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Boat People
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eBook254 Seiten3 Stunden

Boat People

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Über dieses E-Book

ENGLAND IN NOT: Während in London eine EU-Konferenz zur Eindämmung der Migration stattfindet, gerät der Tower in eine gefährliche Schieflage. Der Legende nach bedeutet das den Untergang Englands. Die Queen ist in großer Sorge: Wer soll ihr in dieser ausweglosen Situation auf den Thron folgen?
FLÜCHTLINGE IN NOT: An der Küste Westafrikas machen sich Bootsflüchtlinge auf den gefährlichen Weg zu den Kanarischen Inseln, dem südlichsten Vorposten der Europäischen Union.
URLAUBER IN NOT: Sie kommen aus Europa, haben ein Luxushotel auf Gran Canaria gebucht und finden sich unversehens in einem schäbigen afrikanischen Flüchtlingsboot wieder.
WER RETTET WEN? Das erfährt man erst am Ende einer unglaublichen, märchenhaften und bisweilen atemberaubenden Geschichte von Menschen unterschiedlichster Herkunft, deren Wege sich unerwartet gekreuzt haben. Danach ist nichts mehr, wie es einmal war.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum27. Nov. 2015
ISBN9783737577045
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    Buchvorschau

    Boat People - Roland Künzel

    Roland Künzel

    Boat People

    Roman

    Roland Künzel, Jahrgang 1951, lebt in Berlin.

    weitere Veröffentlichungen:

    a) bei epubli:

    Die Liebe in der Zeit des Mauerfalls, Roman, 2014,

    ISBN 978-3-7375-1079-0

    Blaue Reiter vor Verdun, Roman, 2015,

    ISBN 978-3-7375-2773-6

    b) sonstige:

    Florian verschwindet im Computer, Bilderbuch für

    Kinder und Jugendliche mit Illustrationen von Margit

    Lessing, 2009, ISBN 978-3-86634-839-4

    Gregors Erbsen ein bebildertes Buch über die

    Entdeckungen des Augustinermönchs Gregor Mendel

    mit Illustrationen von Margit Lessing, 2010,

    ISBN 978-3-86634-930-8

    Copyright © 2015 Roland Künzel

    Verlag: epubli GmbH, Berlin; www.epubli.de

    ISBN: 978-3-7375-7704-5

    1.

    Über dem Buckingham-Palast wölbte sich ein blauer Himmel, wie ihn London schon lange nicht mehr gesehen hatte. Aber das war nur einer der Gründe, warum John Hopkins oft an diesen Tag zurückdenken musste. Die anderen erfuhr er erst später.

    „Dagegen verblasst sogar das Blau deiner Uniform, sagte Jane spöttisch und hakte sich bei ihrem Mann unter. „Ach John, endlich Frühling! Wie schön, dass ... 

    Eine Kinderstimme unterbrach sie.

    „Da ist Europa! Und das ist der Union Jack!, rief Michael, ihr sechsjähriger Sohn, aufgeregt. Stolz zeigte er mit dem Finger auf die beiden Fahnen, die er in dem großen Flaggenmeer vor dem Buckingham-Palast entdeckt hatte. Verlegen fügte er hinzu: „Die anderen kenne ich gar nicht... Papa, von welchen Ländern sind die?

    John Hopkins straffte sich unwillkürlich, so dass seine Marine-Uniform über der Brust ein wenig spannte. Michael hatte ihm eine Frage gestellt, die mit den Symbolen fremder Nationen zu tun hatte und damit, ohne es zu ahnen, den Rahmen eines privaten Vater-Sohn-Gesprächs verlassen. Plötzlich standen dienstliche Belange im Raum. John ging in die Hocke und führte den rechten Arm des Jungen wie einen Zeigestock:

     „Also... vorne links Spanien... daneben die Tricolore – und schwarz-rot-gold... Deutschland... dann Italien... als nächstes Tunesien.."

    Jane unterbrach : „Stimmt nicht, Libyen!"

    „Peinlich, sagte John. „Aber bei den vielen Streifen, Halbmonden und Sternen blicke ich noch nicht durch.

    Michael störte es nicht. „Weiter!" rief er ungeduldig.

    Und während seine Eltern bereitwillig, wie es sich für Eltern eines Einzelkindes gehört, exotische Namen wie Guinea-Bissau, Gambia, Marokko, Mali, Kapverden, Algerien und mehr aufsagten, fuhren dunkle Limousinen eben dieser Länder durch das schwer bewachte Tor des Buckingham-Palasts. Sie hielten vor einem palmengeschmückten Portal, und man konnte sehen, wie festlich gekleidete Menschen ausstiegen und das Gebäude über einen roten Teppich betraten.

    „Was machen denn die vielen Leute hier?" fragte Michael.

    Jane tätschelte seinen Kopf.

    „Das haben wir dir doch schon einmal erklärt, sagte sie geduldig. „Heute wird ein wichtiger Vertrag geschlossen. Zwischen Europa und Afrika. Es wird sich dadurch vieles ändern. Für uns und vor allem für Papa!

    Michael sah zu seinem Vater hoch: „Gehst du deswegen nach Afrika?"

    „Ja, antwortete John. „Aber nur für zwei Jahre. Und zwischendurch habe ich immer wieder Urlaub. Dann komme ich nach Hause und bringe dir etwas Schönes mit. Versprochen ist versprochen!

    „Psst!", sagte Jane und legte den Finger auf den Mund.

    Auf einer Video-Leinwand, die man für die Schaulustigen aufgebaut hatte, erschien das Gesicht eines Reporters. Er deutete kurz auf den großen Festsaal, vor dessen Eingang er stand, und begann mit seinem Bericht:

    „Inzwischen sind alle Staatschefs Europas und Nordafrikas eingetroffen. Ein farbenprächtiges Bild, vor allem bei den afrikanischen Staatsoberhäuptern in ihren traditionellen Gewändern. So festlich und so international ist es im Buckingham-Palast noch nie zugegangen. Es wird hier als großzügige Geste der Queen gewürdigt, dass sie entgegen sonstiger Gepflogenheit den königlichen Palast für die heutige Vertrags-Unterzeichnung zur Verfügung gestellt hat. Die britische Krone möchte damit ihre Unterstützung der europäisch-afrikanischen Übereinkunft ausdrücken, die ja in letzter Konsequenz auch das Commonwealth betrifft. In etwa einer halben Stunde wird die Queen hier ein Grußwort zu den Delegierten sprechen. Momentan ist sie noch im Tower, um sich persönlich ein Bild von den Rissen im Mauerwerk des Weißen Turms zu machen, die möglicherweise durch eine Grundwasserabsenkung entstanden sind. Außerdem wird sie sich dort über den besorgniserregenden Gesundheitszustand des Raben Branwine informieren."

    Der Reporter grinste, räusperte sich und fuhr fort:

    „Alle Zuschauer, die sich jetzt wundern, haben wahrscheinlich noch nie von der Legende gehört, dass die britische Monarchie untergeht, wenn der Weiße Turm einstürzt und die sechs Tower-Raben verschwinden. Um das zu verhindern, hat man ihnen die Flügel gestutzt. Doch was ist, wenn sie den Tower alle vorzeitig tot verlassen? Und der Weiße Turm schon vorher Risse zeigt? Davon ist in der Legende nicht die Rede; aber gerade weil soviel unklar ist, macht man sich in London und natürlich vor allem im Königshaus große Sorgen. Soviel, verehrte Zuschauer, zur Situation im Tower, die viele Briten mehr bewegt als die heutige Vertragsunterzeichnung.

    Hier im Festsaal des Buckingham-Palasts tritt jetzt der Präsident der europäischen Kommission ans Rednerpult."

    An dieser Stelle brach die Reportage ab, weil nun die Rede des Präsidenten übertragen werden sollte. Kaum hatte dieser jedoch das Wort ergriffen, begann das Videobild zu flackern und der Ton setzte abwechselnd aus und ein. So waren nur Rede-Fetzen zu hören.

    „Das fängt ja gut an!" meinte John kopfschüttelnd.

    Als der Ton nach einiger Zeit wiederkam, sagte der Präsident: „...treten ein in eine neue Phase der Kooperation, die dem beiderseitigen Vorteil dient. Unsere afrikanischen Freunde stoppen die Flüchtlingsströme, die in den letzten Jahren die Beziehungen belastet haben, und nehmen Flüchtlinge, die bereits hier sind, wieder zurück.... ropäer wissen, dass der massenhafte Exodus von Menschen nur durch Verbesserung der Lebensverhältnisse vor Ort.... fühlen uns in der Pflicht und reichen die Hand zu einer gemeinsamen Offensive.... Bildung, Landwirtschaft, Straßenbau, Krankenhäuser, Grenzsich.... Europa wird sich an seine Zusagen halten, aber nur, und ich muss das in aller Deutlichkeit betonen, wenn auch unsere Partner, mit unserer Unterstützung selbstverständlich, das Ihrige...."

    DAS IHRIGE blieb im Raum stehen, denn nun setzten Bild und Ton gemeinsam aus und kamen nicht wieder.

    „Wie schön, dass es noch die gute alte Zeitung gibt", seufzte John, und zog die TIMES aus seiner Jackentasche. „Hier steht es schwarz auf weiß: Die Afrikaner müssen ihre Flüchtlinge nicht nur zurücknehmen, sondern auch zurückhalten. Europäische Kommissare haben das Recht, Häfen und Küstenabschnitte zu kontrollieren. Und wenn trotzdem Flüchtlinge europäischen Boden erreichen und Asyl beantragen, dann müssen ihre Heimatländer erst mal erklären, warum die Leute überhaupt herausgekommen sind. Und wenn sie das nicht können, gibt’s Ärger! John lachte und fügte hinzu: „Dann gibt es zur Strafe keine neue Yacht für den Diktator!

    „Jetzt lies uns um Himmels Willen nicht die ganze Zeitung vor, sagte Jane. „Der Junge versteht die Einzelheiten noch gar nicht!

    „Doch!, protestierte Michael: „Jetzt dürfen keine Afrikaner mehr auf Opas Apfelplantage arbeiten. Stimmt’s?

    Jane lächelte: „Wahrscheinlich nicht. Und Papa passt als Hafen-Kommissar auf, dass sie sich erst gar nicht mehr auf den Weg machen."

    „Und wer soll dann ernten?" fragte Michael mit dem Ernst eines Sechsjährigen.

    „Du!" sagte John und nahm seinen Sohn auf die Schultern. Er kreischte.

    „Du spinnst, Papa. Guck mal, da hinten gibt’s Eis!"

    „Du musst uns lotsen! Ich sehe nichts!"

    „Ein Stück nach links... An dem Polizeiauto vorbei..." Michael kommandierte präzise und klar. Schließlich wollte er das Gleiche werden wie sein Vater: Offizier der königlichen Marine. Und schon war  der Eisstand inmitten des Gedränges erreicht. John bestellte im Auftrag seines Sohnes je eine Kugel Schoko, Erdbeere und Pistazie. Der schwarze Eisverkäufer füllte eine Waffel mit den drei Kugeln und drückte sie Michael in die Hand.

    „Hier, mein Junge. Lass es dir schmecken!" 

    Dann wandte er sich an Hopkins: „Ein Pfund zwanzig, Sir!"

    Nachdem John bezahlt hatte, wurde ihm zu seiner Überraschung gleich zweimal gedankt: Sein Sohn sagte Danke, Papa  und der afrikanische Eisverkäufer Danke, Sir.

    2.

    Auf dem breiten Futon-Bett eines geräumigen Lofts stapelten sich Krimis und Khaki-Shorts, Sandalen und Sonnencreme sowie etliche andere Utensilien, die man in südlichen Gefilden benötigt. Magnus Böhmer, ein blonder, atletisch gebauter Junggeselle Mitte dreißig, packte seinen Koffer für die schönste Zeit des Jahres. Zum Schluss vergaß er nicht, eine große Packung Kondome in der Innentasche zu verstauen. Er wollte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Kaum war der Koffer zu, klingelte das Telefon. Magnus zögerte, ließ es ein paar Mal klingeln, und griff dann doch zum Hörer.

    „Hier Magnus Böhmer. Ich habe aber nur ganz ganz wenig Zeit!"

    „Das ist aber schade", sagte Bert am anderen Ende der Leitung.

    „Ach, du bist’s, Bert. Wo brennt’s denn?"

    „Herr Schröder von der SüdBau hat noch einmal wegen der Hypothekenkonditionen angerufen. Und da ich dich deswegen auf Teneriffa nicht stören will, störe ich dich eben jetzt! Immerhin geht es um einige Millionen!"

    „Das ist lieb von dir, Bert. Wie gut, dass ich noch nicht auf dem Golfplatz stehe. Weißt du was? Sag’ ihm, dass ich noch nullkommazwei Punkte runtergehen kann. Dann ist Ende der Fahnenstange. Und wenn ihm das immer noch nicht passt, dann kann er mich mal! Okay?"

    Aus dem Hörer kam Berts Lachen: „Ich stell’ mir vor, wie du ihm das ins Gesicht sagst, diesem Schlitzohr."

    „Lust hätte ich dazu bei solchen Kunden! Aber jetzt kann ich mir den Ärger erst einmal wegmassieren lassen... von zarten Masseusen hoffentlich... und im Dampfbad allen Stress ausschwitzen.... Apropos Stress – Magnus schaute auf seine Uhr – „In genau sieben Stunden geht mein Flieger! Hoffentlich verschlafe ich nicht! Tschüss, und halte die Stellung!

    „Mach’ ich, Magnus. Erhol’ dich gut! Und denk’ dran: Frauen können sehr anstrengend sein! Bis bald!"

    Magnus legte auf, goss sich einen Single Malt aus der gut sortierten Hausbar ein und stellte sich ans Fenster. Von weitem grüßte die Reichstagskuppel. Sogar aus der Ferne sah man ihre Besucher, die sich ameisengleich auf festgelegten Straßen nach oben und nach unten bewegten. In den Glasscheiben glitzerte die Abendsonne.

    Magnus nahm einen bunten Reisekatalog zur Hand und blätterte, bis er die Seite mit dem Fünf-Sterne-Hotel auf Teneriffa gefunden hatte. Seinem Hotel. Dort schien die Sonne tausend Mal verlockender als über der Silhouette von Reichstag und Alexanderplatz.

    Besorgt schaute er auf die Uhr.

    Bis zum Abflug waren es jetzt nur noch sechs Stunden und sechsundfünfzig Minuten.

    Bevor Magnus ins Bett ging, stellte er sich zwei Wecker. Sie sollten im Abstand von fünf  Minuten klingeln. Für die wichtigsten Wochen des Jahres wollte er auf Nummer Sicher gehen.

    3.

    Justine war zweiundzwanzig und schlief fest. Ihr Mund war dabei leicht geöffnet und bewegte sich bei jedem Atemzug fast unmerklich. Das Kupferrot ihrer Lippen stand in reizvollem Kontrast zur Farbe ihrer Haut, die an dunkle Bronze erinnerte. Die gerade Nase über dem schön geschwungenen Mund verlieh dem Gesicht etwas Geheimnisvolles, Majestätisches. Kleopatra, hätte vielleicht einer ihrer Mitfahrer gedacht, wenn er denn je von der sagenumwobenen ägyptischen Königin gehört hätte. Zum Schutz vor Staub, Sonne und neugierigen Blicken verbarg Justine ihre langen Rastalocken unter einem bunt gemusterten Tuch.  Sie befand sich auf der Ladefläche eines klapprigen alten Lastwagens und war dort nicht allein. Dicht gedrängt saßen dreiundzwanzig dunkelhäutige Menschen zwischen prall gefüllten Erdnuss-Säcken, dösten vor sich hin und ließen sich auch nicht stören, wenn ihr Gefährt ächzend  ein ausgetrocknetes Flussbett oder ein Geröllfeld durchquerte. Links von Justine hockte ihr Bruder Robert Bumako und rechts ihr Bruder Pierre, der von seiner Frau Pauline und ihrem Sohn Joseph begleitet wurde. Joseph war für seine acht Jahre recht klein und wie ein Baby in den Armen seiner Mutter eingeschlafen.

    Im Traum zog das Leben an Justine vorbei, das sie nun zu verlassen hoffte: Die niedrigen Hütten ihres Dorfes, die schlecht bezahlte Arbeit auf Alberts Erdnuss- und Baumwollfeldern, das Hirsestampfen und Matten-Flechten; aber auch schöne Erinnerungen an die Missionsschule, in der sie nicht nur Englisch und Französisch gelernt, sondern auch viele Geschichten von einem verlockenden Kontinent namens Europa gehört hatte. Dort sollte es wunderschöne Schlösser an einem Fluss namens Loire geben und in Paris einen Turm, der fast bis zum Himmel reichte, und elegante Autos, in denen man nicht durchgeschüttelt wurde wie in Youssefs schrottreifem Vehikel.

    Sie erwachte unsanft.

    Youssef hatte gebremst und den Lastwagen inmitten einer großen Staubwolke zum Halten gebracht. Justine rieb sich den Schlaf und den Staub aus den Augen. Die Sonne stand schon tief. Youssef erschien an der Ladefläche und rief laut:

     „Heh, aufwachen, wir sind da!"

    Ungläubig musterten die Passagiere ihre Umgebung. Sie standen mitten in der Halbwüste. Am Horizont aber sah man die Silhouette einer Stadt und dahinter als schmalen blauen Streifen das Meer.

    Robert erhob sich und deutete auf die Stadt, die wie eine Fata Morgana anmutete. Wütend schaute er Youssef ins Gesicht.

     „Das nennst du ‚da’ ? Das sind noch mindestens zwei Stunden Fußweg! Du wolltest uns am Stadtrand absetzen. So war es ausgemacht! Und nicht hier in der Einöde!"

    Youssef schüttelte den Kopf, um den er ein gemustertes Tuch geschlungen hatte.

    „Die Kontrollen vor der Stadt werden immer schärfer. Ich will wegen euch keinen Ärger bekommen, verstanden? Seid froh, dass ich euch überhaupt mitgenommen habe! Sonst wärt ihr bis zur Küste nicht nur zwei Tage, sondern zwei Monate unterwegs gewesen!" Er zeigte auf eine Gruppe zerlumpter Menschen, die abseits des Weges rasteten. „Wie diese hier vielleicht!"

    Robert ließ sich nicht einschüchtern:

     „Wir haben dich immerhin dafür bezahlt! Und das nicht schlecht!"

    Youssef machte eine abwehrende Handbewegung.

     „Bezahlt, bezahlt! Mein Risiko könnt ihr gar nicht bezahlen! Wenn die Polizei mitkriegt, dass ich nicht nur Erdnüsse, sondern auch Flüchtlinge zur Küste transportiere, bin ich meine Karre los! Die lauern doch nur darauf, den Europäern einen Dienst zu erweisen! Und das bestimmt nicht für umsonst! Also runter, sonst gibt’s Ärger!"

    Als hätte er auf dieses Stichwort gewartet, stieg Youssefs Beifahrer Ibrahim aus der Kabine. Er hatte den Zeigefinger durch den Bügel seiner Pistole gesteckt und ließ sie wie einen Hula-Hoop-Reifen um den Finger kreisen. Diese Botschaft kam bei den Passagieren an.

    „Auf geht’s", sagte Justine seufzend zu ihrer Schwägerin.

    „Besser hier aussteigen als mitten in der Wüste! Oder bei der nächsten Polizeistation!"

    Es dauerte nicht lange, bis die dreiundzwanzig Menschen die Ladefläche verlassen hatten. Keiner führte ein größeres Gepäckstück mit sich. Joseph drückte die Hand seiner Mutter ganz fest.

    „Und jetzt?" fragte Robert.

    Youssef zündete sich eine Zigarette an und deutete auf die staubige Piste, die sich irgendwo vor der Stadt Nouakar im Dunst verlor.

    „Immer schön abseits der Straße laufen! Von wegen der Kontrollen. Die Stadt lasst ihr links liegen. Dann kommt ihr bald zu dem alten Phosphat-Hafen, der schon seit Jahren nicht mehr genutzt wird. Dort sitzen ein paar Männer an einem Feuer. Und die sagen euch, wie es weiter geht. Viel Glück!"

    Youssef drehte sich um und stieg wieder ein. Ibrahim sicherte pistolenwedelnd den Rückzug, bis der Motor stotternd und stinkend ansprang. Auf der Ladefläche lagen jetzt nur noch pralle Säcke mit den Erdnüssen von Alberts Feldern. Jetzt konnten die Kontrollen kommen! Während Youssef der untergehenden Sonne hinterherfuhr, verschwanden seine ehemaligen Mitfahrer in einer riesigen Staubwolke.

    4.

    Im Flugzeug eröffneten sich für Magnus die Perspektiven, von denen er nachts zuvor geträumt hatte: Wenn er den Kopf nach links drehte und aus dem Fenster schaute, sah er nicht mehr die Reichstagskuppel, sondern den wolkenlosen Himmel über dem spanischen Festland, das wie ein Spielzeugteppich in der Tiefe lag. Auf dem Klapptisch  vor ihm stand eine Dose kaltes Bier. Und zu seiner Rechten saß eine junge attraktive Frau in einem aufregenden Sommerkleid, die endlich ihre Ohrhörer ausgestöpselt hatte und damit, so hoffte Magnus, zum kommunikativen Teil des Fluges übergehen würde. Noch sagte sie nichts, sondern blätterte in einem bunten Reiseprospekt, der ihrem Sitznachbarn sehr bekannt vorkam. Magnus schaute eine Weile zu, bevor er nachdenklich sagte:

    „Wenn man den bunten Bildern nur trauen könnte... Leider zeigen sie nie die Baustelle nebenan und auch nicht die Quallen am Strand!"

    Die Frau blickte ihn aufmerksam an. Ende zwanzig, schätzte Magnus, und der blonde Pferdeschwanz stand ihr sehr gut.

    „Sie haben wohl schon schlechte Erfahrungen gemacht?"

    Magnus nickte gequält.

    „In der Tat. Einmal, in der Karibik, da gab es das Hotel noch gar nicht. Offenbar glaubte nur der Reiseveranstalter an seine Existenz. Und letztes Jahr auf Mallorca war dort, wo angeblich der Strand sein sollte, ein riesiger Haufen Tang und Seegras. Der Hotelier erklärte sich für nicht zuständig. Niemand erklärte sich für zuständig! Mal sehen, was uns auf Teneriffa erwartet!"

    Magnus machte eine kurze Pause und fuhr sich mit der Hand verlegen durchs Haar. „Pardon... Ich schaue einfach in Ihre Lektüre... und quatsche Sie von der Seite an, ohne mich vorzustellen... wie dreist... also: Ich heiße Magnus Böhmer."

    „Und ich bin Monika Petzold."

    „Schön, Sie kennen zu lernen. Bitte verzeihen Sie meine Neugier – aber Sie haben gerade die Seite mit meinem Hotel aufgeschlagen!"

    Ein Lächeln. „Ich verzeihe. Welches ist es denn?"

    Magnus deutete auf die rechte Seite: „Hier. Hotel Princess Garden."

    Donnerwetter!, sagte Monika amüsiert. „Fünf Sterne! Sie gehen wohl gleich in die Vollen?"

    Bescheiden winkte Magnus ab. „Ach, darum geht es mir gar nicht. Aber das Wellness-Angebot ist erstklassig: Dampfbäder, Massagen, Eistempel, Fitnessräume... Und wo logieren Sie?"

    Monika lächelte. „In Vilaflor. Ein kleines Hotel in den Bergen. Nicht so fürnehm wie Ihres. Mein Wellness-Programm heißt Wandern. Zumindest in der ersten Woche. Danach geht’s mit einer Yacht nach Gran Canaria. Dort treffe ich mich mit einer Kollegin zum Golfen."

    „Golfen? Ich will ja nicht aufdringlich sein... Aber es ist möglich, dass wir uns dort wieder über den Weg laufen... Ich mache nämlich dasselbe wie Sie... bis auf das Treffen mit der Kollegin."

    „Hotel Royal Palace?"

    „Hotel Royal Palace."

    „Und jetzt sagen Sie bloß noch, dass Sie auch das Piraten-Dinner gebucht haben?"

    „Habe ich. Ganz schön teuer, nicht wahr?  Aber so wird die zweite Urlaubshälfte wenigstens stilvoll eingeleitet... Ein Tag auf hoher See... Ankern in einer einsamen Bucht... Und dann ein romantisches Dinner am Strand, bevor wir ins Hotel verfrachtet werden. Schon toll, was sich die Tourismus-Industrie für uns einfallen lässt...!"

     „... sofern wir das nötige Kleingeld haben!"

    „Bei Ihnen ist es unübersehbar", sagte Magnus grinsend und taxierte den Schmuck seiner Nachbarin: Goldene Armreifen, Ringe, eine wunderschöne Perlenkette und last not least eine Brosche mit einem großen Diamanten.

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