein Recht, sich ergeben der Situation auszuliefern, die der Fremde durch seine Tat verursacht hatte und auch jetzt, gerade jetzt noch aufrecht erhielt. Sie hatte das Recht, nein, sie hatte die Pflicht, sich selbst zu schützen und alles daran zu setzen, dass ihr Peiniger am Ende der Verlierer sein würde!

    „Die Eier schneide ich ihm ab!"

    Sie fühlte eine unbändige, eine gehässige Vorfreude.

    „Ja, du Schwein, die Eier schneide ich dir ab, wenn ich dich zu fassen kriege!", grinste sie.

    Aber konnte sie bis dahin mit einem überstürzten, planlosen, unkontrollierten Handeln vielleicht sogar ihre Mutter gefährden?

    „Okay, vorerst kannst du sie noch behalten!", kostete sie das Überwinden ihres Gefühls der eigenen Ohnmacht aus.

    Ihr wiedergewonnener Hauch von Optimismus, ihr Arrangement mit der instabilen Wahrheit und ihre Kampfansage an ein Sich-Fügen erlaubten ihr plötzlich eine nüchterne Betrachtung der Situation.

    Wenn der Fremde Fotos von ihr benutzte, um auf ihre Mutter Einfluss zu nehmen, dann hatte er sicherlich nichts Besseres, auf jeden Fall nichts Zwingenderes als Druckmittel in der Hand. Aber vielleicht war es auch das Schlimmste, was ein Erpresser in der Hand haben konnte, das Wohl, die Integrität des eigenen Kindes.

    Keinesfalls konnte sie die Polizei einschalten. Einerseits würde sie sonst immer Gefahr laufen, dass der Erpresser dies erfahren und unkontrolliert reagieren würde, andererseits würde die Arbeit der Polizei unabänderlich dazu führen, dass ihr das demütigende Fotomaterial in die Hände fallen würde.

    Ebenso ausgeschlossen war es für sie, ihren Freund Benjamin einzuweihen. Er würde ihr technisch kaum helfen können, da seine Fähigkeiten am Computer nicht größer als ihre eigenen waren. Und zudem hätte sie viel zu große Angst vor den Folgen für ihn und für die gemeinsame Beziehung haben müssen, denn die Kenntnis von der Existenz der Fotos und das Wissen darüber, dass sie in fremden Händen lagen, würden Benjamin furchtbar schwer treffen. Nina konnte nicht einschätzen, wie er reagieren würde.

    „Außerdem kommt er erst am übernächsten Wochenende aus Melbourne zurück", griff sie auf die geborene Rechtfertigung dafür zurück, den Lebensgefährten in dieser intimen Angelegenheit unwissend zu lassen.

    Wenn sie jedoch keine Unterstützung suchte, ganz auf sich allein gestellt blieb, waren ihre Chancen auf eine Änderung der Situation momentan gleich null. Gab es überhaupt einen Ausweg?

    Unvermittelt kam ihr ein Gedanke, der sowohl ein Quäntchen Hoffnung als auch zugleich eine strikte innere Ablehnung auslöste.

    „Ob ich wohl Alex um Hilfe bitten kann?"

    Bis vor etwa zwei Jahren war sie mit ihm liiert gewesen. Sie hatten sogar zusammen gelebt, dann aber festgestellt, dass sie wohl doch nicht für ein dauerhaftes Zusammensein geschaffen waren und sich getrennt. Trotz der einvernehmlichen Trennung auf der persönlichen Ebene, oder vielleicht auch gerade deswegen, war es zu heftigen Streitereien bei der Aufteilung des gemeinsam beschafften Hausstandes gekommen. So war nach dem Auseinandergehen nicht einmal mehr eine Freundschaft zurück geblieben. Alex aber war schon damals ein großer Computerfachmann gewesen, hatte in einer kleinen, wie er sich immer ausgedrückt hatte, Softwareschmiede als Programmierer gearbeitet. Ihm traute sie zu, ihr aus der Not heraus helfen zu können. Trotz der inzwischen vergangenen Jahre empfand sie es als weniger entehrend, wenn er die Fotos von ihr zu sehen bekommen sollte als wenn es hierzu durch Fremde kommen würde. Er hatte damals ohnehin Intimstes zu Gesicht bekommen.

    „Nein, wie konnte ich nur auf diese dumme Idee kommen?, verwarf sie den Gedanken wieder. „Wahrscheinlich würde mir Alex ohnehin nur einen Korb geben. Jetzt vielleicht auch noch mit ihm wieder Stress bekommen? Nein, kein Bedarf, basta! Und außerdem: Kann ich denn die Skrupel über Bord werfen, Benjamin die Angelegenheit zu verschweigen, mich meinem Ex jedoch anzuvertrauen? Nein, keinesfalls!

    Sie nahm das örtliche Fernsprechverzeichnis zur Hand. In völligem Widerspruch zu ihrer Entscheidung suchte sie nach Alexanders Telefonnummer.

    „Warum muss er denn auch gerade Schröder heißen?, haderte sie. „Davon gibt es doch nun wirklich auch ohne ihn bereits genug.

    Sie fuhr mit dem Zeigefinger die Reihe der Einträge unter dem Namen Schröder auf der Suche nach den mit dem Buchstaben „A" beginnenden Vornamen ab.

    „Da ist er ja, ganz weit vorn, Schröder, Alexander", freute sie sich.

    Den Daumen unter der Rufnummer hielt sie das Telefonbuch in der linken Hand. Mit dem Daumen der rechten Hand tippte sie die Ziffern in das Mobilteil, während sie den Blick zwischen dem Verzeichnis und der Tastatur des Telefons hin und her wandern ließ.

    „Ich kann es ja mal versuchen, dachte sie und versuchte sich ein wenig auch vor sich selbst zu rechtfertigen. „Ich kann ja auch sofort auflegen, wenn er mir dumm kommt.

    „Schröder", kam es aus der Leitung.

    „Ich bin´s, Alex, Nina", gab sie sich nach kurzem Zögern zu erkennen,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1