Das Leben geht immer weiter – irgendwie: Gespräche mit Flüchtlingen
Von Mia Marjanović und Senada Marjanovic´
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Buchvorschau
Das Leben geht immer weiter – irgendwie - Mia Marjanović
Mia Marjanović
Senada Marjanović
Das Leben geht immer weiter – irgendwie
Gespräche mit Flüchtlingen
Mit einem Vorwort von Volkhard Röseler
Verlags LogoImprint
Das Leben geht immer weiter – irgendwie
Mia Marjanović, Senada Marjanović
Erschienen in Ada Verlag, Berlin
mail: ada-verlag@gmx.de
Copyright: 2016 Mia Marjanović, Senada Marjanović
Titelbild: Sanjin Čošabić
Satz: Erik Kinting, www.buchlektorat.net
Umschlag: Erik Kinting
Alle Rechte vorbehalten
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de
Zu diesem Buch
20 Jahre, nachdem sie mit bosnischen Flüchtlingskindern in Berlin und den Niederlanden gesprochen hatten, haben Senada und Mia Marjanović die heute jungen Erwachsenen noch einmal aufgesucht, um zu erfahren, wie sich ihr Leben in den Flüchtlingsheimen und danach entwickelt hat. Manche sind in die Heimat zurückgekehrt, andere in der Fremde geblieben, sie haben Familien gegründet, Kinder bekommen oder leben allein. Was sich in diesem Buch vor uns ausbreitet, ist ein Kaleidoskop von Flüchtlingsbiografien und Nachkriegsgeschichten in der Mitte Europas, an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert. Sie berühren den Leser auf persönliche Weise, weil sich in ihnen die Auswirkungen politischer Entscheidungen und kriegerischer Erfahrungen mit ganz privaten Schicksalen mischen. In diesem Buch sprechen keine Standardflüchtlinge. Vielmehr kommen Menschen mit unterschiedlichen familiären und sozialen Hintergründen zu Wort, deren mehr oder weniger idyllische Welt der Kindheit in Bosnien durch den Krieg, unter dem das ehemalige Jugoslawien auseinanderbrach, jäh zu Ende ging. Nach der Flucht fanden sie sich in fremden Ländern mit unbekannter Sprache wieder, mit desorientierten, innerlich und äußerlich verletzten Eltern. Dieses Buch berichtet von viel Leid. Es ist aber auch eine Ermutigung, ein Zeugnis der Kraft, mit der sich Menschen noch aus den schwierigsten Verhältnissen herauskämpfen und ein erfülltes Leben erobern können.
Die Autor*innen
Mia Marjanović studierte nach dem Abitur Japanologie und Geschichte an der FU Berlin, danach Journalismus an der Freien Journalistenschule. Sie arbeitet als Autorin, Redakteurin und Beraterin im Bereich PR und Medien. Sie lebt in Berlin.
Die aus Bosnien-Herzegowina stammende Autorin, Journalistin und Übersetzerin Senada Marjanović studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Sarajevo. Seit 1992 lebt und arbeitet sie in Berlin.
Volkhard Röseler arbeitet als Lektor, Autor und Übersetzer aus dem Englischen in Berlin. Nach einem Studium der Volkswirtschaft, Soziologie und Musikgeschichte an der TU Berlin, war er zuvor zehn Jahre Redakteur u. a. bei einer Fachzeitschrift und der Tageszeitung „Die Welt".
Inhalt
Zu diesem Buch
Die Autor*innen
Vorwort
Amela, 25 Jahre
Ohne Pass bist du wie ein Gefangener
Bojana, 25 Jahre
Flüchtlingskinder werden zu keiner Geburtstagsparty eingeladen
Alma, 25 Jahre
Du machst alles richtig und bist dennoch unerwünscht
Irma, 26 Jahre
Meine Mutter war stets mein Zuhause und meine Heimat
Amir, 26 Jahre
Du bist das, was du aus dir machst
Nina, 26 Jahre
Im Krieg geht es immer nur um Macht und Geld
Samir, 26 Jahre
Ich bin doppelt anders – ein schwuler Flüchtling
Melita, 27 Jahre
Liebe und Hass kann man nicht verstehen
Elvir, 27 Jahre
Wir waren alle irgendwie nicht normal, sondern ziemlich gestört
Enisa, 27 Jahre
Wir lebten in ständiger Angst vor Abschiebung
Esad, 30 Jahre
Manche hassten mich regelrecht – ich habe mich ja selbst nicht gemocht
Leon, 32 Jahre
Sie haben keine Ahnung von den Flüchtlingen und doch denken sie, dass sie alles über uns wissen
Dario, 32 Jahre
Einem Traumatisierten hilft eher ein Job als eine Therapie
Damir, 32 Jahre
Du musst dir selber helfen können
Dženeta, 33 Jahre
Ich stand vor einem neuen Leben in einem fremden Land
Ahmet, 33 Jahre
Manche denken, dass wir es verdient haben
Dita, 34 Jahre
Die Vergewaltigung war mein Geheimnis und meine Schande
Mirela, 35 Jahre
Sie hat ihre letzte Ruhe gefunden
Suanita, 35 Jahre
Die Menschen hier denken, sie seien besser als der Rest der Welt
Edina, 35 Jahre
Ich dachte, die Welt wollte nicht, dass wir leben
Danksagung
Vorwort
Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen: als Sammlung von Erfahrungsberichten aus dem Inneren eines Flüchtlingsstroms, als biografische Zwischenberichte von Menschen, die jung aus ihrem Land fliehen mussten, oder auch als „Coming of Age"-Geschichten von Kindern, die in besonders schwierigen Verhältnissen groß wurden und sich daraus ihren Weg ins Erwachsenenleben suchen und bahnen.
Vor 20 Jahren hatte Senada Marjanović, die Co-Autorin diese Buches, Aufnahmegerät und Schreibzeug eingepackt und war losgezogen, um in Flüchtlingsunterkünften in Berlin und den Niederlanden Kinder von Flüchtlingsfamilien aus Bosnien zu interviewen. Europa befand sich mitten in den kriegerischen Auseinandersetzungen, unter denen das ehemalige Jugoslawien Stück für Stück auseinanderbrach. Besonders schlimm waren die Geschehnisse im einstigen jugoslawischen Herzland Bosnien, in dem die serbischen, kroatischen und muslimisch-bosnischen Volksgruppen bis dahin untrennbar miteinander verwoben zusammengelebt hatten.
Über Nacht waren aus Nachbarn, Schulkameraden und Freunden plötzlich Feinde und tödliche Bedrohungen geworden. Hunderttausende versuchten dem täglichen Terror durch Flucht zu entkommen, vor allem Frauen und Kinder, viele durch schreckliche Erlebnisse traumatisiert. Es war eine Reise ins Ungewisse. Bei Nacht und Nebel und oft zu Fuß schlugen sie sich bis in die Nachbarländer durch und häufig noch weiter nach Österreich, Deutschland, die Niederlande oder Skandinavien. Nur raus aus dem gefährlichen Schlamassel und möglichst weit weg vom kriegerisch tödlichen Chaos in der Heimat.
In den Zielländern angekommen landeten sie in improvisierten Flüchtlingsunterkünften. Statt im eigenen Haus mit Garten, lebten sie nun in einem Zimmer für die ganze Familie, in einer fremden Umgebung mit unbekannten Regeln und einer Sprache, die sie nicht verstanden. Wie erleben Kinder einen solch radikalen Umbruch? Wie bewegen sie sich in dieser scheinbar verrückt gewordenen Welt der Erwachsenen? Was macht eine solche Entwurzelung mit ihrer Seele? Das waren die Fragen, die Senada Marjanović, selbst aus Bosnien stammend und in Berlin lebend, bewegten. Also ging sie in die Flüchtlingsheime, um mit den Kindern zu sprechen.
Das Ergebnis ihrer Recherchen wurde 1994 in dem Buch „Herzschmerzen – Gespräche vom Krieg mit Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien veröffentlicht. Der Band vereinigt Interviews mit 20 Kindern im Alter von 5 bis 15 Jahren. Er vermittelt Einblicke in das Erleben vom Krieg aus der Kinderperspektive und erste Versuche, noch mitten im Schock, das Erlebte einzusortieren und zu verstehen. Von Verarbeiten konnte noch keine Rede sein, zu präsent waren die Bilder noch, das gesehene Grauen, das sich der Fassung in Worte zu entziehen schien. Und doch können wir in diesem ersten Buch viele Geschichten lesen, manche fast nüchtern aus Kindermund erzählt. Erinnerungen „wie im Film
, wie einer sagt.
Nun, 20 Jahre später, ist Senada Marjanović noch einmal losgezogen, diesmal begleitet von ihrer Tochter Mia, um nachzuschauen, was aus diesen 20 Kindern, denen sie damals so tief ins wunde Herz geblickt hatte, geworden ist. Wie ist ihr Leben weitergegangen? Was ist aus ihren Familien geworden? Wo sind sie gelandet? Wie blicken sie heute auf das Erlebte zurück? Und wie, wenn überhaupt, haben sie die Erfahrungen von Krieg, Flucht und Flüchtling Sein verarbeitet, jetzt da sie erwachsen sind, 25 bis 35 Jahre alt, und vielleicht selbst schon Familie und Kinder haben?
Was wir lesen, sind 20 individuelle Geschichten, 20 Versuche, mit dem Leben zurechtzukommen, einen Platz zu finden, einen Weg, über dem Bodensatz von Gewalt, Vertreibung und Rechtlosigkeit der eigenen Lebensgeschichte so etwas wie ein „normales" Leben aufzubauen, eines, das Alltag und ein Gefühl von Sicherheit bieten kann.
Zunächst geht es in den Gesprächen aber darum, wie es ist, in einem Flüchtlingsheim und als Flüchtling aufzuwachsen, mit ungesichertem Status, von Abschiebung bedroht, mit seelisch und körperlich verwundeten Eltern, die sich streiten, auseinanderleben und trennen, ihre Schwermut im Alkohol ertränken oder sich den Strick nehmen, die ihre Kinder lieben wollen, sie aber oft in der eigenen Verzweiflung wegstoßen, anschreien und misshandeln. Und die Kinder selbst, wie sie rebellisch aufbegehren, ungenießbar für ihre Umgebung werden oder sich zurückziehen, fest davon überzeugt, dass sie nichts wert sind und dass man sie nicht lieben kann.
Und wieder gibt es Nachkriegsgeschichten, die einen sprachlos machen können. So wie die von dem Vater, der, aus dem Krieg in Bosnien zur Familie im Exil „heimgekehrt", die Mutter mit einem anderen Mann im Bett findet, sie erwürgt und sich dann selbst erschießt. Oder von dem Jungen, der bei einem älteren Deutschen Wärme, Heiterkeit und Bestätigung findet, zum ersten Mal Vertrauen aufbaut, bevor dieser nette Mann sich an ihn heranmacht und ihn sexuell missbraucht, vier Jahre lang, bis der Junge sich durch Flucht nach Schweden retten kann.
Was uns die fortgesponnenen Geschichten dieses zweiten Buches zeigen, jede in eigener Weise, sind die Verheerungen, die der Krieg noch anrichtet, wenn er äußerlich schon lange zu Ende gegangen ist: durch die Erinnerungen und Bilder im Kopf, die Träume, die Nacht für Nacht das Erlebte zurückholen, die Schlaflosigkeit, die daraus folgt, die erloschenen Seelen der Väter, die gedemütigt und geschwächt keinen Anschluss mehr an einen neuen Alltag finden, die Mütter, die vergewaltigt und geschändet gegen ihre Scham anleben. Dazu die allgegenwärtige Angst, dass der Krieg zurückkommen könnte, dass das Serbisch auf der Straße aus dem Mund eines Tschetniks kommt, die Angst vor der Rache der Anderen und vor den eigenen Rachegelüsten.
Vieles kommt einem im Nachkriegsdeutschland Geborenen bekannt vor, aus den eigenen Geschichten nach 1945: die vertriebenen und geflüchteten Verwandten aus dem Osten, die gebrochenen Väter und Großväter, die zwangsweise lebenstüchtigen, kraftvollen Mütter, die die Familien durchbrachten und über das, was sie im Krieg und nach seinem Ende erlebt hatten, schwiegen, die Schuldgefühle und unterdrückten Aggressionen, das Verdrängen und große Schweigen in den Familien, das erst nach Jahrzehnten – manchmal – durchbrochen wurde.
Das Leben geht weiter, irgendwie, auch für die aus Bosnien Geflüchteten. Nach Ende der Jugoslawienkriege gingen viele zurück, ob freiwillig oder gezwungen. Manche blieben und fanden neuen Boden in der alten Heimat, manche hielten es nicht aus und gingen zurück in den Norden, nach Deutschland, Österreich, die Niederlande, oder noch weiter in die Vereinigten Staaten, nach Kanada oder Australien. Die Kinder mussten mit, ob sie wollten oder nicht. Manchmal gefiel es ihnen dort im neuen Land, manchmal nicht. An diesen Geschichten kann man auch einmal mehr lernen, was Schicksal bedeuten kann – in alle Richtungen.
So wie der Junge oben in dem netten älteren Deutschen seinen späteren Vergewaltiger traf, so fand eine bosnische Mutter auf einer Berliner Parkbank einen Obdachlosen, der sie heiratete, ihr und ihrer Tochter damit ein Bleiberecht sicherte, unter der Bedingung, dass er sich täglich wusch und sie ihm Bier besorgte. Dieses Zweckbündnis scheint ein Glücksfall für die drei geworden zu sein, denn schließlich eroberte der Stiefvater sogar das Herz der zunächst so widerspenstigen Stieftochter. Er lebt noch immer mit ihrer Mutter zusammen. Manchmal ist es auch wie im Märchen.
Heute leben wir in Zeiten neuer Flüchtlingsströme. Jetzt fliehen die Menschen vor Krieg und Terror in Syrien, vor der Unsicherheit im Irak und Afghanistan, vor Armut und Perspektivlosigkeit in Afrika. Sie landen zu Zehn- und Hunderttausenden in neuen Flüchtlingsunterkünften, improvisiert auf die Schnelle errichtet, und suchen einen Ankerplatz, wo sie bleiben und ein neues Leben aufbauen können.
Bei allen Unterschieden der Herkünfte und Kulturen, kann einem dieses Buch eine Ahnung davon vermitteln, wie es sich anfühlt, die lebensfeindlich gewordene Heimat verlassen zu müssen, in einem fremden Land zu landen, in vorläufigen Strukturen, eng zusammengepfercht mit anderen Menschen in Not, und wie wichtig das Gefühl ist, an einem Platz ankommen zu dürfen, den Anker werfen und sich einrichten zu können, ohne ständig in der Angst leben zu müssen, dass die Duldung aufgehoben wird und Abschiebung droht. Selbst wenn sie tatsächlich nicht passiert, allein die immerwährende Möglichkeit gräbt sich als Angst tief in das Unterbewusstsein der Menschen ein. Für viele ist es auch nach 20 Jahren noch schwer zu vertrauen, Wurzeln zu schlagen und Nähe zuzulassen.
Vor allem aber lassen uns diese 20 Lebensgeschichten Flüchtlinge als Menschen erfahren, mit eigenem, manchmal durch Pseudonym geschützten Namen, unverwechselbarem Schicksal, eigener Würde. Indem sich die Autorinnen auf sie einlassen, erfahren sie, und wir mit ihnen, dass sich im Leben der hier Befragten zwischen Kindheit und jungem Erwachsenensein, unter außergewöhnlichen Umständen, auch ganz normale Fragen stellen: Wer bin ich eigentlich, wie nabele ich mich von meinen Eltern ab, wie finde ich einen Partner und wo ist mein Platz in dieser Welt, wie lebe ich mein Schwulsein, soll, kann ich eine Familie gründen, und was ist meine Berufung?
Letztlich sind es Menschen aus Fleisch und Blut, deren Geschichten uns dieses Buch präsentiert, mit Kopf und Herz, aber auch mit ganz normalen Sehnsüchten und Nöten junger