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Iria - Blut wie Regen
Iria - Blut wie Regen
Iria - Blut wie Regen
eBook938 Seiten10 Stunden

Iria - Blut wie Regen

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Über dieses E-Book

Ihre Rückkehr nach Iria bringt einige beunruhigende Veränderungen für Leo und Marie mit sich: Schlimm genug, dass die Anfeindungen im Volk immer aggressiver werden. Doch zu allem Überfluss hat sich auch noch ihr Freund Jonas in den Kopf gesetzt, nach seinem verschollenen Vater zu suchen.

Werden die vier Freunde Hedwig, Jonas, Leo und Marie sich der Herausforderung stellen? Oder sind sie nicht bereit, ihr Leben für den Erzfeind aufs Spiel zu setzen, der ganz nebenbei Jonas Vater ist?

Das blutige Spiel beginnt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum6. Apr. 2020
ISBN9783752937619
Iria - Blut wie Regen

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    Buchvorschau

    Iria - Blut wie Regen - Lea Loseries

    Iria - Blut wie Regen

    Titel Seite

    Quellen

    Widmung

    Fernweh

    Eine falsche Bestellung

    Dicke Luft

    Eine erschreckende Entdeckung

    Konzert mit Folgen

    Ein gefährlicher Plan

    Nächtlicher Überfall

    Eingeschlossen

    Brennende Bücher

    Ein hinterhältiger Auftrag

    Der dunkle Wald

    Fantastische Gesellschaft

    Das stille Dorf

    Ein unerwartetes Wiedersehen

    Die Druckpresse

    Einsame Hochzeitsreise

    Endstation Tierkäfig

    Marsch für den Frieden

    Happy End?

    Die Verbündeten

    Zickenkrieg

    Von Fabelwesen und nicht ganz verlassenen Hallen

    Goldrausch

    Ende der Scharade

    Ein grauenvolles Geheimnis

    Abwartendes Weihnachten

    Mission erfüllt!

    Der geheime Raum

    Abschied und Neuanfang

    Iria

    Blut wie Regen

    Lea Loseries

    Quellen

    Quellen und Autor

    Texte: Copyright by Lea Loseries Umschlaggestaltung: Copyright by Lea Loseries Coverbild: Copyright by pixabay.com

    Bibelverse: Copyright by Neues Leben Übersetzung Verlag:

    Lea Loseries Kleinenwieden 35

    31840 Hess.Oldendorf

    Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Widmung

    Für Josia

    Fernweh

    Das Rauschen des Meeres hörte sich in seinen Ohren an wie Donnergrollen. Vor

    seinem geistigen Auge sah er die riesigen Wassermassen, die sich an den Felsen

    brachen und wieder neu sammelten. Unter seinen Füßen spürte er den körnigen Sand.

    Kleine Steinchen, über Jahrtausende oder gar Jahrmillionen hinweg zu kleinstem

    Staub verarbeitete Partikelchen. Und das alles sollte mithilfe des Meeres vor ihm

    geschaffen worden sein. Er spürte, wie seine Füße an Halt verloren und er nach

    hinten taumelte. Nur ein ganz kleines bisschen. Dann hatte er sein Gleichgewicht

    wiedergefunden. Vielleicht war es auch nur Einbildung gewesen. Doch da kam auch

    schon die nächste Welle und spülte einen Teil des Sandes unter seine Füßen hinfort,

    sodass er tiefer und tiefer sackte und sich seine Füße allmählich im Sand vergruben.

    Bis zu den Knien war ihm das klare, blaue Meerwasser gespritzt, dessen Salz er

    schon beim bloßen Einatmen der Luft schmecken konnte. Er wartete. Er atmete tief

    ein und aus. Zu früh, um die Augen zu öffnen. Er wollte das hier genießen, er wollte

    einfach da sein, ohne sich über das Gedanken zu machen, was er gehört hatte. Was

    die Leute schon alles reden… Sein Hirn hatte er mittlerweile so gut wie

    ausgeschaltet. Es war, als würde er im Stehen schlafen. Durch diesen

    tiefenentspannten Zustand, in den er gefallen war, hatte er jegliches Zeitgefühl

    verloren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon mit geschlossen Augen an dem

    kleinen Badestrand an der Westküste von Sousiz gestanden und dem Atem der

    Wellen gelauscht hatte. Wenn da überhaupt etwas war, um das er sich gerade

    Gedanken machte, dann war das seine Sorge um die Möwen, die hoch über seinem

    Kopf kreisten. Bei meinem Glück, dachte er sich, kriege ich am Ende noch einen auf

    den Kopf gekackt. Nach und nach schien es Jonas, als würde das Donnern der Wellen

    in unregelmäßigen Abständen immer lauter und lauter werden, bis er schließlich

    bemerkte, dass er nicht nur unten, bis zu seinen Knien, sondern am ganzen Körper

    nass war. Seine Beine waren durchweicht vom salzigen Meerwasser, sein Oberkörper

    von dem Regen, der urplötzlich in Sturzbächen auf ihn herab prasselte. Es war schon

    den ganzen Tag lang verdächtig schwül gewesen und so war es eigentlich nur eine

    Frage der Zeit gewesen, bis das nächste Sommergewitter hereinbrach. Jonas öffnete

    die Augen. Die ehemals ruhige See lag jetzt vor ihm wie ein sich gegen den Himmel

    aufbäumendes Tier. Dort oben zuckten grellweiße Blitze und fanden in den

    gewaltigen Wassermassen ihren Tod. Die Wolken waren dunkellila verfärbt und alles

    in allem sah es aus, als wäre diese Landschaft einzig und allein dazu kreiert worden,

    sich an ihr zu erfreuen und über sie zu staunen. Allerdings hatte dieses Schauspiel

    seinen Preis. Langsam wurde es ungemütlich. Der Regen war nun nicht mehr

    lauwarm, sondern kalt. Und Jonas wurde auch kalt. Kurzentschlossen wandte er den

    Wellen den Rücken zu und rannte über den Strand auf ein kleines, mit Holzbalken

    erhöhtes und an der Westseite mit einer Eiche gesäumtes Ferienhaus zu. Seine

    Schwester sah ihn schon von Weitem. Lisa stand auf der überdachten Terrasse, die

    Haare offen und in ihrem Sommerkleid, das nun vom Wind aufgeblasen wurde,

    sodass sie aussah wie ein lila Luftballon. Mit ihrem Kopfschütteln kommentierte sie

    Jonas Wiederkehr, der auf dem Weg zum Haus noch einmal ausgerutscht und mit

    dem Gesicht voran in den nassen Sand gefallen war und sich jetzt mühsam die paar

    Stufen zu ihr hoch quälte. „Du stehst da jetzt schon seit einer Stunde. Das Gewitter

    wütet aber schon seit fünfzehn Minuten. Hast du das denn nicht gemerkt?", fragte sie

    statt einer Begrüßung. Jonas zuckte mit den Schultern. Es war ihm ziemlich egal.

    Sollte sie doch denken, was sie wollte. Ihm für seinen Teil tat es gut, seinen Körper

    endlich einmal wieder zu spüren. Die Kälte, die langsam in seinen Gliedmaßen hoch

    kroch, die durch den Sand aufgescheuerten Knöchel und die pitschnasse Kleidung,

    die an seiner nackten Haut klebte. Es war die willkommene Abwechslung zu den

    endlosen Shoppingtouren, Museumsbesuchen oder heißen, faulen Strandtagen, die

    hinter ihm lagen. Endlich mal wieder Natur erleben, dachte er. Es erinnerte ihn an

    früher. Genauer gesagt an das letzte Schuljahr, als er mit seinen Freunden Hedwig,

    Leo und Marie von einer brenzligen Situation in die andere gestolpert war und etliche

    Nächte unter freiem Himmel, fernab der Zivilisation, verbracht hatte. Da war das hier

    etwas ganz anderes. Seine Tante, Professor Tyra Ferono, Schulleiterin eines

    berühmten Internats namens Firaday, hatte ihm und seiner Schwester versprochen,

    mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Und zwar wie richtige Touristen. Vorbei mit

    Abenteuern und Aufregung. Entspannung wir kommen. Mittlerweile war Jonas in das

    Wohnzimmer des kleinen Häuschens getreten, das an einer Seite riesige Fenster hatte,

    durch die er das Naturschauspiel draußen weiter beobachten konnte. Er schnappte

    sich ein auf dem Sessel liegendes Handtuch und rubbelte sich damit ab, ohne sich

    vorher auszuziehen. Dann öffnete er den Küchenschrank und schnappte sich ein paar

    große, einzeln verpackte Schokoladenkekse. Er wollte sich gerade mit seinen immer

    noch triefend nassen Klamotten auf das Sofa fallen lassen, als Lisa ihn missbilligend

    musterte. „Du wirst fett, wenn du weiter so viel futterst.", sagte sie mit einem

    unwilligen Stirnrunzeln. „Bin ich eh schon." Jonas legte die Kekse jetzt beiseite und

    ging Richtung Bad, um sich nun doch noch neue Kleidung anzuziehen. „Geht´s dir

    eigentlich gut?", rief Lisa ihm noch hinterher. Sie machte sich Sorgen um ihren

    kleinen Bruder. Zwar hatte die Erholung der letzten Wochen ihm gutgetan, aber da

    war etwas, das ihm schwer zu schaffen machte. Es nagte an seiner sonst so

    fröhlichen, offenen Art und hatte ihn nun schon so manches Mal dazu getrieben, sich

    stundenlang zu verkriechen ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Früher wäre

    das undenkbar gewesen. Damals war er ein richtiges kleines Plappermaul gewesen.

    Das war er auch noch immer, aber irgendwie schien er sich zu verändern. Er nahm

    nicht mehr mit der gleichen Begeisterung an Familienausflügen teil wie noch vor ein

    paar Jahren. Manchmal hatte sie den Eindruck, er würde am liebsten alleine irgendwo

    hingehen, ohne sie und seine Tante noch weiter ertragen zu müssen. Auf ihre Frage

    erhielt Lisa auch nach einigen Sekunden der Stille wie selbstverständlich keine

    Antwort. Noch so eine Macke, deren Entwicklung sie ihm nie zugetraut hätte. Jonas

    hatte sich da in irgendetwas verfangen…

    Ein paar Stunden später, als das Gewitter längst vorüber war und auch die nassen

    Fußabdrücke, die er überall in der Wohnung verteilt hatte, nicht mehr zu sehen

    waren, saß Jonas mit seiner Tante und Lisa am Tisch und öffnete einen an ihn

    adressierten Umschlag. Die beiden Frauen aßen Mittagessen, aber er hatte keinen

    Hunger. Zumindest nicht auf Salat. Der Brief, den er in den Händen hielt, stammte

    von Leo, seinem besten Freund. Staunend strich Jonas über die Anschrift des

    Absenders und die fremd aussehende Briefmarke, mit der er den Brief versehen hatte.

    Das waren also Dinge aus der anderen Welt. Leo lebte in einem Land namens

    Deutschland, von dem Jonas vorher noch nie etwas gehört hatte. Sein Heimatland Iria

    war zusammen mit ein paar anderen Länder schon seit hunderten von Jahren vom

    Rest der Welt abgeschnitten und er hatte keine Ahnung, wie die Piloten der

    Flugzeuge, die die Schüler immer zu Ferienbeginn und -ende zwischen Iria und der

    anderen Welt hin- und herflogen, das bewerkstelligen konnten. Aber er hatte sich

    vorgenommen, irgendwann hinter dieses Rätsel zu kommen. Kurz darauf hielt er ein

    liniertes Blatt Papier in den Händen, das aussah, als sei es aus einem Schulblock

    gerissen worden. Der linke Rand war unsauber abgetrennt und an einigen Stellen

    hing noch der Papierstreifen mit den kleinen Löchern, die eigentlich dazu bestimmt

    waren, die einzelnen Blätter an einen Ringhefter zu binden. Er erkannte Leos

    Handschrift sofort wieder und fing gespannt an zu lesen.

    Hallo Jonas,

    ich dachte, ich sollte mich mal wieder bei dir melden. Ich hoffe, du

    hast schöne Ferien und deine Familie treibt dich nicht zu sehr in den

    Wahnsinn. Meine nervt mich nach wie vor, aber seit letztem Jahr ist

    die Situation bei uns zu Hause viel besser geworden. Du kannst dir gar

    nicht vorstellen, was für Augen meine Brüder gemacht haben, als ich

    angefangen habe, ihnen von all unseren Erlebnissen zu erzählen. Ich

    glaube, sie waren sogar ein ganz kleines bisschen neidisch. Jedenfalls bin

    ich jetzt dank dessen, was passiert ist, hier zu Hause eine Art Held.

    Und als diesen respektiert mich sogar meine kleine, aufmüpfige

    Schwester! Außerdem habe ich langsam kapiert, dass ich mich nicht von

    ihr beeinflussen lassen muss. Es ist unglaublich, aber es gelingt mir

    mittlerweile immer besser sie zu ignorieren, auch wenn sie mir von früh

    bis spät mit glitzernden Plastikponys und Nagellack vor meiner Nase

    herumwedelt. Ich sehe keinen Grund mehr, mich darüber aufzuregen.

    Wenn mich aber jemand in den Wahnsinn treibt, dann ist das Marie.

    Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erzählt sie mir, wie sehr sie Firaday

    vermisst. Und natürlich dich und Hedwig. Diese Verrückte kann es kaum

    abwarten, endlich wieder die Schulbank zu drücken! Aber das ist ja

    nichts Neues. Wie geht es dir? Wie geht es Hedwig? Ist ihr Haar

    immer noch so dunkelrot wie früher? Meins hat nämlich ein wenig an

    Farbe verloren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, denn hier

    nennt mich jeder zweite „Karottenkopf" und das kann man irgendwann

    nicht mehr hören. Was machst du so? Es wäre cool, wenn du mir

    zurückschreibst.

    Leo

    Schmunzelnd sah Jonas von seiner Lektüre auf. Das war wieder mal typisch für Leo.

    Er ging wegen alles und jedem an die Decke. Und dann war da natürlich noch Marie,

    die immer die besten Noten hatte und manchmal Gefahr lief, ihre Nase etwas zu tief

    in ihre Schulbücher zu stecken. Und Hedwig. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er

    mit ihr gesprochen hatte. Sie war die Ferien über zu Hause und bis jetzt hatte er

    einfach noch nicht daran gedacht, sie anzurufen. Wortlos stand er auf und griff nach

    dem Telefon. „Jonas!", die vorwurfsvolle Stimme seiner Tante ließ ihn innehalten.

    „Du musst etwas essen! Was ist denn mit dir? Bist du krank?", besorgt musterten ihn

    die sonst immer so fröhlich funkelnden Augen seiner Tante. Jonas schüttelte den

    Kopf. „Ich will nur Hedwig anrufen., sagte er schnell. Seine Tante nickte. „Okay.,

    meinte sie, „Aber danach isst du mit uns!" Ohne weiter darauf einzugehen, wählte

    Jonas Hedwigs Nummer. Dann ging er raus auf die Terrasse und schloss die Tür

    hinter sich, um zu verhindern, dass der gesamte Hofstaat mithörte. „Hallo?", nach ein

    paar Sekunden meldete sich eine tiefe Männerstimme am Apparat. Hedwigs Vater.

    „Hallo Emil. Kann ich mit Hedwig sprechen? „Ach, du bist es Jonas!, die Stimme

    am anderen Ende klang erfreut. Jonas kannte Hedwigs Eltern gut. Ihre Familien

    waren befreundet gewesen, schon lange Zeit bevor seine Mutter an Krebs erkrankt

    und vor fast genau einem Jahr gestorben war. Seitdem hatte Jonas ab und zu ein paar

    Tage bei Hedwig und ihrer Familie übernachtet. „Wie geht es dir?" Emil schien

    ehrlich interessiert. Und Jonas wusste, dass er eine ehrliche Antwort erwartete. „Ganz

    gut.", meinte Jonas. „Der Strand ist schön. Aber mit der Zeit wird es echt langweilig,

    immer nur das Gleiche zu sehen... „Du hast recht., Emil lachte, „Vielleicht ist es

    doch ganz gut, dass die Schule bald wieder anfängt. Dann habt ihr wieder etwas zu

    lachen. Ist sonst alles in Ordnung?" Jonas zuckte innerlich zusammen. Er kannte

    diesen bohrenden Unterton nur allzu gut. Jetzt holte er tief Luft. „Ja, alles bestens",

    sagte er und hoffte, Emil würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben. Das tat er

    wohl oder übel auch. „Warte kurz., sagte er, „Ich hole Hedwig. „Hallo Jonas!" Die

    aufgeregte Stimme seiner Freundin war wie frisches Wasser auf ausgetrockneten

    Lippen. „Hast du das in den Nachrichten gesehen?", fragte sie mit bebender Stimme.

    Jonas sog scharf Luft ein. Zwar hatte er schon seit einer Ewigkeit kein Fernsehen

    mehr geguckt, weil seine Familie wie die meisten anderen Irianer gar keinen

    Fernseher besaß, aber er konnte sich denken, wovon Hedwig sprach. Dennoch hatte

    er nicht die geringste Lust, ihr es jetzt auch noch erläutern zu müssen. Deshalb fragte

    er leichthin: „Was denn? „Die haben antike Schriften gefunden!, Hedwigs Stimme

    überschlug sich fast, „Irgendwo weiter im Norden. Das ist ungeheuerlich! Die

    könnten aus der Zeit von Jesus stammen und berichten von seinem Wirken auf der

    Erde. „Ach, echt?, Jonas zog die Stirn in Falten. Es kam ihm seltsam vor, dass

    gerade jetzt, wo in Iria ein Umbruch in alle Richtungen stattfand, ein neues

    Evangelium gefunden worden sein sollte, von dem vorher nie ein Mensch gehört

    hatte. „Ja!" Hedwig war total begeistert. Er konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie sie

    dastand; mit geröteten Wangen und weit offenen Augen. „Das ist doch noch ein

    weiterer Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat. Und auf diese Weise

    können wir noch mehr von ihm erfahren. „Meinst du?, fragte Jonas etwas

    zögerlich, „Ich habe gehört, dass der Inhalt dieser Schriften einige heftige Streits

    ausgelöst hat. Selbst hier, in einer Touristengegend, kriegen sich die Leute darüber in

    die Haare, weil der Stoff echt ganz schön provozierend ist. Außerdem, was meinst du

    damit, „ein Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat"? Willst du mir weiß

    machen, dass es ihn jetzt nicht mehr gibt?" Hedwig verdrehte die Augen, was Jonas

    natürlich nicht sehen konnte und wodurch eine kurze Pause entstand.

    „Entschuldigung, das war dumm formuliert.", lenkte sie ein, „Natürlich gibt es ihn

    immer noch. Aber halt nicht als Mensch, hier, bei uns. Du weißt schon, was ich

    meine." Jonas nickte ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile des Schweigens

    fragte er: „Wie geht’s dir? „Gut., kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

    „Ich spiele jeden Tag mit Erwin. Er kann jetzt schon ein paar super Tricks, die ich dir

    unbedingt zeigen muss, wenn wir wieder in der Schule sind. Und wie geht’s dir? Du

    bist irgendwie so ruhig. „Gut., antwortete Jonas sporadisch. Dann gab er sich einen

    Ruck. „Weißt du", fing er an, „mir macht die ganze Entwicklung hier im Land

    einfach Sorgen. Schon nachdem wir den Schlüssel der Macht vernichtet haben und

    sich dieser verbrecherische Geheimbund aufgelöst hat, gab es wieder neue

    Spannungen zwischen Nord- und Südirianern. Und das nur, weil es vor vielen Jahren

    mal einen heftigen Bürgerkrieg gab. Jetzt wird die ganze längst versunkene Schlacke

    wieder hervorgeholt. Und nicht nur deshalb kriegen sich die Leute in die Wolle.

    Wohin du auch blickst, überall in Iria siehst du nur Spaltungen, Spaltungen und

    Spaltungen. Und außerdem kaputte Familien, so wie meine eine ist." Jonas spürte

    einen Stich in seinem Brustkorb, als er das sagte. Der Geheimbund, von dem er

    gerade gesprochen hatte, hatte aus Menschen bestanden, die einen Pakt mit dem

    Teufel geschlossen hatten. In ganz Iria hatten sie unter der Oberfläche Verbrechen

    begangen und niemand hatte sie aufhalten können. Sein Vater und seine beiden

    Schwestern Chila und Lisa waren Mitglieder des Bundes gewesen. Chila war tot,

    Lisa hatte sich zum Glück komplett davon losgesagt und sein Vater, Sigor Maschael,

    der eine Zeit lang als Lehrer in Firaday gearbeitet hatte, hatte sich nach dem Zerfall

    der Organisation in Luft aufgelöst. Jonas hatte keine Ahnung, wo er sich befinden

    mochte. „Och Jonas.", Hedwig stöhnte, „Nun werd nicht wieder gleich depressiv. Du

    hast es doch sehr gut. Genieße die letzten Ferientage mit deiner Tante und deiner

    Schwester und mach dir um unsere Politik keine Sorgen. Das wird sich schon wieder

    einrenken. Die Politiker und die Presse machen doch sowieso immer einen Wirbel

    um nichts." Jonas schien immer noch nicht überzeugt. Dennoch fiel ein Teil der

    Anspannung der letzten Tage von ihm ab. Dann erzählte er Hedwig, wie er auf einer

    Schifffahrt ganz in der Nähe einer Gruppe Delfinen begegnet war. „Delfine?", wie zu

    Anfang war Hedwigs Stimme laut und aufgeregt. Er konnte ihr die Begeisterung

    anhören. „Das ist ja der Wahnsinn!", rief sie, „Warum bin ich nicht mitgekommen,

    ich hätte die mal so gerne aus der Nähe gesehen." Jonas versicherte ihr, dass sie dazu

    in ihrem Leben noch genug Gelegenheit haben würde und legte dann schließlich auf.

    Etwas zu spät fiel ihm ein, dass seine Tante ihn ja dazu nötigen wollte, etwas von

    dem ekligen Salat zu essen, den seine Schwester zubereitet hatte. Aber jetzt war es

    schon zu spät. Er stand wieder neben ihnen am Tisch und würde um eine Portion

    Grünzeug wohl nicht herumkommen.

    „Michelle!" Der Ruf hallte durch die gesamte Wohnung. Doch nichts rührte sich.

    Entnervt machte sich Marie auf den Weg zum Zimmer ihrer kleinen Schwester,

    vorbei an Umzugskartons und halbfertig gepackten Taschen. Als sie eintrat, stach ihr

    der Grund, warum ihre kleine Schwester nicht reagiert hatte, sofort ins Auge. Sie lag

    auf ihrem Bett und hörte Musik, den Ton hatte sie voll aufgedreht. „Michelle!",

    verärgert riss ihr Marie die Kopfhörer aus den Ohren. Den darauf folgenden Protest

    überhörte sie. „Räum dein Geschirr weg.", sagte sie stattdessen in einem Ton, der

    keinen Widerspruch duldete. „Wenn du so weiter machst, stapeln sich deine

    schmutzigen Teller bald in der ganzen Küche!" Murrend stand die Neunjährige auf

    und durchquerte den kleinen Flur mit fünft großen Schritten. Doch ehe sie

    verschwunden war, erschien auch noch Edmund auf der Bildfläche. Mit seinem

    unwiderstehlichen Zahnlückenlächeln grinste ihr kleiner Bruder Marie an. „Kannst

    du mir etwas vorlesen?", fragte er seine Schwester in zuckersüßem Tonfall. Marie

    nickte. Wer konnte da schon nein sagen? Dann sagte sie: „Wenn du nach den Ferien

    in die Schule kommst, kannst du bald schon alleine lesen." Edmund verzog das

    Gesicht. In leicht weinerlichem Tonfall gab er zu: „Ich will gar nicht in die Schule

    kommen. „Warum nicht?, fragte Marie überrascht, „Du hast dich doch schon die

    ganze Zeit darauf gefreut. „Ja, aber..., Edmund verstummte bekümmert. Dann

    meinte er: „Aber wenn ich dann in die Schule komme, müssen wir umziehen. Und

    ich will nicht umziehen. „Aber das ist doch gar nicht schlimm., versuchte Marie

    ihn aufzumuntern, „Du bekommst ein eigenes Zimmer und wir haben viel mehr

    Platz. „Trotzdem., beharrte der Kleine und verschränkte demonstrativ die Arme.

    Marie schüttelte verständnislos den Kopf. Sie war froh, endlich aus dieser mickrigen,

    viel zu kleinen Wohnung zu entkommen. Außerdem würden sie sowieso nur ein

    Stockwerk tiefer, in eine der größeren Wohnungen ziehen, denn Frau Schneider, Leos

    Mutter, hatte es doch tatsächlich geschafft, Maries Mutter einen Job als Sekretärin zu

    besorgen. Zwar war ihre Familie nach wie vor von den Sozialleistungen abhängig, da

    ihre Mutter nur halbtags arbeiten konnte, aber es war immerhin schon wesentlich

    besser als früher, als sie noch jede Woche einem anderen Minijob nachgegangen war

    und nie gewusst hatte, was als Nächstes kommen würde. Marie freute sich. Sowohl

    auf den Tag des Umzugs als auch auf Edmunds Einschulung, denn danach würde sie

    wieder gemeinsam mit Leo in ihre Schule nach Iria fliegen und ihre Freunde Jonas

    und Hedwig wiedersehen.

    Die letzte Ferienwoche verging schneller als erwartet. Es war immer dasselbe; noch

    während man sich fragte, wie man die viele Zeit nutzen sollte, die sich einem nun

    bot, verstrich Minute um Minute, bis man schließlich zu nichts mehr von dem kam,

    was man sich vorgenommen hatte. In Maries Zimmer stapelten sich Bücher und

    Hefte, die Hälfte davon war auf Englisch. Schon tausend mal hatte ihre Mutter sie

    dazu gedrängt, diese Berge von bedruckten Seiten endlich in einem der

    Umzugskartons verschwinden zu lassen, doch Marie hatte sich geweigert. Ihre freie

    Zeit, die sie nicht mit Leo oder ihrer Familie verbrachte, hatte sie dazu aufgewendet,

    zu lesen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Außerdem hatte sie sich gründlich

    Gedanken darum gemacht, welche zweite Fremdsprache sie im kommenden

    Schuljahr wählen würde. Zur Auswahl standen Hebräisch und Griechisch, beides

    Sprachen, von denen sie immer noch nicht wusste, ob sie sie jemals in ihrem Leben

    brauchen würde. Trotz sorgfältiger Überlegungen schwankte sie immer noch

    zwischen beiden hin und her. Am Tag zuvor hatte sie sich mit Leo getroffen und mit

    ihm darüber gesprochen.

    „Wenn ich könnte, würde ich weder Hebräisch noch Griechisch wählen.", murrte

    Leo und zog sich geräuschvoll die Nase hoch, während er versuchte, in seine viel zu

    engen Markenschuhe zu schlüpfen. „Bestimmt lernen wir die Sprachen nicht mal so,

    wie sie heute gesprochen werden, sondern nur in den alten Dialekten, in denen die

    Bibel geschrieben wurde. Und was soll man damit schon anfangen, wenn man kein

    Theologiestudium absolvieren will? Kennst du irgendein Land in Iria, in dem

    Griechisch gesprochen wird?" Gerade wollte Marie ihren Freund unterbrechen und

    ihn darauf hinweisen, dass sich ein Land niemals in einem anderen befinden könne

    und dass Iria bestimmt noch irgendwelche Nachbarländer habe, in denen man

    verschiedene Sprachen gebrauchen könne, als Leo schon fortfuhr. „Und kennst du

    irgendeine Region außerhalb von Griechenland, in der sich die Leute auf Griechisch

    grüßen? Oder willst du etwa Hebräisch wählen, nur um an jüdischen Gottesdiensten

    teilnehmen zu können? Das ist doch total dämlich. Wozu müssen wir den Mist

    überhaupt lernen? „Sei doch froh., konterte Marie, „Immerhin musst du so kein

    Französisch wählen. Leo schnaubte. „Das wäre ja noch schöner. Währenddessen

    folgte Marie ihrem Freund durch die luxuriöse Glastür hindurch in den großen

    Garten, auf dessen penibel gepflegtem Rasen schon seine Freunde warteten, mit

    denen er sich zum Fußballspielen verabredet hatte. Als Marie die Jungen sah,

    verdüsterte sich augenblicklich ihr Gesichtsausdruck. Sie waren allesamt mindestens

    genauso groß wie Leo, der im Sommer einen irren Wachstumsschub gemacht hatte

    und wahrscheinlich alle älter als er. Jeder von ihnen trug Stollenschuhe und das

    Trikot der Fußballmannschaft, in der sie spielten. Marie fühlte sich unwohl. Sie war

    drei Köpfe kleiner als die anderen und dazu kam, dass sie, falls sie überhaupt

    mitspielen würde, wozu ihr soeben alle Motivation schwand, Schwierigkeiten

    bekommen würde, den Ball zu treffen. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie

    Fußball gespielt und das war in Sinistro, einer Nachbarschule von Firaday gewesen

    und zwar anlässlich eines großen Turniers. Jetzt raunte sie Leo leise zu: „Vielleicht

    hätte ich gar nicht kommen sollen. „Ach Quatsch., Leo machte eine wegwerfende

    Handbewegung. „Du bist hier doch sowieso schon halb zu Hause. Du kannst

    kommen und gehen, wann du willst und wenn die Typen damit ein Problem haben,

    werde ich ihnen meine Meinung sagen." Marie schmunzelte. Trotzdem musste sie

    sich ein wenig später Mühe geben, Leos Freunde nicht allzu argwöhnisch zu

    mustern. „Hey!" Ein großer, braunhaariger Junge klopfte Leo auf die Schulter.

    „Lange nicht gesehen. Gut, dass du wieder mal zu Hause vorbeischaust." „Wir

    hatten ja keine Ahnung, wo du die ganze Zeit über warst, bis uns deine Mutter das

    von so einer komischen Schule im Ausland gesteckt hat. Hat sie dich echt dahin

    abgeschoben? Ist ja voll krass.", meinte ein anderer. „Ich wäre froh, wenn ich auf

    ein Internat gehen könnte.", tönte ein blonder Junge mit großen, braunen Augen,

    „Dann müsste ich meine Alten nicht mehr Tag für Tag ertragen." Von allen Seiten

    Zustimmung. Nur Marie rümpfte die Nase. Der Junge neben ihr roch übelst nach

    Schweiß, was bestimmt daran lag, dass er sich bereits aufgewärmt hatte. Die

    durchsichtige Körperflüssigkeit rann ihm in Bächen übers Gesicht. Dann kam, was

    kommen musste. „Und wer ist die da?", einer der Jungen deutete auf Marie. Dann

    verzog er das Gesicht. „Etwa deine Freundin? Also wirklich Leo, da hätte ich mehr

    von dir erwartet. An der ist doch nichts Besonderes." Gelächter brandete auf. Marie

    stand, von einem Fuß auf den anderen tretend, da und überlegte, was sie sagen

    sollte. „Ich bin Marie.", erklärte sie schließlich mit erhobener Stimme und fixierte

    den Jungen, der so blöd gefragt hatte, mit einem vernichtenden Blick. Das schien den

    Riesen zu verwirren, denn er senkte langsam seinen Blick. Davon angespornt setzte

    Marie hinzu: „Und ja, ich bin Leos Freundin, aber nicht so, wie ihr denkt. Ich stehe

    nicht wirklich darauf, mich vor sabbernden Jungs zu positionieren und mich von

    ihnen knutschen zu lassen, wenn ihr das meint." Verächtlich starrte sie vom einem

    zum anderen. Eine äußerst unangenehme Stille breitete sich über die Anwesenden

    aus. Nur Leo schien belustigt. Grinsend schüttelte er den Kopf. „Sie meint das nicht

    so.", versuchte er Maries Verhalten vor seinen Freunden zu rechtfertigen, „Sie ist

    nur ein bisschen...", er suchte nach den richtigen Worten, fand aber keine. Also

    umschrieb er das, was er meinte. „Sie hat einfach einen etwas anderen Sinn für

    Humor. Also passt lieber auf, was ihr sagt, sonst wird es euch todernst genommen."

    Er grinste dümmlich. Für das, was er dann sagte, hätte Marie ihn am liebsten

    kopfüber in eine der Mülltonnen gesteckt, die überall am Straßenrand verteilt

    standen. „Sie hat übrigens schon alle Schullektüren gelesen, die für dieses Jahr auf

    dem Lehrplan stehen. Und sie kennt den Duden auswendig!" Marie spürte, wie die

    Röte in ihren Wangen aufstieg. Nicht aus Scham. Nein, es war ihr total egal, was

    Leos Freunde von ihr dachten, sondern einfach nur aus Wut. Unsanft stieß sie Leo in

    die Seite und zischte: „Träum weiter!" Fast hätte sie sich als Nächstes umgedreht

    und wäre beleidigt nach Hause gegangen, aber da brach auf einmal schallendes

    Gelächter los. Einer der Jungen, der große mit den braunen Haaren, hatte

    angefangen zu lachen und nacheinander stimmten alle anderen mit ein. Marie hielt

    verwirrt inne, bis der Braunhaarige sie grinsend und unter Lachtränen ansah und

    sagte: „Cool, dann braucht Leo sich in der Schule ja nicht mehr anstrengen, wenn

    du neben ihm sitzt. So eine Freundin hätte ich auch gerne." Er grinste. Dann fragte

    er: „Lass mich raten, du kannst kein Fußball spielen, richtig?" Marie schüttelte

    genervt den Kopf. Dann sagte sie: „Wieso, muss man das können? Dem Ball

    hinterherrennen kann ich schon, aber mit dem Treffen ist das so eine Sache. Ich geh

    dann wohl lieber." Sie hatte sich schon umgedreht und ein paar Schritte gemacht, als

    sie plötzlich spürte, wie sie jemand am Arm festhielt. „Wieso denn so eilig?", wieder

    war es der Braunhaarige, der sie ansprach. Insgeheim fragte Marie sich, warum er

    sie nicht einfach in Ruhe lassen konnte. „Spiel doch mit.", gab er schließlich den

    Grund für sein Verhalten preis, woraufhin er einige entgeisterte Blicke von seinen

    Kumpels erntete. Als er sie bemerkte, fragte er provozierend: „Was denn? Lasst sie

    doch mitspielen, das wird bestimmt lustig." Sein kindisches Kichern verriet, dass er

    es ernst meinte. Marie verzog das Gesicht und schaute zu Leo. Der sah sie bittend

    an. „Also schön.", gab sie schließlich nach, woraufhin ihr der Braunhaarige

    grinsend auf die Schulter klopfte. „Gut.", sagte er, „Ich bin übrigens Marco. Letztes

    Jahr haben Leo und ich zusammen im Verein Fußball gespielt. Das war, als er noch

    so groß war wie du."

    Wasser. Die kühle Flüssigkeit rann ihr in Sturzbächen die Kehle hinunter. Sie konnte

    gar nicht genug davon bekommen. Ihr war schrecklich warm und ihre Knie waren

    grün vor Pflanzensaft. Mehrmals war sie über ihre eigenen Füße gestolpert und hatte

    den Rasen geküsst. Sehr zur Freude der Jungen. Doch mittlerweile war sie von allen

    akzeptierte worden. Sie saßen jetzt schwitzend und keuchend neben ihr im Gras und

    stürzten den Inhalt ihrer Wasserflaschen hinunter. Trotz der Erschöpfung war die

    Stimmung ausgelassen. Vor allem Marco schien glänzende Laune zu haben. „Warum

    kannst du eigentlich auf einmal so gut spielen?", fragte er Leo, „Bei dem letzten

    Spiel, an das ich mich erinnere, wurdest du schon nach einer Minute ausgewechselt,

    weil du dich mit der Gegnermannschaft kein bisschen messen konntest. Habt ihr auf

    eurem Internat auch ein Fußballteam?" Leo schüttelte den Kopf. „Wir haben

    Bibelkicker.", erklärte er. Jetzt lagen von einem Moment auf den anderen vier

    verdutzte Blicke auf ihm. „Bibelkicker?", wiederholte der braunäugige Junge mit

    den blonden Haaren, „Was soll das denn bitte sein? Kickt ihr da ein altes Buch vor

    euch her? Seine Kumpels lachten bei dieser Vorstellung. „Nein. Leo seufzte. Dann

    fing er an zu erklären. „Bibelkicker ist so ähnlich wie Fußball, nur ohne Torwart.

    Oder besser gesagt: Der, der am weitesten hinten steht, verteidigt das Tor, ihr wisst

    schon. Die anderen nickten. „Ja und?, fragte einer der Jungen dann ungeduldig,

    „Was hat das jetzt mit der Bibel zu tun? „Warte doch mal ab., beschwerte sich

    Leo, „Ich bin doch noch gar nicht fertig mit Erklären. Jedes mal, wenn ein Tor

    geschossen wird, wird eine Karte mit einer Frage gezogen, die sich nun mal auf die

    Bibel bezieht. Wenn die Mannschaft die Frage beantworten kann, zählt das Tor, wenn

    nicht, dann eben nicht." Leo wartete ab, wie seine Freunde darauf reagieren würden.

    Marco und der Blonde runzelten unwillig die Stirn, während die beiden anderen gar

    keine Reaktion zeigten. „Du immer mit deiner Bibel.", maulte der Blonde

    schließlich, „Ich dachte, das wäre langsam vorbei. Ich hab den

    Konfirmandenunterricht gerade erst hinter mir, jetzt will ich endlich meine Ruhe

    haben von diesem Schwachsinn." Leo verdrehte die Augen. Er hatte keine Lust,

    darüber zu streiten. „Warum fragst du dann?", gab er nur mürrisch zurück. Der

    Blonde zuckte mit den Schultern. Zehn Minuten später machten sie sich bereit für ein

    zweites Spiel. Der Ball flog über die Wiese hinweg und hinterließ hin und wieder

    Abdrücke auf dem ebenmäßigen Rasen, genauso wie die Stollenschuhe, die sich

    erbarmungslos in den Boden bohrten. Irgendwann knallte eine Autotür. Leos Eltern

    waren wiedergekommen. Sein Vater war auf einer Besprechung gewesen und seine

    Mutter beim Frisör. Als Leo sie sah, wie sie sich durch den Garten auf den Weg zum

    Haus machten, rief er ihnen ein kurzes: „Hallo!", zu, das seine Mutter mit einem

    freundlichen Kopfnicken erwiderte. Dann verschwand sie im Haus. Sein Vater

    hingegen kam auf die Jugendlichen zu. Während er ging, hatte er seinen Blick fest

    auf den Boden gerichtet, aus dem das Gras an manchen Stellen herausgerissen

    worden war und wo sich jetzt Löcher aus braunem, schmierigem Erdboden in die

    vorher so glatte Rasenfläche gefressen hatten. Als Leo ihn kommen sah, dachte er

    sich erst nichts dabei. Er spielte einfach weiter und passte Marie gerade den Ball zu,

    die daraufhin versuchte, ihn ungelenkt an Marco weiterzugeben. Da spürte er, wie

    ihn jemand herumriss. Kurz darauf starrte er in die blauen, ernsten Augen von Herrn

    Schneider, dem Chef einer großen Firma, die Autoreifen herstellte. „Was soll das

    hier?", fragte er leise. Leo merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein

    unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. „Was?", fragte er und erwiderte den

    durchdringenden Blick seines Vaters, nichtsahnend, was für ein Problem dieser hatte.

    Eine Sekunde später hielt Leo sich die Ohren zu. Der Mann vor ihm hatte

    unvermittelt angefangen und brüllen und das direkt vor seinem Gesicht. „Bist du

    wahnsinnig?", schrie er, „Ich habe den Rasen erst vor kurzem von unserem Gärtner

    neu bepflanzen lassen und du verschandelst ihn, indem du hier mit deinen Freunden

    Fußball spielst!" Plötzlich hatte sich die ruhige, willensstarke und durchdringe

    Maske des soliden Geschäftsmannes in ein rotes, vor Wut verzerrtes Gesicht

    verwandelt. Sein Vater hatte sich vor seiner Familie nie gut beherrschen können und

    Leo und seine Brüder schon so manches mal zusammengebrüllt. Jetzt packte er

    seinen Sohn am Arm. „Du sagst deinen Freunden jetzt sofort, dass sie nach Hause

    gehen sollen und für den Schaden hier kommst du auf. Weißt du eigentlich, wie teuer

    so etwas ist?" Erst jetzt begriff Leo. Vage erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihm

    vor einigen Tagen stolz von seinem neuen Projekt, der Erneuerung des Rasens,

    berichtet und ihn gebeten hatte, zum Fußballspielen die kleinere Rasenfläche auf der

    Hinterseite des Hauses zu benutzen. Leo war nur mäßig interessiert gewesen und

    hatte deshalb nur mit einem Ohr zugehört, seinem Vater dann aber versprochen, ihm

    das Projekt nicht zu versauen. Und jetzt? Jetzt hatte er es einfach vergessen. Wie

    hatte er nur so dumm gewesen sein können… Hektisch schaute er von seinen

    Freunden, die wie erstarrte dastanden, wieder zu seinem Vater und von ihm aus

    schließlich zu Marie. Er wusste, dass sie die einzige von seinen Freunden war, die

    sein Vater mochte. Und wahrscheinlich war sie auch die Einzige, die er überhaupt

    kannte. Von Leos Fußballfreunden wusste er ja nicht einmal die Namen. Würde

    Marie nicht irgendetwas für ihn gerade biegen können? Oder hatte er durch seine

    dumme Aktion jetzt auch noch ihr Ansehen vor seinem Vater zerstört? Jetzt schaute

    er wieder in das harte Gesicht seines Erzeugers. „Es tut mir Leid.", stammelte er,

    „Ich habe es einfach vergessen. „Ja, ja, vergessen!, tönte sein Vater und bäumte

    sich vor ihm auf, „Ich vergesse mich auch gleich!" Dabei machte er den Eindruck,

    als würde er sich wirklich jeden Augenblick auf seinen Sohn stürzen, was er bis jetzt

    allerdings noch nie getan hatte. Trotzdem hatte Leo keinen Zweifel daran, dass

    genau das heute passieren würde, wenn seine Freunde nicht schnellstmöglich von

    hier verschwänden. Er schluckte. „Tut mir Leid, Leute.", sagte er dann mit belegter

    Stimme, „Ihr müsst jetzt gehen..." In diesem Moment wusste er, dass ein großer Teil

    der lockeren Freundschaft, die er mit einigen von ihnen gepflegt hatte, zerstört war.

    Die vorwurfsvollen, stummen und anklagenden Blicke der Jungen, als sie sich auf

    den Weg nach Hause machten, blieben in seinem Gedächtnis haften. Jetzt war nur

    noch Marie da. „Tut mir wirklich Leid, Herr Schneider.", sagte sie leise, aber nicht

    ängstlich. „Ich sage noch meiner Schwester Bescheid und dann gehe ich, wir müssen

    jetzt sowieso nach Hause." Leo betrachtete Marie, wie sie so dastand, in ihrem rosa

    T-Shirt mit dem schlanken Oberkörper und den schmalen Händen, ihr gegenüber der

    massige, vor Wut rasende Mann. Doch irgendwie schien sein Vater auf Marie

    wesentlich weniger einschüchternd zu wirken als auf ihn, obwohl er, Leo, nur wenige

    Zentimeter kleiner war als der Mann. „Mach das.", brummte Herr Schneider. Immer

    noch war sein Gesicht verfärbt, doch er ließ seine Wut nicht an Marie aus. „Das

    Chaos hier ist ja auch nicht deine Schuld, sondern allein die meines Sohnes." Mit

    einem unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen sah er Leo an. Dann wandte er sich

    ab. Das hinderte seinen Sohn allerdings nicht daran, die letzten Worte noch

    aufzuschnappen. Sie klangen in seinem Herzen nach wie das Geräusch von

    zerberstendem Ton. „Nicht einmal das kriegt er auf die Reihe."

    Marie schüttelte in Erinnerung an den gestrigen Tag den Kopf. Sie mochte Herrn

    Schneider. Sie mochte seine besondere Art, die auf die meisten eher abstoßend

    wirkte, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Trotzdem wusste sie,

    dass Leo darunter litt. Sein Vater hatte oft solche Ausraster. Und zum Schuldigen

    machte er immer den Sohn, der ihm als Erstes über den Weg lief. Meistens war das

    Leo. Hinzu kam, dass er fast immer arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie

    hatte. Seufzend ließ Marie sich auf ihr Bett fallen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie

    auch solche Probleme mit ihrem Vater gehabt hätte, wenn er noch leben würde. Er

    war vor vielen Jahren umgekommen und hatte seine Kinder nicht aufwachsen sehen.

    Aber so war das nun mal. Es klopfte. Marie stieß genervt Luft aus. Dann stand sie auf

    und öffnete die Tür des nunmehr ziemlich kahlen Zimmers. Vor ihr stand ein blondes

    Mädchen in einer teuren Jeans mit Glitzersteinchen und einem bunten, bauchfreiem

    Top. Ihre Haare waren von pinken Strähnen durchzogen und eine Wolke von süßlich

    duftendem, teuren Parfüms umgab sie. Es war Sarah-Annabell, Leos Schwester. Sie

    war genauso alt wie Maries Schwester Michelle und klingelte regelmäßig bei ihnen,

    um mit ihr zu spielen. Wenn Marie ehrlich war, fühlte sie sich in der Gegenwart

    dieses Mädchens etwas unwohl. Leo hatte ihr oft erzählt, wie sie ihn Tag für Tag in

    den Wahnsinn trieb und je öfter Marie beobachtete, wie sie mit ihrer Schwester

    umging, desto mehr hatte sie zugeben müssen, dass das, was Leo der Kleinen

    unterstellte, keineswegs aus der Luft gegriffen war. Herrisch und arrogant hatte er sie

    genannt und noch vieles mehr. „Was ist denn?", fragte Marie und bemühte sich, nicht

    zu abweisend zu klingen. „Michelle hat gesagt, du hast so viele Bücher. Kann ich mir

    die mal angucken?" Es war mehr ein unwillig aufgebrummter Befehl als eine Frage.

    Marie murmelte nur: „Natürlich." Und versuchte dann, so schnell wie möglich zu

    verschwinden. Vorher fiel ihr Blick noch auf die beiden Mädchen. Da wo Sarah-

    Annabell selbstsicher, launisch und kindisch war, war Michelle eher in sich

    zurückgezogen, nachdenklich und manchmal eine Spur zu erwachsen. Hoffentlich

    geht das gut!

    Eine falsche Bestellung

    „Wann muss ich wieder los?" Eljosch Kanidis war es, als säße er auf heißen Kohlen.

    Vor einer halben Stunde erst war er wieder nach Hause gekommen und jetzt stand

    urplötzlich seine persönliche Beraterin und Managerin auf der Matte, um ihn auf den

    nächsten Termin vorzubereiten. Und das nach einer durchwachten Nacht! „In einer

    Stunde findet das Gespräch mit Herrn Borost im Verhandlungssaal statt. Bis dahin

    solltest du alle relevanten Fakten überflogen haben und für einen angeregten

    Austausch gewappnet sein. Und du sollten duschen!" Kristina verzog das Gesicht.

    Sie kannte Eljosch jetzt schon seit Jahren. Eigentlich war sie mehr als nur seine

    engste Vertraute, was die Arbeitsangelegenheiten betraf. Sie ihm zu einer Freundin

    geworden. Und als solche konnte sie sich sogar erlauben, den Präsidenten von Iria

    persönlich von zu Hause abzuholen, um ihn daran zu hindern, einen wichtigen

    Termin in den Sand zu setzen. Er schnaubte. Und während er versuchte, sich seiner

    stinkenden Socken zu entledigen, wetterte er: „Wenn Emanuel noch bei uns wäre,

    wär das alles nicht passiert. Er wüsste, wie man mit so einer Situation umgehen soll."

    Wütend stampfte er auf, wodurch er in die warme Kaffeepfütze trat, die sich soeben

    aufgrund seiner Unachtsamkeit auf den Fußboden ergossen hatte. „Wie konnte er uns

    nur im Stich lassen? Das ist verantwortungslos. Am liebsten würde ich ihn verklagen,

    zur Rechenschaft ziehen und dann..." „Und ihn dann wieder bei jeder wichtigen

    Entscheidung im Land zu Rate ziehen, ich weiß.", Kristina schürzte die Lippen. „Ich

    vermisse ihn auch. Aber das ist keine Ausrede, um nicht zur Arbeit zu gehen. Jetzt

    beeil dich." Eine Dreiviertelstunde später saß der Präsident von Iria im

    Verhandlungssaal und war mit voller Konzentration in die Papiere vertieft, die er

    studierte. Es blieb ihm viel zu wenig Zeit, um sich richtig auf das Gespräch

    vorbereiten zu können. Er war ja schon froh, selbst nicht zu spät gekommen zu sein.

    Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass keine Zeit der Welt ihm

    tatsächlich die Möglichkeit gegeben hätte, sich auf Borost vorzubereiten. So ein

    Mann wie er machte immer nur Ärger. Eljosch räusperte sich. Er war perfekt gestylt,

    jede einzelne Strähne seines langen Haares saß richtig. Und er würde heute, wie an

    jedem anderen Tag auch, wieder erfahren, ernst und durchsetzungsfähig wirken, so,

    wie man es von einem Staatsoberhaupt eben erwartete. Aber in seinem Inneren

    rumorte es. Die Tür sprang auf. Herein kam ein asketisch wirkender, dünner Mann in

    Anzug, dessen elegantes Erscheinungsbild durch seine eisblau gefärbten Haare

    gänzlich ins Lächerliche gezogen wurde. Borost. Es war ihm schleierhaft, wie eine

    Bürgerinitiative so einen zu ihrem Sprecher hatte wählen können. Er kam zehn

    Minuten zu früh. „Guten Tag, Herr Präsident.", sagte er und reichte dem

    Angesprochenen die Hand. Eljosch machte sich nicht die Mühe, von seinen

    Unterlagen aufzublicken. „Sie sind zu früh.", stellte er fest, ohne sich jegliche

    Emotionen anmerken zu lassen. „Ich weiß.", bestätigte Borost, „Ich bin ein bisschen

    früher dran, weil ich sie warnen wollte." Er hatte sich mittlerweile einen Stuhl

    genommen und sich dem Präsidenten direkt gegenüber gesetzt. Seine langen

    Fingernägel ließ er ungeduldig über den Tisch kratzen. Eljosch blickte auf und

    fixierte sein Gegenüber. Ohne mit der Wimper zu zucken. Doch Borost gab sich nicht

    einmal Mühe, dem Blickkontakt standzuhalten. Wahrscheinlich ist er wieder bekifft,

    ärgerte sich Eljosch und zog die Mundwinkel nach unten. „Sie warnen den

    Präsidenten?" Er fand sich gut in seiner Rolle als Autoritätsperson. Sehr gut sogar.

    Hätte er sich selbst gegenüber gesessen, er hätte es mit der Angst zu tun bekommen,

    so kalt und schneidend war sein Ton. Doch Borost war zu unaufmerksam, um dies

    überhaupt wahrzunehmen. Oder aber er hatte Nerven aus Stahl. „Um sie zu warnen,

    ganz Recht." In Borosts Stimme lag Abscheu und er machte keinen Hehl daraus, dass

    er den Präsidenten abgrundtief hasste. „Ich habe mir nämlich Unterstützung

    mitgenommen." Sofort dachte Eljosch an bezahlte Schlägertrupps, die ihm auflauern

    würden, wenn er nicht das machte, was dieser Lackaffe vor ihm von ihm verlangte.

    Die kommen eh nicht an mich dran, dachte er grimmig. „Die Presse ist bei mir."

    Eljosch zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung. „Sie

    haben was?", fragte er, ohne seine Überraschung ganz verbergen zu können. „Unser

    Gespräch hier werden heute Millionen von Menschen mitverfolgen.", eröffnete

    Borost, „Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, oder?" Eljosch holte tief Luft.

    Und ob er etwas dagegen hatte! Er wusste ganz genau, dass es für ihn übel aussehen

    würde, wenn Borost die Reporter in der Hand hielt. Er war ein Meister der

    Täuschung und ganz egal, was er ihm heute antworten würde, es würde zu seinen

    Ungunsten ausgelegt werden. Und selbst wenn Borost die Leute nicht geschmiert

    hatte, die Presse war ein nicht zu zähmendes Tier, das im einen Moment ein

    Regenwurm und im nächsten ein Tiger sein konnte. Außerdem hatte Eljosch die

    letzten 36 Stunden nicht geschlafen und seine Vorbereitung war miserabel gewesen.

    Na super! Pressebesuche musste man anmelden, das, was Borost hier machte, war

    illegal. Gerade wollte er ihm das unter die Nase reiben und die Besprechung absagen,

    als er daran dachte, was für Konsequenzen das haben würde. Also blieb er cool.

    „Natürlich habe ich nichts dagegen.", versicherte er, „Unsere Bürger sollen ja

    schließlich über alles, was in der Politik passiert, Bescheid wissen und mitreden

    dürfen, richtig? „Richtig., Borosts schmieriges Lächeln zeigte ihm, dass er verloren

    hatte.

    Der Qualm nahm ihm fast den Atem. Er versuchte, die Luft anzuhalten und durch die

    grauen, dichten Schwaden davonzurennen. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich

    einfach nicht losreißen, sosehr sein Körper sich auch gegen die Stricke, die ihn

    hielten, aufbäumte. Er war gefangen. Er hörte das Knistern der Flammen, konnte

    aus den Augenwinkeln Feuerzungen hervorschnellen sehen. Dann sah er nur noch

    weiß. Ein blendendes Weiß, genauso schrecklich wie der Schmerz, der ihn durchfuhr.

    Er schrie. Es war grauenvoll. Sein ganzes Dasein war nur noch Schmerz.

    „Suro? Suro! Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. „Ja?, fragte er

    perplex, noch während sein Oberkörper hochschoss, „Was ist denn?" Er blickte in

    das ungeduldige Gesicht seiner Chefin, Professor Ferono. Ihr Blick sagte alles. Er

    war eingeschlafen, hier, im Lehrerzimmer. Wie das nur? Aber die Angelegenheit,

    wegen der Professor Ferono ihn sprechen wollte, schien wichtig zu sein, sodass ihm

    eine peinliche Szene erspart blieb. „Ist der Satz Englischbücher für die neue fünfte

    Klasse endlich geliefert worden? Ich warte schon seit Tagen darauf." Er stöhnte. „Ja,

    kann sein." Ihm war gerade nicht nach nachdenken zumute. Da fiel ihm wie von

    selbst etwas ein. „Doch, warte mal. Ich glaube, da ist ein Paket angekommen, unten

    in der Eingangshalle." Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verschwand Professor

    Ferono. Sie hastete in den großen, mit rotem Teppich ausgekleideten Raum, der nur

    durch die an den Wänden hängenden Fackeln und dem eisernen Kronleuchter erhellt

    wurde, der einige Zentimeter von der Decke baumelte. Das Licht war warm und

    gemütlich. Angestrengt suchten ihre Augen den Fußboden nach einem Paket ab. Und

    fanden es. Dort stand es, direkt in der Mitte. Sie lief darauf zu, stolperte, fing sich

    wieder. Dann nahm sie eine Schere aus der Tasche ihres roten Lehrerumhangs und

    ritzte damit das Klebeband auf, mit dem das Päckchen sorgfältig verschnürt worden

    war. Das gelang ihr nicht sofort. Noch während sie daran herumbastelte, hörte sie,

    wie in einem der beiden Türme eine Tür knallte. Danach vernahm sie, wie Schritte

    die Treppe hinunter polterten. Sie musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, dass

    es ihr Neffe war. „Was ist das? Interessiert kam Jonas auf sie zu. „Englischbücher.,

    antwortete Professor Ferono knapp und hoffte, ihn mit dieser Auskunft in die Flucht

    zu schlagen. Doch weit gefehlt. Stattdessen gab Jonas ein langgezogenes „Aha" Von

    sich und fragte: „Kann ich dir helfen?" Wenig später standen sie beide da und

    versuchten das Paket zu öffnen, während Lisa Frau Igwanodow, der Reinigungskraft

    der Schule, zur Hand ging, um alles für die Rückkehr der anderen Schüler

    vorzubereiten. Nach zehn Minuten hatte Jonas Ungeduld gesiegt und verleitete ihn

    dazu, so sehr an dem Deckel zu ziehen, dass er schließlich mit einem ekligen Ritsch

    aufsprang. Dabei rief er triumphierend „Ha!" Gerade wollte er nachschauen, ob die

    Englischbücher der neuen fünften Klasse genauso hässlich waren wie seine eigenen,

    als ihn ein Geräusch stutzig machte. In dem Karton knisterte und raschelte es. Es war

    ein Geräusch, als würden abertausende Blätter aneinander gerieben werden. Dann sah

    er verdutzt zu, wie aus dem offenen Karton plötzlich ein Schwarm kleiner, blauer

    Terminkalender herausflog. Zuerst hielt er sie für Drohnen, doch dann musste er

    schreckensbleich feststellen, dass es sich tatsächlich um kleine Papierheftchen mit

    silbernen Flügelchen handelten, die sich innerhalb weniger Sekunden im ganzen

    Raum ausgebreitet hatten und ihn mit ihrem unverwechselbarem Rascheln erfüllten.

    „Tolle Englischbücher. Warum hatten wir so welche nicht?" Kopfschüttelnd musterte

    er seine Tante, die mit offenem Mund versuchte, die kleinen fliegenden Dinger

    wieder einzufangen. „Aber… das hatte ich doch gar nicht bestellt!" Doch für Reue

    war es jetzt zu spät. Schon ließ sich ein kleiner Terminkalender auf ihrer Schulter

    nieder. „Guten Tag.", die Stimme war sanft und hoch, „Der Terminkalender ist stets

    zu Ihren Diensten. „Können die sprechen? Jonas kam aus dem Staunen gar nicht

    mehr heraus, während er die kleinen Flugkörper fasziniert anstarrte. „Was ist denn

    hier los?" Gerade war Lisa in die Halle gekommen und konnte über das Chaos, das

    sich da vor ihr erstreckte, nur entgeistert den Kopf schütteln. „Wer hat hier gerade

    geredet? Jonas, warst du das? „Nein… das war der Terminkalender! Und schon

    ließ sich ein weiteres kleines Flugobjekt auch auf Lisas Schulter nieder und sprach

    sie mit derselben Formel an wie zuvor Professor Ferono. Lisa konnte ihren Augen

    nicht trauen. „Was soll denn das?", fragte sie perplex, „Kommen wir so oft zu spät,

    dass du eine Armee von Terminkalendern auf deine Schüler loslassen musst?" „Das

    muss ein Missverständnis sein!" Verzweifelt warf Professor Ferono die Arme in die

    Luft. „Die Lieferung ging bestimmt an jemand anderen!" „Viel Spaß beim

    Zurückschicken. Die fängst du nie mehr ein.", sagte Lisa trocken und verließ

    kopfschüttelnd den Raum.

    Er hatte alles bestens vorbereitet. In seiner rechten Hand hielt er eine Taschenlampe

    und in seiner linken ein Karte. Nur für den Fall, dass er sich entgegen seiner

    Erwartungen verlaufen sollte. Aber das würde nicht passieren. Er kannte diesen Wald

    in- und auswendig. Auch über seine Bewohner hatte er genug Informationen

    gesammelt, um ihnen endlich einmal selbst begegnen zu können. Das würde die

    Forschung in diesem Land immens vorantreiben. Und er wäre derjenige, dem man es

    zu verdanken hätte. Selbstsicher strich Tilo sich eine lockere Haarsträhne aus der

    Stirn. Einer seiner potenziellen Kunden hatte dafür gekämpft, ihn mit einem Team

    erfahrener Jäger auf seiner Mission unterstützen zu dürfen. Als ob er das nicht selbst

    schaffen würde. Und außerdem: die Gierungen hatten noch nie einen Menschen

    angefallen. An sich waren sie harmlose Tiere, hatten aber Eigenschaften, die man

    sich in manchen Bereichen würde zunutze machen können. Aber vorher musste man

    sie gründlich beobachten und dann einen Plan ausarbeiten, wie man sie am besten

    einfangen konnte. Jetzt war er am Waldrand angekommen. Bedrohlich ragten die

    finsteren Wipfel der Bäume gen Himmel. Dieser Anblick machte ihm jedes Mal aufs

    Neue zu schaffen, auch wenn er das nur ungern zugab. Doch jetzt blieb keine Zeit für

    lächerliche Schauermärchen. Er knipste seine Taschenlampe an, deren Licht gegen

    das der vom Himmel lachenden Sommersonne ein Witz war und machte einen

    beherzten Schritt in den Wald hinein. Noch ehe er sich versah, wurde es vollkommen

    dunkel. Trotz des Lichts der Taschenlampe brauchte er einen Moment, bis sich seine

    Augen an die Finsternis gewöhnten. Die Luft war feucht und schwül. Schon nach

    wenigen Sekunden klebten ihm seine Outdoorklamotten wie maßgeschneidertes

    Leder an der Haut. Er atmete tief durch. Das war also sein Wald. Langsam und

    bedächtig ließ er den Leuchtkegel der Taschenlampe durch die Umgebung wandern.

    Überall standen Bäume mit schwarzen Stämmen und auf dem Boden lag kein

    einziger abgebrochener Ast. Stattdessen war ihm, als ginge eine Art Wasserdampf

    von dem Untergrund aus, der ihm die Sicht erschwerte und das Licht, das er durch

    die Taschenlampe erhielt, beinahe nutzlos machte. Er stieß einen leisen Fluch aus.

    Wie sollte er die Tiere bei diesen Lichtverhältnissen beobachten? Langsam tastete er

    sich voran. Es war ein komisches Gefühl. Zum ersten mal in seinem Leben konnte er

    sehen, wohin er in lief. Oder: viel eher meinte er, sehen zu können, wohin er lief. Bis

    jetzt hatte er sich immer im Stockdustern durch den Wald getastet und war jedes Mal

    an sein Ziel gekommen. Doch jetzt war es anders. Der Schein der Taschenlampe, so

    nutzlos er auch sein mochte, verlieh ihm ungeahnte Sicherheit. Er ging schneller.

    Bald würde er am Ziel sein. Er hoffte, dass er sie finden würde. Anderenfalls musste

    er dem Wald noch weitere Besuche abstatten, bis er sie endlich fand. Er dachte an

    Jemina. Sie würde ganz verrückt sein vor Stolz auf ihn, der zu ihrem Wohl die

    schlimmsten Gefahren auf sich nahm und die Gierungen zähmen würde. Er ging

    weiter. Immer weiter und weiter. Er wunderte sich. So schnell wie er ging, müsste er

    den Wald eigentlich schon längst durchquert haben und am andern Ende wieder

    herauskommen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass seine tiefe, schwere

    Dunkelheit plötzlich vom Tageslicht durchflutet werden würde und den Blick auf das

    steinerne Schloss am anderen Ende freigeben würde, in dem er zur Schule gegangen

    war. Firaday. Die meisten Erinnerungen, die er mit seiner Zeit dort verband, waren

    gut. Er lächelte innerlich. Was würde wohl der alte Professor Hermann sagen, wenn

    er erfuhr, dass es einem seiner ehemaligen Schüler gelungen war, eine der wohl

    seltsamsten Geschöpfe ganz Irias zu fangen, zu erforschen und für die Zwecke der

    Menschen nutzbar zu machen? Ob er überhaupt noch unterrichtete? Tilo wollte, dass

    es so war. Langsam, ganz langsam stieg ein Gefühl der Ungeduld in ihm auf.

    Vermischt mit einer kleinen Prise Unbehagen. Um sich abzulenken, fing er leise an

    zu pfeifen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, zu welchem Lied die Melodie

    gehörte, aber er mochte sie. Da war es ihm plötzlich, als habe er in seiner Nähe einen

    Schatten gesehen. Er hörte auf zu pfeifen, hielt inne und lauschte. Doch da war

    nichts. Absolut nichts. Nur nach wie vor die charakteristische Stille. Wenn es doch

    nur auch bei ihm zu Hause so ruhig wäre! Nichtsahnend ging er weiter. Bis er

    plötzlich meinte, Geräusche zu hören. Er konnte sie beim besten Willen nicht genauer

    definieren. Manchmal dachte er, es sei ein Schmatzen, dann wieder ein Schreien oder

    ein Grunzen. Und jetzt ein langgezogener, wehklagender Laut. Wie der eines

    verwundeten Tieres. Tilo hielt die Luft an. Langsam wurde es ihm hier zu

    ungemütlich. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte doch auf

    den Kunden gehört und wäre nicht alleine hierher gekommen. Jetzt war ihm alles

    egal. Er wollte hier nur noch raus. Die Mission konnte auch bis morgen warten. Er

    fing an zu rennen. Verfolgt von den merkwürdigen Geräuschen und unheimlichen

    Schatten. Er war schon eine geraume Zeit lang umhergeirrt, als er endlich erkannte,

    dass es keinen Zweck hatte. Keuchend und schwitzend blieb er stehen und spitzte die

    Ohren. Er hörte nichts mehr. Alles war ruhig und auch die Schatten waren

    verschwunden. Ob er sich das vielleicht alles nur eingebildet

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