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Blaue Reiter vor Verdun
Blaue Reiter vor Verdun
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eBook296 Seiten3 Stunden

Blaue Reiter vor Verdun

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Über dieses E-Book

Erster Weltkrieg. Vier Männer.
Einer flieht vor der drohenden Internierung. Die drei anderen ziehen nach Frankreich in den Kampf.
Nur einer kehrt von den Schlachtfeldern zurück.
Die Männer heißen Wassily Kandinsky, Franz Marc, August Macke und Paul Klee.
Der Blaue Reiter ist tot.
Das ist das Ende einer Geschichte, die mit einem unbekümmerten Jungen beginnt, der Indianer nicht nur spielt, sondern auch malt: August Macke.
Vor allem aus seinem Blickwinkel, später auch dem Franz Marcs und Paul Klees, erlebt der Leser die spannenden Aufbrüche am Beginn des 20. Jahrhunderts, zu denen auch der Blaue Reiter gehört. Ob Münter, Kandinsky, Marc, Werefkin, Klee oder Macke: Alle sind sie auf der Suche nach der Befreiung der Kunst aus den erstarrten Konventionen der Kaiserzeit.
Während Macke mit Marc in seinem Atelier das Paradies malt und mit Paul Klee auf die Tunisreise geht, verfinstert sich der Himmel über Europa. Nach den Schüssen von Sarajevo werden auch diese drei Maler in den Strudel des Kriegs hineingerissen.
Plötzlich stehen die paradiesischen Ideale des Blauen Reiters der grausamen Wirklichkeit von Verdun gegenüber.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum31. März 2015
ISBN9783737534819
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    Buchvorschau

    Blaue Reiter vor Verdun - Roland Künzel

    Roland Künzel

    Blaue Reiter vor Verdun

    Roman

    Roland Künzel, Jahrgang 1951, lebt in Berlin.

    weitere Veröffentlichungen bei epubli:

    Die Liebe in der Zeit des Mauerfalls, Roman, 2014,

      ISBN 978-3-7375-1079-0

    Boat People, Roman, 2015

      ISBN 978-3-7375-2641-8

    Titelgestaltung unter Verwendung des Umschlag-

      Bildes zum Almanach „Der Blaue Reiter" (1912/14)

      von Wassily Kandinsky

      Copyright © 2015 Roland Künzel

      Verlag epubli GmbH Berlin; www.epubli.de

      ISBN 978-3-7375-3481-9

    Prolog

    Da  ist  das  schleifende  Geräusch  des  Zimmermannsblei-

    stifts, der seine kräftigen Linien auf einem ungehobelten Brett hinterlässt. Je mehr sich die Mine auf dem rauen Untergrund abnutzt, desto breiter und stumpfer werden die grau schimmernden Striche. Sie zerfasern und verblassen frühzeitig. Manchmal schlägt der Stift Haken, dreht Pirouetten und springt unvermittelt in die Luft, um seinen Weg an anderer Stelle fortzusetzen.

    Das Geräusch, obwohl leise und unaufdringlich, hat August aus seiner tiefen Müdigkeit gerissen. Ein Stift, der über eine Unterlage gleitet... Das Schleifen und Schaben, das er schon so oft selbst erzeugt hat. Die Melodie, mit der auf dem Zeichenkarton eine Skizze entsteht; ein Baum, ein Mensch, ein Liebespaar.

    „Nächster!", bellt die Stimme von Unteroffizier Schrader, der eine Kladde mit grauem Feldpostpapier in der Hand hält. Der Gefreite König spitzt die stumpf gewordene Bleistiftmine mit wenigen kräftigen Bewegungen seines Messers wie einen Zaunpfahl an und geht dann befehlsgemäß vor dem nächsten Sarg in die Hocke.

    „Nummer 12!, diktiert Schrader und fügt hinzu: „Unteroffizier Friedrich Kurscheid! Er darf seinen Dienstgrad, grau schimmernd geschrieben, mit ins Grab nehmen. Das Geburtsdatum – er wurde immerhin 24 Jahre alt – wird auf einem der schlichten Holzkreuze stehen, die man hinter der zerstörten Dorfkirche für Kurscheid und seine siebzehn Kameraden aufgestellt hat. Mindestens drei von ihnen, so munkelt man in der Kompanie, sind durch die eigenen Leute ums Leben gekommen. Was ist passiert? Ein erbittertes Gefecht um das kleine belgische Dorf Porcheresse. Französische Infanterie hat den Ort besetzt, um den Vormarsch der Deutschen noch vor den eigenen Grenzen zu stoppen. Porcheresse ist um jeden Preis vom Feind zu säubern! lautet der Befehl an die 5. Kompanie des 9. Rheinischen Infanterieregiments. Verbissen kämpfen die Soldaten um jedes Haus und um jede Scheune. Als die Sonne untergeht, ist der Kampf noch immer nicht entschieden. In der Dämmerung verblassen die Farben. Das Ohr mutiert zum Zielfernrohr, weil das Auge nur noch Schemen sieht. Wer Freund und wer Feind ist, wird plötzlich ungewiss. Man schießt ins Dunkel... Erst im Morgengrauen klären sich die Fronten. Manchmal liegen Deutsche und Franzosen friedlich nebeneinander, im Tod vereint und nur durch die Farbe ihrer Uniformen zu unterscheiden.

    August Macke richtet sich auf und lässt seine Blicke über das Ruinenfeld schweifen. Aus den verkohlten Überresten von Menschen, Tieren und Häusern dringt beißender Qualm.

    „Und was machen wir mit den toten Franzosen?"

    „Gar nichts, Herr Feldwebel!"

    August lächelt müde. Seine braunen Haare hängen ihm schweißverklebt in die Stirn.

    „Die Frage ging eigentlich an mich selbst, Schrader... Aber Sie haben Recht. Es sind zu viele, und wir müssen weiter. Sollen sich die Belgier um sie kümmern!"

    Aus der westlichen Himmelsrichtung hört man Geschützdonner. Im Westen liegt Frankreich, nur noch einen, höchstens zwei Tagesmärsche entfernt.

                                              + + +

    Hagéville, 30 Kilometer vor Verdun.

    Man hat sich eingerichtet. Die Feldartillerie, 150 Batterien, ist außer Gefecht, weil sie nicht benötigt wird. Verdun schießt seit drei Tagen nicht mehr. Alles steht in einem ungewissen Warten, das doch seinen Grund haben muss... Das ist das Schlimmste am Krieg. Das Warten. Auch die Tagesroutine kann die latente Spannung nicht mindern. Trotzdem gaukelt sie ein geordnetes Leben vor: Aufstehen! Ofen anheizen! Waschen! Kaffee kochen! Essen fassen! Antreten! Die Augen lllinks! Rühren! Tagesbefehl verlesen! Am Mittag dann die Postausgabe, falls nicht wieder einmal hunderte von Postsäcken verbrannt sind. Diesmal nicht:

    „Ein Paket für Unteroffizier Marc!"

    Der Angesprochene, groß und hager, erhebt sich, um die Sendung in Empfang zu nehmen.

    Ein Paket... Wer dieses Wort fern der Heimat laut ausspricht, dem wenden sich in diesen Tagen sofort neugierige Blicke zu. Ein Paket, das heißt Tabak, Schnaps, Ellbogenwärmer, Hartwurst oder von der Liebsten selbst gehäkelte Socken für die ersten kalten Oktobernächte des Jahres 1914. Für Franz Marc heißt es diesmal: Schokolade. Ein Raunen geht durch die Reihen der Kameraden. Es gilt nicht nur dem Inhalt des Pakets, sondern auch seinem Herkunftsland: der Schweiz. Und seinem Absender: Fräulein Gabriele Münter.

    „Glückwunsch, Marc! Ein treues Eheweib in Ried... und eine spendable Freundin in der Schweiz... das hätte ich auch gern!"

    „Weiß denn die Maria von der Gabriele? Wir werden schweigen wie ein Grab – gegen ein paar Stücke Schokolade, versteht sich."

    Franz Marc nimmt den Spott der Kameraden gelassen hin. Natürlich wird er sie mit Kostproben der kostbaren Schweizer Schokolade versorgen... Da ist er großzügig. Ihn beschäftigt etwas ganz anderes, seit er auch von Kandinsky Post erhalten erhalten hat. Ebenfalls aus der Schweiz.

    „Ein Land, das sich nicht im Krieg befindet, murmelt er kopfschüttelnd. „Eigenartig.

    „Eigenartig? wiederholt sein Freund und Vorgesetzter Stephan. „Ich finde das eher beneidenswert! Nach allem, was wir bis jetzt durchgemacht haben! Oder hast du die Vogesenkämpfe schon vergessen?

    Marc zieht die Stirn über der vorspringenden Nase in tiefe Falten. Er muss an die Kameraden denken, denen die erbitterten Gefechte an den Bergflanken zum Verhängnis geworden sind.

    „Natürlich nicht, antwortet er nach einem Moment des Erinnerns.. „Aber trotzdem beneide ich die Schweizer nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich säße jetzt untätig in Ried oder München oder in der Schweiz herum, während hier im Feld der große Kampf ausgefochten wird – ich käme mir unnütz und leer vor. Bevor der Krieg vorbei ist, möchte ich gar nicht heim.

    „Zur Zeit haben wir hier nicht einmal einen kleinen Kampf", bemerkt Stephan nüchtern.

    „Ich wünschte, es wäre anders. Das Warten wird uns doch allen unerträglich. Aber wenn die Einschließung Verduns gelingt, sind die französischen Frontlinien nicht mehr zu halten. Dann fällt endlich die Entscheidung. Und dann ist der Krieg noch vor Weihnachten vorbei."

    Feldwebel Stephan sagt dazu nichts. Er stopft sich bedächtig seine Pfeife, zündet den Tabak an und bläst große, weiße Ringe in die Luft.

    Zwei Tage später bekommt Franz Marc schon wieder Post. Eine graue Feldpostkarte. Und wieder grinsen die Kameraden. Der Gruß ist nicht von Maria und auch nicht von Gabriele. Diesmal heißt die Absenderin Elisabeth. Elisabeth Macke aus Bonn, Bornheimer Straße. Lisbeth! Vor kurzem erst hat er sie zu Augusts Eisernem Kreuz beglückwünscht: Du musst stolz darauf sein, liebe Lisbeth! Hat sie den Glückwunsch an August weitergeleitet? Hat er ihr bereits darauf geantwortet?

    Franz hört nicht auf die spöttischen Kommentare der Kameraden: Aller guten Frauen sind drei... Er dreht die Karte um. Er hält inne. Dann verlässt er wortlos die Stube, fast fluchtartig.

    „Was ist denn in den Marc gefahren?" wundert sich nicht nur Feldwebel Stephan.

                                              + + +

    Da ist das amtliche Schreiben, ganz in Rot, lang erwartet, gefürchtet, unmissverständlich.

    „Jetzt bist du also auch an der Reihe", sagt Lily und wischt sich eine Träne aus dem Auge.

    Paul Klee scheint sich mehr für die Farbe des Papiers als für seinen Inhalt zu interessieren.

    „Was sie wohl mit dem Rot bezwecken? Ein Warnsignal? Du wirst jetzt einberufen. Dein Blut gehört von nun an nicht mehr dir selbst, sondern dem Vaterland und dem Schlachtfeld. Du darfst es dort freudig vergießen!"

    Lily Klee mustert ihren Mann kopfschüttelnd. Ihr Paul. Wie er vor ihr steht, schmächtig, der Kinnbart schütter und zerzaust wirkend, die dunklen Augen auf den unsäglichen roten Zettel gerichtet.

    „Paul, rede nicht einen solchen Unsinn. Immerhin bist du schon 35. Da wird man dir einen ruhigen Posten auf der Schreibstube verschaffen."

    Paul Klee lächelt sarkastisch.

    „Und neben dem Schreibtisch steht eine schöne Staffelei nebst den zugehörigen Malutensilien." Er ergreift Lilys Hand und drückt sie ganz fest. „Ach Lily, wenn es denn so wäre... Doch ich fürchte, wenn sie jetzt schon meinen Jahrgang einziehen, dann brauchen sie in Frankreich wirklich jeden Mann. Die Verluste sind einfach zu groß! Erinnerst du dich, wie sich Franz Marc bei seinem letzten Fronturlaub gewundert hat, mich noch in Zivil zu sehen? Aber diese Zeiten sind nun vorbei. Das nächste Mal wird er sich nicht mehr wundern!"

    Lily wendet sich ab. In diesem Moment hat sie die gleichen Bilder vor Augen wie ihr Mann: Gebeugte einbeinige Gestalten, die unbeholfen auf Krücken über das Münchner Straßenpflaster humpeln. Männer mit turbanartigen Kopfverbänden und schwarzen Augenklappen. Mit jedem Zug, der von der Front zurück kommt, scheinen sie sich zu vermehren. Sie bevölkern Parks und auch Cafés, sofern das Geld reicht. Sie sind nicht mehr zu übersehen. Manche verstecken sich schamhaft bei ihren fassungslosen Familien.

    Das rote Blatt Papier, das alles verändert. Sie lassen es auf der Kommode neben dem Garderobenständer liegen.

    An diesem Abend findet Paul Klee lange nicht ins Bett. Zu viele Bilder gehen ihm durch den Kopf, eigene und fremde, furchteinflößende. Scheinbar planlos räumt er die Schubladen mit seinen Utensilien aus und stapelt sie zu hohen Türmen aufeinander. Sieht so Ordnung machen aus? Und wenn ja – warum eigentlich? Sieht so Abschied nehmen aus? Oder geht es nur um Ablenkung?

    Als Klee einen der Türme mit dem Ellbogen zum Einsturz bringt, wacht Lily auf.

    „Komm ins Bett, Paul", murmelt sie schlaftrunken.

    Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, als hätte er soeben Schwerstarbeit  geleistet.

    „Ich komme", sagt er. Nur noch schnell den Schweiß von Stirn und Händen waschen und leise, leise zurück ins Schlafzimmer gehen. Lily ist schon wieder eingeschlafen.

    Paul legt sich neben sie und verkriecht sich bis zum Kopf unter seiner Bettdecke. Schutz suchen. Ruhe finden.

    Er schreckt auf. Die Türklingel läutet, aber nicht kurz und rücksichtsvoll, sondern lang und durchdringend. Paul Klee schaut auf die Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht.

    1. Kampf um Köln

    Ein Pfeil zischt durch die Luft, sucht sein Ziel und bohrt seine Spitze in das Gesicht eines elfjährigen Jungen. Wie eine Antenne ragt das metallene Geschoss aus seinem rechten Auge. Schreiend und blutend rennt der  Junge davon. Sein Freund ist ihm auf den Fersen.

    August! Warte!

    August, wie von Sinnen, rennt weiter und hinterlässt eine blutige Spur. Der Pfeil in seinem Auge schwankt hin und her, als wäre er eine Kompassnadel, die den Weg weisen will. Aber das Schlachtfeld ist unwegsam: Halbfertige Baugruben; Schutthügel, die von Brennnesseln überwuchert sind, eingestürzte Grundmauern, Steinhaufen, Weidenbüsche.

    August! Bleib stehen!

    Er blutet. Er schreit. Er rennt.

    Hans, der Freund, verfolgt ihn weiter. Er macht wertvolle Meter gut. Er gibt nicht auf. Sein Keuchen geht im Schreien unter. Noch ein Schritt, ein Satz, und er hat August eingeholt.

    Ein Ruck. Hans greift zu. Der Pfeil fliegt in hohem Bogen davon. August ist stehen geblieben. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Die kurzen, braunen Haare sind schweißnass. Aus einem kleinen Loch neben dem rechten Auge sickert frisches, hellrotes Blut. Hans zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und reicht es August. Der presst es auf die Wunde. Wie lange sie so, umgeben vom Schlachtenlärm, verharrt haben, wissen sie später nicht. Waren es nur Sekunden? Irgendwann nimmt August das blutige Taschentuch seines Freundes aus dem Gesicht. Er grinst.

    Glück gehabt. Oder bin ich jetzt einäugig?

    Hans atmet tief durch.

    Das hätte ins Auge gehen können! Im wahrsten Sinne des Wortes! Wasch' Dich erst mal zuhause!

    Kommt nicht in Frage. Revanche!

    Sie kehren um.

    Und während sie sich wieder der Frontlinie nähern, von der sie gekommen sind, wirft Hans seinem großen, kräftigen Kameraden einen Blick zu, der zwischen Verwunderung und Bewunderung schwankt.

    Der Kampf geht weiter. Für Wehleidigkeit ist kein Platz. Wem gehört Köln? Altstadt gegen Neustadt; Eingesessen gegen Zugezogen, Katholiken gegen Protestanten. Heute gewinnt die Neustadt. Hans, August und ihren Freunden gelingt es, die Gegner zu umzingeln und zwei ihrer Anführer mit einem Lasso einzufangen. Sie wissen, was ihnen blüht. Die Marterpfähle sind bereit. Sie bestehen aus Holzbalken, welche die Jungen eigenhändig in den sandigen Boden gerammt haben. Nach dem Fesseln heißt es Hosen runter, und dann wird mit Brennnesselruten ausgepeitscht. Indianer kennen keinen Schmerz. Oder doch?

    Wenn mit dem Abend der Hunger kommt, ziehen Freund und Feind nach Hause und überlassen das Schlachtfeld den herrenlosen Hunden. Der Lärm ebbt ab.

    Was wird der nächste Tag bringen? Wie wird der Heeresbericht lauten? In der Neustadt nichts Neues?

    Nach dem Abendessen liegt ein elfjähriger Junge in seinem Bett und befühlt ein dickes Pflaster am rechten Auge. Durch das offene Fenster im Parterre hört er das Klappern und Rattern der Pferdefuhrwerke auf der Brüsseler Straße. Die Hufe wiegen ihn in den Schlaf. Er merkt nicht, wie seine Mutter ganz leise hereinkommt und besorgt nach ihrem einzigen Sohn schaut, der zusammengerollt unter seiner Bettdecke liegt. Nur der braune Haarschopf quillt hervor. Die Decke hebt und senkt sich unter seinen ruhigen, regelmäßigen Atemzügen.

    Er träumt von Schwebebahnen, Dampfschiffen, Torpedos und großen Kanonen; von Schlachten, die geschlagen wurden und Schlachten, die noch zu schlagen sind.

                                              + + +

    Hans. Habsburgerring. Ein Unfall.

    Ein Junge springt von einem fahrenden Straßenbahnwagen, stolpert, stürzt und wird vom Gegenzug überrollt. Er hat keinen Fahrschein. Als er im Krankenhaus aufwacht, hat er keine Beine mehr. Der Kampf um Köln ist vorbei, an diesem Frühlingstag des Jahres 1899. Statt tückischer Pfeile und Lassoschlingen huschen schwarzgekleidete Schwestern durch die Flure und Krankensäle des Bürgerhospitals. Gegrüßet seiest Du, Maria, Du bist voller Gnaden... Wochenlang schwebt Hans zwischen Leben und Tod.

    Die Familie kommt zu Besuch; Mutter, Vater, Onkel, Tanten. Sie sind verlegen. Was sollen sie sagen?

    August kommt, zum ersten Mal. Er ist nicht verlegen. Er weint, als er seinen Freund sieht. Dann siegt die Neugier.

    Zeig' mal, sagt er, und Hans muss die Bettdecke so weit herunterziehen, dass man die beiden bandagierten Beinstümpfe sehen kann.

    Jetzt stell' dir mal vor, sinniert August, du wärst noch tiefer unter die Räder gekommen. Vielleicht an dieser Stelle. Oder an dieser...

    Er ist aufgestanden und demonstriert an seinen Oberschenkeln, was er meint. Die Handkante ersetzt das verderbenbringende stählerne Rad des Straßenbahnwagens. Sie rutscht nach oben; wandert bis zu der Stelle, wo sich zwischen den Schenkeln etwas befindet, über das sie schon oft Witze gemacht haben....

    Stell' dir vor, die Räder wären h i e r über dich -, und der Rest geht in prustendem Gelächter unter.

    Besorgt schaut die barmherzige Schwester Eusebia durch den Türspalt. Gegrüßet seiest Du, Maria... Sie sieht zwei zwölfjährige Jungen, die sich gegenüber sitzen und den Bauch halten vor Lachen. Danach ist Hans so erschöpft, dass er  wieder in seine Kissen zurücksinkt. Aus halb geschlossenen Lidern mustert er den Freund, der im Zimmer auf und ab geht. Bewunderung? Verwunderung? Eben noch einen Pfeil im Gesicht, und schon denkt er ans Weitermachen.... Die blitzenden, braunen Augen, die Witz und Freude verströmen, aber auch rätselhafte Melancholie... So etwas kann ein Zwölfjähriger noch nicht beschreiben. Aber er spürt es.

    Morgen komme ich wieder, sagt August zum Abschied. Und dann bringe ich dir etwas mit.

    Er hält Wort.

    Rate mal, was ich dabei habe!

    August hat das Krankenzimmer betreten und hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

    Keine Ahnung.

    Hans setzt sich im Bett auf und vergisst für einen Moment die Schmerzen in seinen frisch verbundenen Beinstümpfen.

    Etwas, womit du immer gern gespielt hast. Ich habe es gestern für dich geschnitzt.

    Mach's nicht so spannend, August.

    Attacke!!!

    Mit drohend gezücktem Schwert springt August vor das Bett des Amputierten, als wolle er ihn zum Duell herausfordern. Attacke!

    Hans schaut zur Seite.

    Ein Schwert, sagt er leise.

    Was ist? Freust du dich denn gar nicht?

    Ach schon, antwortet Hans, ohne August anzusehen. Er schämt sich seiner Tränen, während er sich seiner Kämpfe erinnert: draußen, zwischen Brennnesseln, Ziegelsteinen und Marterpfählen. Pfeile, Lassos, Schwerter, Geschrei; Angriff und Rückzug, wenn die Übermacht der Feinde zu groß war. Sprünge wie ein Känguru; Hangeln, Klettern mit Armen und Beinen... mit Armen und Beinen...

    An diesem Tag verlässt August das Krankenhaus gesenkten Kopfes. Am Gürtel seiner Hose baumelt lustlos ein hölzernes Schwert, das später auf seinem Kleiderschrank verstauben wird.

                                              + + +

    Wieder steht Schwester Eusebia als schwarzer Schatten in der Tür, und wieder traut sie ihren Augen nicht. Diesmal hat kein unpassendes Lachen ihren Verdacht erregt, sondern die Tatsache, dass aus dem Krankenzimmer, in dem die beiden Buben sind, kein einziger Laut dringt.

    Was ist los?

    Wieder sitzen sich Hans und August gegenüber; der eine mühsam aufgerichtet in seinem Bett, der andere auf dem Schemel, der daneben steht. Nein, diesmal halten sie sich nicht die Bäuche vor Lachen. Die Atmosphäre am Krankenlager hat sich verändert. Zwischen Schemel und Bett steht ein kleiner Tisch, und auf dem Tisch liegt ein Bogen Papier, der von bunten Kamelen, Dattelpalmen, Minaretten und Beduinen bevölkert ist.

    Ein Pinsel gleitet lautlos durch die Szenerie, verharrt kurz, beschreibt einen Kreis und verschwindet schließlich im Teeglas des Patienten, das statt Kamillentee nun trübes, schmutziges Wasser enthält. Schwester Eusebias Mund öffnet sich erstaunt, aber sie sagt kein einziges Wort.

    Knallgelb und gnadenlos prallt die Wüstensonne vom wolkenlosen Himmel - ... wie bitte? Das ist dir zu heiß? Zu trocken? - bis sich das Firmament durch wenige Pinselstriche verfinstert, grau wird, schwarz wird, und ein Wolkenbruch auf die armen Kamele und ihre Beduinen hinunterprasselt. Die letzten Tropfen pustet August über das Papier, bis sie getrocknet sind.

    Jetzt geht's erst richtig los! Amerika!

    Die Wüste wird zur Seite gelegt, das nächste Blatt hervorgezogen und das schmutzige Wasser im Teeglas erneuert. Amerika...: Indianer mit abenteuerlich rot und weiß geschminkten Gesichtern. Mustangs mit wehenden Mähnen. Tomahawks! Lassos! Marterpfähle... er kann nicht aufhören. Aber Hans sagt kein Wort. Er schaut. Mit den Blicken ist er ganz nah bei den Bildern, die sein Freund für ihn malt. Mit den Gedanken ist er ganz weit weg: Auf großen, starken Beinen durchquert er die Wüste Sahara, durchwatet den Atlantik und erreicht mit Siebenmeilenstiefeln das Land der Prärien und unendlichen Träume.

    Schwester Eusebia schließt leise die Tür und zieht aus ihrer schwarzen Nonnenkluft ein kleines weißes Taschentuch. Ganz unauffällig wischt sie sich damit über die Augen. Sie entfernt sich auf Zehenspitzen.

    2. Carmen

    Ein Sommerabend im Tannenbusch, dem großen Exerzierplatz im Norden der Stadt, auf dem sich keine einzige Tanne befindet. Dafür wird er von hochgewachsenen Pappeln eingerahmt, die noch auf Napoleon zurückgehen. Die Neuzeit hat dem Gelände eine weitere Begrenzung gebracht: den Bahndamm. Immer wieder poltern auf seinen Gleisen funkenspeiende Lokomotiven vorüber und ziehen dabei lange, weiße Dampfwolken hinter sich her.

    August liegt im Gras unter den Bäumen, schaut den Zügen nach und sieht zu, wie sich hinter ihnen die Wolken in der Glut des Abendhimmels langsam auflösen. Erst hatte der weiße Nebel, der aus dem Schornstein gequollen ist, den Horizont verhüllt und seine leuchtenden Farben ausgelöscht. Doch je dünner die Dampfschwaden werden, desto stärker gewinnt das Licht wieder die Oberhand: Es kündigt sich an als ein zartes Blau, zu dem sich allmählich violette Töne gesellen, die schließlich dem flammenden Rot des Firmaments Platz machen.

    August kaut an einem Grashalm. Er schmeckt nach Sommer. Es riecht nach Sommer. Sommerlicht. Sommerwärme. Die Arme im Nacken verschränken. Hochschauen, dorthin, wo die Welt zuende ist. Die Farben eines Sommerhimmels, der nicht dunkel werden will, rieseln auf ihn herab wie Sternschnuppen. Ist er glücklich?

    Er lächelt, weil ihm das Mädchen eingefallen ist, das ihm täglich auf dem Schulweg begegnet. Ihre schwarzen Haare hat sie im Nacken locker zusammengesteckt. Sie kann nicht viel jünger sein als er; vielleicht ist sie fünfzehn. Sie scheint die Töchterschule zu besuchen. Jedenfalls geht sie morgens in ihre Richtung und kommt mittags von dort zurück.

    Das Mädchen irritiert ihn. Es weicht seinem Blick nicht aus, wenn es an ihm vorbeigeht. Im Gegenteil: freundlich, mit einer Spur von Neugier, schaut es ihm ins Gesicht und hält seinem Blick stand. Das ist ungewöhnlich. Und wenn es manchmal sogar lächelt bei der Begegnung, dann deswegen, weil es ihrerseits in zwei aufmerksame braune Augen schaut, die unter der Krempe eines schwarzen Schlapphuts hervorleuchten. Einen Packen

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