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Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte
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eBook431 Seiten5 Stunden

Qualifiziert und ausgemustert: Wie ich die DHfK erlebte

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Über dieses E-Book

Der Autor, 1935 in Schlesien geboren, nach dem Krieg in ein Dorf im Kreis Nordhausen (Thüringen) umgesiedelt, erlernte zunächst den Tischlerberuf, bevor er sich seinen Traum erfüllte und über die Arbeiter- und Bauern-Fakultät (ABF) den Weg zum Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) fand. Diese Hochschule bestimmte in den folgenden Jahren wesentlich seine berufliche Entwicklungsetappen. Über einen längeren Zeitraum bis 1990 konnte er das Hochschulleben an dieser bedeutenden Bildungseinrichtung auch mit beeinflussen.
Das Buch ist ein weiterer Beitrag zur Dokumentation von Bereichen und Sachverhalten zur Sport- und Sportwissenschaftsgeschichte der DDR - auf eigene Erlebnisse basierend und mehr als eine Fußnote wert.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. Feb. 2012
ISBN9783844216325
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    Buchvorschau

    Qualifiziert und ausgemustert - Norbert Rogalski

    Vorwort oder Sinn und Zweck der folgenden Seiten

    Mit der Gründung der DDR 1949 wenige Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges ergaben sich schrittweise außerordentlich günstige Bedingungen der beruflichen Qualifizierung für die Bürger. Auf der Grundlage der Verfassung der DDR, mit weiteren darauf aufbauenden Gesetzen und Verordnungen ist Chancengleichheit für alle sozialen Schichten der Bevölkerung hergestellt worden. Das Bildungsprivileg der bürgerlichen Gesellschaft für bestimmte Bevölkerungsgruppen wurde abgeschafft, allen Menschen eröffnete sich damit die Möglichkeit, nach ihren Anlagen und Fähigkeiten sowie eigener Motivation einen beruflichen Entwicklungsweg zu beschreiten, der im Wesentlichen den persönlichen Vorstellungen entsprach. Vom Geldbeutel der Eltern oder anderen Familienangehörigen und Verwandten war der Besuch höherer Bildungsanstalten nicht mehr abhängig. Der Staat gewährte auf der Grundlage von einheitlichen gesetzlichen Regelungen allen Studierenden eine finanzielle und damit soziale Grundsicherung in Form von Stipendium und im Normalfall die Bereitstellung von Internatsplätzen. Für einen großen Teil von Bürgern der Kriegs- und Nachkriegsgenerationen auf dem Territorium der DDR ergab sich zwangsläufig in den 50er Jahren ein Nachholebedarf, das Abitur noch zu erwerben, um anschließend ein Fach- oder Hochschulstudium aufnehmen zu können. Die Regierung der DDR schuf dafür die Voraussetzungen mit der Gründung von Arbeiter- und Bauern-Fakultäten (ABF) , die vorrangig an Universitäten und Hochschulen angegliedert waren. Der Personenkreis, der sich an der ABF auf ein Studium vorbereitete, setzte sich vorrangig aus Arbeitern und aus Werktätigen der Landwirtschaft zusammen. Beide Gruppen hatten fast ausschließlich einen Beruf für den produktiven Bereich der Gesellschaft oder einen Berufsabschluss für Arbeiten in der Verwaltung. Die Existenz von Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten in der DDR war von entscheidender Bedeutung für meine weitere Entwicklung, da meiner Bewerbung an einer solchen Bildungseinrichtung im Jahre 1954 zugestimmt wurde, nachdem ich bereits seit 1952 einen Berufsabschluss als Tischler besaß. Meine besondere Beziehung zum Sport schon als Kind und Jugendlicher führte mich folgerichtig an die ABF der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) nach Leipzig mit dem Ziel, nach dem Abitur und mit einem anschließenden Hochschulstudium die Voraussetzungen zu besitzen, einen pädagogischen Beruf im Bereich des Sports bzw. im Bildungssystem der DDR ausüben zu können.

    Für eine berufliche Umorientierung hatte ich mich somit fest entschlossen. Die Zulassung zum Studium an der DHfK war aber kein Geschenk des Staates, das automatisch zum Ziel führte. Vielmehr ist ein fester Wille, um die Studienanforderungen zu erfüllen, eine entscheidende individuelle Voraussetzung gewesen, um einen solchen Qualifizierungsschritt erfolgreich abzuschließen. Höhen und Tiefen begleiteten die Jahre an der ABF und während des Hochschulstudiums. Mit dem Staatsexamen als Lehrer für Sport und Deutsch der Allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule war ich am Ziel meines selbst gewählten Wunsches.

       Zahlreiche Fachgebiete und Lehrgegenstände während der Studienzeit führten zwangsläufig auch zur Auseinandersetzung mit philosophisch-ideologischen und politischen Grundlagen der Politik der DDR und der anderen sozialistischen Staaten sowie kapitalistischer Gesellschaftsordnungen und Staatsformen. Meine politische Entwicklung und Überzeugung wurde davon nicht unwesentlich geprägt und beeinflusste mein Denken und Handeln bei der Bewältigung der fachlichen Aufgaben sowie mein Verhältnis zu den Zielen der DDR. Erlebnisse während der letzten Kriegsjahre, die erzwungene Übersiedlung oder Umsiedlung von Schlesien nach Thüringen und Auffassungen der Eltern und näheren Verwandten, die ich nach allgemeiner Lesart aus den „Unterschichten" der Bevölkerung stammend bezeichnen möchte, beförderten meine politische Meinungsbildung.

       Nach zwei Jahren der Tätigkeit als Lehrer führte der Weg mehr durch Zufall wieder an die DHfK. Ich unterschrieb einen Arbeitsvertrag als Assistent im Institut für Pädagogik meiner ehemaligen Ausbildungsstätte. Im Rahmen der definierten Lehr- und Forschungsaufgaben für Assistenten an den Hochschuleinrichtungen der DDR promovierte ich zum Dr. paed. An die mit dem Staatsexamen als abgeschlossen geglaubte Ausbildung schloss sich damit eine weitere akademische Qualifizierung an. Damit wurde eine neue Phase meiner weiteren beruflichen Tätigkeit eingeleitet. Für einige Jahre erklärte ich mich bereit, im Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (SKS) in Berlin auf dem Gebiet der staatlichen Verantwortung für die Aus-und Weiterbildung von Sportfachkadern zu arbeiten. Das erforderte eine neue zentrale Sichtweise hinsichtlich der Entwicklung von Körperkultur und Sport sowie der Sportwissenschaft in der DDR. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit in Berlin war sehr eng mit der DHfK verbunden.  Auf eigenen Wunsch beendete ich 1975 die Tätigkeit im Staatssekretariat und beabsichtigte, wieder in Lehre und Forschung an der DHfK wirksam zu werden. Überraschend und unvorbereitet unterbreitete mir aber der Staatssekretär für Körperkultur und Sport eine andere Vorstellung in Übereinstimmung mit der Leitung der Hochschule für meine erneute Arbeitsaufnahme an der DHfK. Ich sollte eine leitende Funktion in der SED-Parteiorganisation dieser Einrichtung übernehmen. Im Bewusstsein, für eine solche Aufgabe nicht vorbereitet zu sein, die auch nicht meiner Absicht entsprach, stimmte ich nach einer Bedenkzeit doch dieser Vorstellung zu. An die Zeit der Tätigkeit in der Parteifunktion und einer zweijährigen Wirksamkeit nur in Lehre und Forschung, wurde ich als Prorektor für Erziehung und Ausbildung berufen. Vom ehemaligen Studenten war ich zu einem Mitgestalter der Entwicklung dieser Einrichtung geworden. Bestimmte Prozesse des Hochschullebens, vor allem im gesamten Bereich der Lehre, konnte ich mit beeinflussen. Das hat naturgemäß zu einer sehr engen Bindung und zu einem inneren Verhältnis zur DHfK geführt.

       An meinen Qualifizierungsschritten, die über Studienformen, im Prozess der Arbeit und in Leitungsfunktionen verlaufen sind, ist an sich nichts Besonderes. Sie sind vielmehr ein typischer Weg tausender Bürger während der Entwicklungs- und Konsolidierungsphase der DDR, besonders in den Nachkriegsjahren. Es war objektiv notwendig nach dem 2. Weltkrieg, die noch überwiegend bürgerlich geprägte Nachkriegsgeneration mit in der DDR ausgebildeten Fachkräften zu ergänzen. Das war im Bereich von Körperkultur und Sport ebenso der Fall. Die Führung der DDR verfolgte damit auch ein besonderes Ziel und ging nicht nur von der berechtigten Abschaffung des Bildungsprivilegs aus. Es war eine Intelligenz heranzubilden, die von sozialistischen Grundüberzeugungen ausgehen und sich aktiv in die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihrem fachlichen Wissen und Können einbringen sollte.

       Grundsätzlich war mein beruflicher Entwicklungsweg und die Tätigkeit in verschiedenen Arbeitsbereichen, Institutionen und Funktionen von Kontinuität bestimmt. Doch damit verbunden waren auch Überlegungen, immer das Richtige in bestimmten Situationen entschieden und getan zu haben. Zeitweilig gab es auch persönliche Konflikte, die ihre Ursache verschiedentlich im politischen Tagesgeschehen hatten. Auf der Grundlage meiner Überzeugungen kam ich immer wieder zu positiven Schlussfolgerungen, die mein Denken und Handeln für die gesellschaftliche und berufliche Tätigkeit motivierten.

       Der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 führte zu einer entscheidenden Zäsur meiner bisherigen beruflichen Entwicklung und Tätigkeit. Die vollständige Anwendung der Gesetze und Verordnungen der BRD auf alle Bereiche der gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR erfasste auch die Hochschullandschaft, Körperkultur und Sport sowie ihre Einrichtungen. Die DHfK wurde abgewickelt, wie dieser Vorgang in der politischen Diplomatie der Wendezeit genannt wurde. In Wirklichkeit bedeutete aber Abwicklung die Liquidierung der Einrichtung, die mit der Entlassung der Hochschullehrer, der Mitarbeiter und Fachkräfte und ihrer Ausschaltung aus dem gesellschaftlichen Leben unmittelbar verbunden war. Nur wenige fanden eine weiterführende Betätigung an der Nachfolgeeinrichtung der DHfK, der Fakultät für Sportwissenschaft der Universität Leipzig. Sehr anschaulich, mit Gesetzestexten und statistischen Zahlen belegt, hat Arno Hecht in seinem Buch „Die Wissenschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder Integration?" (Verlag Faber u. Faber, Leipzig 2002) alle Einzelheiten der beruflichen Ausgrenzung der ehemaligen Wissenschaftler der DDR beschrieben. So kam auch meine Entlassung an der noch bestehenden DHfK im Jahre 1991 praktisch einem Berufsverbot gleich, da ich - trotz Bewerbung – keine Chance mehr erhielt, weiter im Bereich der Sportwissenschaft auf einem bestimmten Gebiet tätig zu sein.

       Wie über den Sport im Allgemeinen und über den Leistungssport der DDR im Besonderen wurden auch über die DHfK und die Sportwissenschaft nach der Wende bis in die Gegenwart immer wieder Unwahrheiten öffentlich verbreitet. Ohne stichhaltige Begründung sind ehemalige Leiter und Mitarbeiter der Hochschule politisch diffamiert worden. Nicht bewiesene Behauptungen waren zu lesen, an der DHfK wäre Doping Gegenstand der Lehre und Forschung gewesen, um nur an wenigen Beispielen solcher Publikationen die Tendenz deutlich zu machen. Im Gegensatz dazu haben sich renommierte Persönlichkeiten des Sports vieler Länder und internationaler Sportorganisationen sehr anerkennend über die hohe Leistungsfähigkeit der DHfK geäußert und ihre Wirkung auf Körperkultur und Sport hervorgehoben, ihre Abwicklung bedauert. In den vergangenen Jahren sind aber auch zahlreiche Beiträge von überwiegend aus der ehemaligen DDR stammenden Autoren publiziert worden, die ein objektives Bild der Geschichte und der Leistungen der Hochschule vermitteln.

       Die Geschichte der DHfK ist nicht nur auf chronologische Fakten, auf eine sachliche Darstellung der Ergebnisse in Lehre, Forschung und Wissenschaftsentwicklung zu reduzieren. Sie war auch gleichermaßen die persönliche Geschichte ihrer Mitarbeiter aller Generationen, mit ihrem Berufsleben eng verknüpft. Sie war für jeden Einzelnen mehr oder weniger mit politischem Bekenntnis zur DDR und mit den Zielen und Ergebnissen des Sports im Lande verbunden, aber auch mit Widersprüchen über die Probleme des Alltags. Anstrengungen, hohe Einsatzbereitschaft und zugleich Feiern und Geselligkeit in den Arbeitskollektiven gehörten dazu. Die DHfK war ein lebendiger Organismus, war erlebnisreicher und vielfältiger, als sie von manchem Historiker oder Journalisten der alten Bundesländer beschrieben wird, die sie während der 40 Jahre ihres Bestehens oftmals nur oberflächlich oder nie gekannt haben, bewusst sehr einseitig über sie berichteten.

       Treffen sich ehemalige Mitarbeiter der DHfK, so haben sie sich viel zu erzählen, Erinnerungen werden wachgerufen, ernsthafte und spaßige Episoden vorgetragen, Wertungen vorgenommen oder auch über Personen gesprochen, mit denen man gemeinsam tätig gewesen ist. Oftmals wird gesagt: „Das müsste man festhalten, um die Geschichte der DHfK zu vervollständigen. Doch es geschieht meistens nicht. Formen und Möglichkeiten sind dazu auch beschränkt. Ich hatte mich schon längere Zeit mit dem Gedanken getragen, meine Erinnerungen unter einem solchen Gesichtspunkt zu rekapitulieren, zu ordnen und unter meiner persönlichen Sicht aufzuschreiben, die auch zur Illustration und Ergänzung einer systematischen Entwicklungsgeschichte der Hochschule beitragen können. Deshalb wird nicht der Anspruch erhoben, vollständig zu sein, chronologisch, alle Zeiträume der Existenz der DHfK aufzugreifen. Meine Schilderungen beziehen sich auf eine Auswahl von Geschehnissen und Sachverhalten, die mir für das Gesamtbild der Hochschule besonders wichtig erschienen, aber für eine geschichtswissenschaftlich exakte Betrachtung kaum in Frage kommen. Die nachfolgenden Abschnitte sind also keine wissenschaftliche Abhandlung mit Belegen und Quellenangaben. Sie beruhen auf ehemaligen Notizen in Arbeitsbüchern, stützen sich auf Manuskripte und Kalender, vor allem aber auf gedankliche Rekonstruktionen und Erinnerungsvermögen. Dadurch können manche Einzelheiten auch Irrtümern unterliegen. Namen werden nur in den Fällen genannt, wo sie dem Sachverhalt zum besseren Verständnis dienen. Bei dem zeitlichen Verlauf und der Art der Darstellung bin ich von meinen biographischen Schwerpunkten ausgegangen und habe sie als sogenannten „roten Faden benutzt, ohne den Anspruch auf eine Biographie zu erheben. Besonders bemüht war ich, so realistisch wie möglich an die Beschreibung der Fakten und Ereignisse heranzugehen und vor allem politische, sportpolitische und hochschulpolitische Tatsachen und Vorgänge, die unter heutiger Sicht und mit Abstand von mehr als einem Jahrzehnt unbequem sein können, nicht gedanklich zu verdrängen und sie in den Zusammenhang der politischen Verhältnisse zu stellen.

       Mein Bestreben war es somit, einen weiteren Beitrag zur Erfassung und Bewertung einzelner Abschnitte der Geschichte der DHfK und – soweit es einen inhaltlichen Bezug dazu gab – auch zur Sportwissenschaft und zu Körperkultur und Sport der DDR zu leisten und mich schriftlich festzulegen. Als Zeitzeuge, der den Hauptteil der Qualifizierung und des Berufslebens an der DHfK verbracht hat sowie mehrere Jahre auch in Leitungsverantwortung diese Hochschule unmittelbar miterlebte, können meine Betrachtungen vielleicht mehr als eine Fußnote Wert sein.

       Mein Dank gilt mehreren ehemaligen Kollegen der Hochschule und aus den Leitungsbereichen des Sports, die das Manuskript gelesen haben, mir zahlreiche Hinweise gaben und mich bestärkten, das Vorhaben zu Ende zu führen. Soweit ich mich ihren Auffassungen anschließen konnte oder sie dazu beitrugen, historische Begebenheiten genauer einzuordnen, habe ich sie selbstverständlich berücksichtigt.

       Während des Schreibens der Abschnitte kam es auch zu einem ursprünglich nicht beabsichtigten , nützlichen Nebeneffekt für mich. Mit dem Umgang eines Computers bisher unkundig, konnte ich zumindest diese moderne Technik soweit beherrschen lernen, um diesen Text und andere Texte schreiben zu können. Dabei kam es oft auch zu Stockungen und Pannen, weil z. B. der Computer beim Seiteeinstellen oder Formatieren nicht so wollte, wie ich gedachte, ihm Befehle erteilt zu haben. Meine Frau, die Kinder und in einem Fall schon ein Enkelkind waren deshalb sehr hilfreiche Begleiter. In manchmal aussichtslosen Situationen brachten sie die Texte wieder auf den Monitor. Mir wurde in dem Zusammenhang bewusst, welch großen Sprung die jüngere Generation im Wissen und Können, vor allem auf diesem Gebiet, der älteren Generation voraus hat. Deshalb beziehe ich sie in meinem Dank in gleicher Weise ein.

    Flucht, Schulzeit und erste Lehr- und Arbeitsjahre

    (1945 – 1954)

    Unzählige, übervolle Züge verließen im Januar/Februar 1945 die Stadt Breslau in westlicher Richtung nach Mitteldeutschland. Als sich ein solcher Zug am 22.01.1945 in Bewegung setzte, kannte keiner der Insassen, zu denen meine Mutter und ich gehörten, das Ziel. Wenige Tage vorher hatte ich Geburtstag und wurde erst 10 Jahre alt. Am 24.01.1945 nachts hielt er, und wir wurden aufgefordert auszusteigen. Niemand wusste, wo wir uns befanden. Durch die Dunkelheit auf dem Bahnsteig konnte man das Ortsschild nicht auf den ersten Blick erkennen. Die Anordnungen der staatlichen oder polizeilichen Behörden, alle öffentlichen Gebäude sowie sämtliche Häuser zu verdunkeln, Straßenbeleuchtung auszuschalten, um, so die Erklärungen, den feindlichen Luftangriffen keine Orientierung zu bieten, waren noch wirksam. Doch bald sprach sich herum, es war die Stadt Bautzen in der Lausitz. Der Zug benötigte also von Breslau nach Bautzen 3 Tage, unter normalen Umständen in 3 Stunden zu erreichen. Während der oft stundenlangen Haltepausen des Zuges reichten Helfer des Roten Kreuzes warme Getränke und etwas zu essen.

       Zum Jahreswechsel 1944/45 und vor allem in den ersten Januartagen 1945 war Schlesien zu einem Brennpunkt an der Ostfront des 2. Weltkrieges geworden. Die sowjetische Armee hatte Polen bereits überwiegend besetzt und näherte sich der deutschen Grenze. Breslau wurde zur Festung erklärt. Die Hauptstraßen füllten sich mit Flüchtlingstrecks, die vom Osten nach Westen zogen. In umgekehrte Richtung fuhren Kolonnen der Wehrmacht mit Panzern, Geschützen und Lastwagen. Bevor der militärische Ring um die Stadt geschlossen wurde, was Mitte Februar geschah, sollten Frauen mit Kindern und ältere Menschen ab 60 Jahren die Stadt laut Befehl des deutschen Stadtkommandanten zeitweise verlassen. Es gelang den damaligen Machthabern nicht mehr, eine Evakuierungsbewegung, wie man sie anfangs nannte, organisiert abzuwickeln. Die geschürte Angst der Nazi-Propaganda unter der Bevölkerung vor der heranrückenden Sowjetarmee veranlasste Zehntausende, die Stadt zu Fuß, mit Hand-und Kinderwagen, Pferdegespannen oder privaten Pkw spontan zu verlassen. Das Elend dieser Flüchtlingstrecks, das für zahlreiche Betroffene oftmals mit dem Tod endete, wurde später vielfach beschrieben und mit Filmen dokumentarisch belegt.  Ich hatte das „Glück, meiner Geburtsstadt Breslau noch etwas angenehmer mit der Bahn den Rücken zu kehren, meine Mutter als Beschützerin an meiner Seite. Für mich als Kind war es ein Schock, in wenigen Stunden die Wohnung und die Stadt nur mit Rucksack und Tragetaschen verlassen zu müssen, liebgewonnene Gegenstände, Spielzeug usw. nicht mitnehmen zu können. Es gab aber die Hoffnung, die von den Gesprächen der Erwachsenen genährt wurde, nach dem „Endsieg, also mindestens nach der Befreiung der Stadt von den „Feinden", wieder in die Heimat zurückkehren zu können.

       Auf dem Bahnhof in Bautzen empfingen uns Angehörige der Wehrmacht, Zivilisten mit Hakenkreuzarmbinden und wieder Helfer des Roten Kreuzes, die uns zu Lastkraftwagen begleiteten. Die Fahrt führte uns nach kurzer Zeit in eine Waggonfabrik. In mehreren halbgeräumten Werkhallen war der Fußboden mit Stroh bedeckt, reihenweise exakt ausgerichtet. An jeder vorgesehenen Schlafstelle lag auch eine Decke. Frauen, Männer und Kinder verbrachten nun die nächsten Tage, manche auch einige Wochen, in diesen Werkhallen auf dem Strohlager. Die Sanitäreinrichtungen entsprachen nicht den Erfordernissen. Die Verpflegung war den Verhältnissen angemessen, man brauchte nicht zu hungern. Langsam wurde dieses Sammellager aufgelöst. Familien und Einzelpersonen sind von Bautzener Bürgern abgeholt und zeitweise in ihren Privatwohnungen untergebracht worden. So geschah es auch mit meiner Mutter und mir in den ersten Februartagen 1945. Ein Ehepaar, der Mann war schwer verwundet und aus der Wehrmacht entlassen worden, erfüllte - entsprechend den damaligen Möglichkeiten - unsere bescheidenen Wünsche und stellte uns eines ihrer Zimmer zur Verfügung. Wir glaubten, dass uns der Weg bald wieder nach Breslau führen würde. Während der etwa vier Wochen Aufenthalt bei dieser Familie machte mich der Hausherr mit dem Schachspiel bekannt. Viele Stunden saß ich mit ihm vor dem Schachbrett, befolgte seine Erklärungen und erlernte in den Grundzügen dieses Spiel. In diesen perspektivlosen Tagen und Wochen ergab sich damit ein Nutzeffekt zur Förderung von logischem Denken, das für meine weitere Entwicklung sicher vorteilhaft gewesen ist.

       Ein Ereignis aus dieser Zeit hat sich in meinen Erinnerungen fest eingegraben. Bautzen ist ja bekanntlich von Dresden nur etwa 50 km entfernt. Erwachsene und Kinder, so auch ich, standen am 13.02.1945 in der Nacht auf der Straße, hörten den Motorenlärm der anglo-amerikanischen Kampfbomber, die im Anflug auf Dresden waren, schauten auf den von sogenannten Christbäumen erhellten Himmel und erschraken, als das Krachen und Dröhnen der abgeworfenen Bomben auf die Stadt Dresden bis nach Bautzen herüberhallte. Der Horizont färbte sich schnell von nächtlicher Dunkelheit in eine rosarote Wolke. Keiner erahnte so richtig in dieser Nacht, was eigentlich in diesen Stunden mit Dresden, besonders auch mit den Menschen, die in ihr lebten und wohnten, passierte. Später erfuhr man, dass unter den Zehntausenden von Opfern auch Tausende von Flüchtlingen aus Schlesien und den anderen östlichen Gebieten Deutschlands waren, die sich in diesen Tagen als Durchgangsstation auf der Flucht in Dresden, völlig ungeschützt aufhielten. Meine Mutter sagte mir Jahre danach: „ Wir hätten auch unter den Toten sein können, wenn der Flüchtlingszug am 24.01.1945 nicht in Bautzen sondern in Dresden gehalten hätte". Es war ein Zufall, am 13.02.1945 nicht in Dresden gewesen zu sein.

       Aber Bautzen war für meine Mutter und mich nur ein zeitweiliger Aufenthalt von etwa vier Wochen. Nach der nationalsozialistischen Propaganda noch im Februar/ März 1945 hieß es sinngemäß, alle Flüchtlinge könnten, nachdem Deutschland gesiegt hätte, wieder in die Heimat zurückkehren. Bevor jedoch die Alliierten den Krieg gegenüber Hitler-Deutschland endgültig beenden konnten, hatten sie die Grenzen Deutschlands zu den angrenzenden Staaten im Osten bereits neu festgelegt, was bedeutete, es gab für die Flüchtlinge kein Zurück in ihre Heimat mehr. So gelangte ich mit meiner Mutter auf Anordnung von staatlichen Behörden Ende Februar 1945 in das Dorf Lipprechterode (ca. 1.200 Einwohner) in den Kreis Nordhausen (Südharzgebiet) nach Thüringen. Mein Vater wurde ein Opfer des Krieges. Erst in den 60ziger Jahren erhielt meine Mutter vom Roten Kreuz der Sowjetunion schriftlichen Bescheid, dass er 1950 in einem Lager verstarb.

       Wir wohnten wieder bei einer Familie in einem Zimmer mit dürftigem, geborgtem Mobiliar. Die Familie war uns Flüchtlingen gegenüber hilfsbereit und versuchte auch insgesamt, uns das Leben in der Fremde, wie die Erwachsenen zu sagen pflegten, zu erleichtern. Einige Wochen vergingen ohne nennenswerte Veränderungen in unseren Lebensumständen. Meine Mutter war bemüht, unsere Verwandten zu finden, die auch aus Schlesien etwa zur gleichen Zeit auf unterschiedlichen Wegen geflüchtet waren, was ihr zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht gelang. Das verschlechterte ihren allgemeinen Gemütszustand.

       Ende April 1945 entwickelte sich eine gewisse Unruhe im Dorf . Der Rundfunk, soweit noch in Funktion, meldete nicht nur, dass die Sowjetarmee vor den Toren Berlins stand, sondern berichtete auch über den schnellen Vormarsch der US-Armee nach Thüringen ohne nennenswerten Widerstand der Wehrmacht. Die Dorfbevölkerung war verunsichert über ihr Schicksal beim Einmarsch eines der Kriegsgegner. Verstärkt wurde die Unruhe durch Bombenangriffe der Anglo-Amerikaner auf die Kreisstadt Nordhausen in der 2. Hälfte im April 1945. Die Stadt war danach zu 75% zerstört und hatte Tausende von Toten zu beklagen. Ähnliches erwartete man von den Bodentruppen, wenn ihre Geschosse in das Dorf einschlugen. Der Einmarsch der amerikanischen Armee vollzog sich aber dann ohne kriegerische Auseinandersetzungen.

       An einem sonnigen Apriltag standen plötzlich, aber nicht unerwartet, gegen Mittag amerikanische Panzer ca. 1km vor dem Dorf auf der Landstraße. Stundenlang passierte nichts. Es herrschte äußerste Spannung. Die Bevölkerung des Dorfes richtete sich in den Kellerräumen ihrer Häuser ein in der Erwartung, dass doch Kampfhandlungen stattfinden könnten. Wie wir später erfuhren, gingen einige ältere Männer mit weißen Fahnen auf die Panzer zu. Sie verständigten sich mit den amerikanischen Offizieren. Ihre Bedingung soll gewesen sein: Wenn kein Schuss von deutscher Seite fällt, wird das Dorf auch ohne Schuss ihrerseits eingenommen. Ich habe diese Männer nie kennen gelernt, ihre Namen wurden kaum propagiert, aus Gründen, die mir unverständlich blieben. Diese Tat nötigte mir später großen Respekt ab, als ich begriff, was sie für die Dorfbevölkerung bedeutete. Ihren Mut hätten sie auch mit dem Leben bezahlen können. Es befanden sich nämlich in diesen Tagen und Stunden noch versprengte Wehrmachts- und SS-Einheiten im Dorf, die den Marsch dieser Männer mit den weißen Fahnen zu den Amerikanern bemerkt hatten, aber nicht eingriffen. So rollten die amerikanischen Panzer in großer Anzahl und in ihrem Gefolge unzählige Lastkraftwagen mit Geschützen und anderem Kriegsmaterial in das Dorf ein. Dieser motorisierte Marsch oder auch Durchmarsch Richtung Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben, Halle, Leipzig dauerte noch tagelang. Angst und Skepsis unter der Dorfbevölkerung legten sich aber bald, da keine Schüsse fielen. Die Erwachsenen und wir Kinder verließen die Keller und sahen den vorbeifahrenden US-Truppen zu. Eine gewisse Unsicherheit war aber doch noch vorhanden, weil niemand genau wusste, was nun eintreten würde. Der Krieg war zwar in Lipprechterode praktisch zu Ende, was sich jeder Einzelne auch darunter vorgestellt hat, aber die Kapitulation Hitler-Deutschlands war noch nicht vollzogen, was dann wenige Tage später am 8. Mai 1945 erfolgte. Nach einigen Tagen der amerikanischen Besatzung krochen wir Kinder auf die Lastkraftwagen der US-Armee, die unbewacht auf Feldwegen standen, entwendeten Schokolade, Brot und Konserven und schleppten diese Beute unbemerkt nach Hause. Meine Mutter freute sich einerseits über diese nicht erwarteten Lebensmittel, aber andererseits hatte sie Angst, dass ich erwischt werden würde und sprach ein Verbot für weitere Versuche dieser Art aus.

       Nach wenigen Tagen hatte sich die Dorfbevölkerung an das Leben unter militärischer Besatzung gewöhnt. In der Schule richtete sich die amerikanische Kommandantur ein, die an Stelle des bisherigen Bürgermeisters mit neuen Verordnungen und Richtlinien das Leben im Ort zunächst sicherstellte. Unterricht für uns Kinder fand deshalb nicht statt, darüber waren wir nicht böse. Öffentliche Verkehrsmittel waren noch außer Betrieb. Verschiedentlich wurden Plünderer und Diebe, die nach Lebensmitteln suchten, verjagt oder festgenommen. Lebenswichtige Einrichtungen für die Strom- und Wasserversorgung sind wieder in Funktion gewesen.

       Schnell sprach sich herum und über die Medien wurde es mitgeteilt, dass nach Festlegungen der Siegermächte Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt wird, die aber mit dem besetzten Territorium der vier Armeen zum Zeitpunkt der Kapitulation Deutschlands nicht identisch waren. Für den Kreis Nordhausen und damit auch für unser Dorf war die sowjetische Besatzung vorgesehen. Der Wechsel von der US-Armee an die Sowjetarmee fand Anfang August 1945 statt, den ich unmittelbar miterlebte. Für die Bürger des Ortes war es ein besonderes Ereignis. Auf einer Straßenkreuzung vor der Schule wurde das Dorf an die neuen Besatzer übergeben. Nachdem alle größeren amerikanischen Fahrzeuge Richtung Westen abgezogen waren, stand noch ein Jeep mit einem US-Offizier in Warteposition. Wenige Minuten später näherte sich ein Offizier der Sowjetarmee auf einem Pferd. Mit militärischen Grußerweisungen und wenigen Worten, die beide Offiziere wechselten, die anwesenden Bewohner jedoch nicht verstanden, wurde das Dorf an die Sowjetarmee übergeben. Der Jeep fuhr davon. Der Kreis Nordhausen und somit auch unser Dorf war damit in wenigen Minuten sowjetische Besatzungszone mit einer anderen politischen Grundorientierung als vorher unter der Besatzung der Amerikaner.

       Nur etwa 10 km von Lipprechterode entfernt in nord-westlicher Richtung befand sich die Demarkationslinie zwischen den Besatzungstruppen, die spätere Staatsgrenze der DDR zur BRD. Diese an sich geringe Entfernung trennten mich als Kind von der Tatsache, in der sowjetische Besatzungszone und in der DDR weiter aufgewachsen zu sein und nicht unter dem Einfluss der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland. Meine politische und berufliche Entwicklung wäre wahrscheinlich in wesentlichen Teilen anders verlaufen, wenn der Flüchtlingstransport im Februar 1945 nicht im Kreis Nordhausen, sondern 10-15km weiter westwärts im Südharz in einer Ortschaft gehalten hätte, die zum Territorium für die Besetzung durch die westlichen Alliierten vorgesehen gewesen ist. Lebensweg sowie Denken und Handeln der Menschen sind immer von bestimmten Gegebenheiten, vom gesellschaftlichen und sozialen Umfeld weitgehend abhängig. Das ist die immer wieder diskutierte Problematik unterschiedlicher Biografien der Bürger der DDR und der BRD, die in entscheidendem Maße von den politischen Staatsformen und ihren Zielen geprägt worden sind. Doch werden die Biografien der ehemaligen DDR-Bürger in der erweiterten Deutschen Bundesrepublik seit 1990 von der politischen Führungsschicht der BRD nur in ihren offiziellen Reden zwar akzeptiert, aber es werden keine praktisch-politischen Konsequenzen aus dieser Tatsache gezogen. Ich habe es stets als glücklichen Zufall betrachtet, im Kreis Nordhausen, nur wenige Kilometer von der Grenze zur BRD auf dem Boden der späteren DDR wieder sesshaft geworden zu sein, weil ich gerade in der DDR optimale Voraussetzungen für berufliche Entwicklungsmöglichkeiten gefunden hatte.

       Die unmittelbaren Veränderungen im Dorf unter der sowjetischen Besatzungsmacht berührte uns Kinder zunächst kaum. Uns gefiel, dass die Schule noch nicht am 1.September öffnete, sondern uns erst Ende Oktober 1945 wieder zu einem einigermaßen geordneten Lernen zusammenführte. Als Lehrer erschienen einige neue Personen, wie mir und den anderen Flüchtlingskindern die einheimischen, neuen Klassenkameraden erzählten. Sogenannte Neulehrer übernahmen überwiegend den Unterricht. Wir machten es diesen im Beruf noch jungen Lehrern, die mit einer z.T. nur mehrwöchigen Ausbildung und aus anderen Berufen kommend diese bildungspolitische Aufgabe übernommen hatten, nicht schwer im schulischen Alltag. Sie bewältigten Ausbildung und Erziehung unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in meiner Erinnerung in guter Qualität. Die bis Ende des Krieges verwendeten Lehrbücher wurden aussortiert, neue Exemplare waren noch nicht greifbar. Das Unterrichtsgeschehen entwickelte sich hauptsächlich auf der Grundlage der individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse der Lehrer sowie ihrer Improvisationen. Ein altes Realienbuch wurde als Nachschlagewerk zugelassen. Wer von den Schülern ein solches Exemplar besaß, hatte kleine Vorteile und konnte auch anderen Klassenkameraden Hilfe anbieten, manchmal für eine Gegenleistung.

       Ich wurde in die 5. Klasse in Lipprechterode aufgenommen. Grundlage dafür war das Alter, nicht die bisher absolvierten Schuljahre. Danach hätte ich in der 4. Klasse den Unterricht fortsetzen müssen. Im Oktober 1944 sind die Schulen in Breslau geschlossen worden, sie wurden als provisorische Kasernen und Lazarette für die Wehrmacht gebraucht. Ich konnte also ein Jahr lang die Schule nicht besuchen, denn erst im Oktober 1945 ging meine schulische Ausbildung weiter. Das 4. Schuljahr ist mir damit „erspart" geblieben, so kann man es auch nennen, obwohl es ein Nachteil für mich gewesen ist. Große Lücken in mathematischen Grundoperationen und in der Rechtschreibung konnten erst in späteren Schuljahren geschlossen werden. Mit der Neueröffnung der Schule 1945 war auch für die Kinder des Dorfes eine völlig neue Situation eingetreten. Die Klassen setzten sich nun aus einheimischen Schülern, im Dorf aufgewachsen und den bisherigen Klassenstufen zugehörig, und uns Flüchtlingskindern zusammen, im Verhältnis von etwa 2 : 1. In den ersten Tagen und Wochen beschnupperten wir uns. Wir mussten uns auch an unterschiedliche Dialekte gewöhnen. Es dominierte natürlich die spezifische Aussprache der Thüringer im Kreis Nordhausen, aber auch ostpreußische, schlesische und sudetendeutsche Akzente beherrschten den Unterricht, die Pausen und die Freizeitgestaltung. Recht schnell wurden Gemeinsamkeiten entdeckt, besonders bei Spiel und Sport, Freundschaften wurden geschlossen, Ausgrenzungen von Schülern fanden nach meinen Erinnerungen nicht statt. Wenn Unterschiede zwischen den beiden Kindergruppen auftraten, dann ist es hauptsächlich in der Kleidung sichtbar geworden. Die Flüchtlingskinder waren anfangs im Nachteil gegenüber den Einheimischen, weil sie lange Zeit nur auf die Kleidung angewiesen waren, die im spärlichen Gepäck aus der alten Heimat mitgebracht werden konnte.

       Die Anforderungen in der Schule bewältigte ich schrittweise immer besser, obwohl mir ein gesamtes Schuljahr fehlte. Gern denke ich an die Pausengestaltung in der Schule zurück. Wir, die Jungen, konnten das Klingeln kaum erwarten, um auf den Schulhof zu strömen und mit einem Stoffball Fußball zu spielen. Gummibälle standen anfangs nicht zur Verfügung. Der Schüler, der einen Gummi- oder Fußball mitbringen konnte, stieg erheblich im Ansehen. Mein Verhältnis zum Fußballsport, einschließlich der aktiven Betätigung über viele Jahre hinweg, hatte in dieser Zeit seinen Ursprung. Das Bolzen auf dem Schulhof, mit dem sogenannten Straßenfußball gleichzusetzen, mit allen Arten von Bällen war der Beginn meiner engen Beziehung zu dieser Sportart. Dabei hat sicher erblich mein Vater auch etwas Pate gestanden, der in Breslau, vorrangig in Arbeitersportvereinen Fußball spielte, wie meine Mutter mir erzählte.

       Eingebettet in die gesellschaftliche Entwicklung des Dorfes unter den Verordnungen der sowjetischen Besatzungsmacht, wurde auch wieder an den Sport gedacht. Der bis 1945 im Ort bestandene Sportverein, musste auf der Grundlage der Direktive Nr. 23 vom 17. 12 1945 des Alliierten Kontrollrates aufgelöst werden. Demokratische Sportorganisationen und Sportverkehr auf territorialer Ebene wurde gestattet. Es gab vielfältige Bemühungen von sportbegeisterten Bürgern des Dorfes, vor allem von jenen, die bis 1933 in Arbeitersportvereinen aktiv waren, um ein organisiertes Sporttreiben in einer Sportgemeinschaft wieder ins Leben zu rufen. In den ersten Jahren nach Kriegsende, in denen die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und die Gewerkschaft die Träger des Sports gewesen sind, kam aus unterschiedlichen Gründen die Bildung einer Sportgemeinschaft in unserem Dorf nicht zustande. Erst 1955 führten weitere Aktivitäten zum Erfolg und zur Gründung der Sportgemeinschaft „Blau-Weiß, die sich wenige Jahre später in die Betriebssportgemeinschaft „Traktor umwandelte, die LPG des Dorfes als Trägerbetrieb. So kam es bis 1955 nur zu spontanen, nicht kontinuierlichen sportlichen Betätigungen im Fußball, Tischtennis und Gerätturnen. Für Turnen und Tischtennis stand der Dorfgasthofsaal zur Verfügung. Fußball wurde auf einem Rasenplatz gespielt, der damals in einem schlechten Zustand gewesen ist und keine Umkleideräume und Sanitäreinrichtungen besaß. In diesen Jahren schlossen sich deshalb zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene von Lipprechterode der Betriebssportgemeinschaft (BSG) „Aktivist" in Bleicherode an, nur ca. 3 km entfernt, das Kalibergwerk war die Basis. Diese BSG bot den Sportlern relativ gute Bedingungen für Training und Wettkampf. Nachdem ich einige Jahre auch der unregelmäßigen sportlichen Betätigung in unserem Dorf im Fußball und Gerätturnen nachgegangen bin, wurde ich mit 15 Jahren ebenfalls Mitglied der Sektion Fußball der BSG in Bleicherode.

       Ich wuchs heran mit den schulischen Verpflichtungen und immer intensiver werdendem Bezug zum

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