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Rattenjagd
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eBook581 Seiten8 Stunden

Rattenjagd

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Über dieses E-Book

"Ratten sind Ungeziefer. Und sie müssen gejagt werden."
Sie gibt sich die Schuld an dem Tod ihrer Mutter. Und an dem Verlust ihres Bruders. Sie will niemandem mehr vertrauen.
Doch dann trifft Jamie auf Ace, der ihr hilft ihren großen Bruder wiederzufinden.
2074. In einer Welt, in der sich die Regierung gegen die Kinder stellt, kämpft Jamie um ihre Freiheit, um ein Wiedersehen mit ihrem Bruder und um die Wahrheit, die sich ihr immer wieder zu entziehen scheint.
Und neben all der Schuld, die sie innerlich zerstört, muss sie sich ihren Gefühlen für den Jungen stellen, der an all dem schuld sein könnte …
Was würdest du tun, wenn du alles verloren hättest? Wenn du niemandem trauen könntest? Würdest du es trotzdem riskieren?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Okt. 2017
ISBN9783742773432
Rattenjagd

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    Buchvorschau

    Rattenjagd - Charleen Pächter

    Widmung

    Für meine Mama,

    die immer für mich da ist und mir so viel mehr gibt, als ich zugeben will.

    Für meinen Papa,

    der meine Motivation und mein Vorbild in so vielen Dingen ist.

    Für meinen großen Bruder,

    der mir mehr bedeutet, als er ahnt.

    Für meine Freundinnen,

    die es immer schaffen, mich zum Lachen zu bringen.

    Und schlussendlich ...

    Für mich,

    da es schon immer mein Traum war,

    ein eigenes Buch zu veröffentlichen.

    04.06.2073 - Bekanntgabe

    Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gibt am 4.06.2073 das Einzugsgesetz (EZG) bekannt, welches aufgrund der Terroranschläge und der veröffentlichten Forschungsergebnisse der Research Station of Army eine notwendige Maßnahme zum Schutz der amerikanischen Bevölkerung darstellt.

    §4 EZG

    (1) Dieses Gesetz tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft.

    (2) Alle US-Bürger sind dazu verpflichtet, ihre Kinder im Alter von 1 bis 21 Jahren an ausgeschriebenen Sammelstellen in die Obhut des amerikanischen Militärs zu übergeben.

    (3) Es wird eine Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen vorgenommen. Kinder unter 12 Jahren werden in Vorbereitungslager gebracht. Kinder ab 12 Jahren stellen eine größere Gefahr dar und müssen in speziellen Militäreinrichtungen vor sich selbst und der Außenwelt geschützt werden.

    (4) Jeder volljährige US-Bürger ist dazu verpflichtet, den Schutz eines Zeltlagers in Anspruch zu nehmen, welche am Rand der Städte eingerichtet wurden, um ihre Sicherheit zu garantieren.

    (5) Diese Maßnahme dient nicht nur dem Schutz der Vereinigten Staaten von Amerika. Es müssen alle Maßnahmen in Betracht gezogen werden, um eine globale Verbreitung zu verhindern.

    Verweis auf das Isolationsabkommen mit den Vereinten Nationen

    Prolog

    Sie haben sich gegen uns gerichtet.

    Sie werden uns finden. Uns alle.

    Und sie werden uns töten.

    Ich plumpse in die weichen Decken und halte mir den Bauch vor Lachen. Tränen steigen mir in die Augen und meine Wangen schmerzen, als hätte ich die letzten zwei Tage nichts getan außer gelächelt. Neo baut sich über mir auf und zeigt mit einem Zeigefinger auf mich. In seinem rundlichen Gesicht bilden sich kleine Grübchen, weil er ein breites Grinsen auf den Lippen trägt. Die schwarzen Haare stehen ihm wild vom Kopf ab und ein belustigtes Funkeln tritt in seine blauen Augen. „Jetzt hab ich dich! Ich hab doch gesagt, dass du gegen mich nicht ankommst." Ich sehe mich in seinem Kinderzimmer um und entdecke ein großes buntes Kissen neben seinen vielen Spielzeugautos. Im nächsten Moment feuere ich ihm das Kissen ins Gesicht und stürze mich kichernd auf ihn.

    „Das hast du dir wohl so gedacht!", kreische ich und meine hohe Kinderstimme vermischt sich mit dem Regen, der draußen auf die Erde niederprasselt. Auf die heile Erde. Die Erde, die mein zuhause ist. Die Erde, die mich sonst immer behütet hat und mir Schutz bot.

    Ein Poltern lässt mich aus meinem leichten Schlaf erwachen und Sekunden nachdem ich die Augen aufgeschlagen habe, bin ich auch schon in höchster Alarmbereitschaft. Meine schweißnassen Finger kriechen über den eiskalten Beton, bis sie das glatte kühle Metall erreichen, das mein Herz sofort um ein paar Takte langsamer schlagen lässt.

    Wieder ein Poltern. Und dann Stille. Mein Atem bildet weiße bauschige Wölkchen in der Luft, während ich mich so leise wie möglich aus meinem Schlafsack schäle und mein M16- Gewehr schussbereit auf die Tür richte.

    Als ich aufstehe, zittern meine Knie, weil es so frostig ist. Das Adrenalin pumpt bereits durch meine Adern und hinterlässt ein dumpfes Pochen hinter meiner Schädeldecke. Kalter Schweiß rinnt mir den Nacken hinunter und verursacht mir eine Gänsehaut.

    Ein Kratzen ertönt an der Metalltür, dann ist es wieder still. Meine klammen Finger am Abzug meines Gewehres warten darauf, endlich Erlösung zu finden, doch ich gebe ihnen keine, noch nicht.

    Bilder flackern vor meinem geistigen Auge auf und ich sehe Neo. Wie er mit seinen schwarzen Haaren vor mir steht und mich anlächelt, so als wäre alles normal, als würde ich nicht in der Garage eines Fremden wohnen und mich mit einem M16- Gewehr in den Schlaf wiegen. Als würde er nicht gerade irgendwo die Hölle durchmachen und vielleicht sogar schon gestorben sein. Und als wäre das nicht meine Schuld.

    Er lächelt mich an. Warm. Warm und liebevoll, so wie man seine kleine Schwester anlächelt. So wie früher.

    Plötzlich landet etwas Schweres in der Tür und ich erkenne das scharfe Metallblatt einer Axt, die sich in die Tür bohrt. Noch ein Schlag und noch einer. Das Dröhnen und Vibrieren des Metalls, das auf Metall trifft, lässt meine Ohren klingeln.

    Das Blut rauscht in meinem Kopf und mein Herz scheint mir fast aus der Brust springen zu wollen, doch ich atme tief durch und umklammere mein M16 noch ein wenig fester. Jamie, komm schon. Denk nach. Was würde Neo tun? Was würde er tun, um zu überleben? Ich presse die Zähne aufeinander und sehe mich um, indes die Axt immer mehr von der schmalen Tür nieder hackt. Ich bin umgeben von Kisten. Kisten mit Werkzeug, Kisten mit Deko und Weihnachtsschmuck und Kisten voll Spielzeug, das den Kindern gehört, die jetzt sicher schon tot sind. Ein Rasenmäher steht in der einen, eine lange Werkbank in der anderen Ecke und hier am hinteren Teil der Garage bieten aufgestapelte Kartons sowie altes Mobiliar einen guten Sichtschutz. In Sekundenschnelle, die mir wie Stunden vorkommt, hetze ich hinter den Wall aus Gerümpel und presse mein M16 an mich.

    Ich luge durch einen Spalt zwischen einem riesigen Pappkarton und einem schäbigen Regal, das voller Keramikkännchen ist. Ein letztes Mal schlägt die Axt beunruhigend kraftvoll in die Tür ein, bevor diese nachgibt.

    „Wo bist du? Komm raus, kleine dreckige Ratte!", brüllt die Gestalt durch die Türöffnung. Ein robuster Stiefel tritt den letzten Rest des Metalls aus dem Weg und bevor sich die Person, die in meinen Schlafplatz eingedrungen ist, richtig aufrichten und das Innere betrachten kann, fällt sie auch schon schreiend in sich zusammen.

    Mein Finger zittert am Abzug. Meine Augen sind geweitet, geschockt schaue ich auf den gekrümmten Mann am Boden, der sich kreischend windet und dessen Schreie schon bald verstummen.

    Neo erscheint mir wieder und winkt mir fröhlich zu, sein Gesicht ist zu einem schelmischen Grinsen verzogen, das mich an früher erinnert und nicht so recht zu seinem Alter passt. Er lacht und winkt mich zu sich, ich gehe auf ihn zu, nehme seine Hand und schaue nach oben. In sein Gesicht. In das Gesicht, das ich schon mein ganzes Leben kenne, das mich jeden Tag begleitet hat. In das Gesicht, das plötzlich von einer Kugel durchbohrt wird und zu einer fleischigen Masse aus Blut und Knochen zersplittert. Das Gesicht, das nicht mehr bei mir ist. Das ich im Stich gelassen habe. Neos Hand fällt aus meiner und langsam, wie in Zeitlupe sinkt sein steifer Körper in sich zusammen.

    In dem kalten Wind, der durch die Öffnung pfeift, schwingen die Überreste der Metalltür quietschend hin und her. Ich löse mich aus meiner Starre und schultere mein M16- Gewehr, bevor ich mir meinen Rucksack greife, alle Sachen darin verstaue und zu dem Mann im karierten Flanellhemd an der Tür trete. Ich beuge mich über ihn und sehe ihm in die starren Augen. Er ist ein ganz normaler Mann. Vielleicht hatte er eine Frau, hatte Kinder, die ihm genommen wurden oder hat sie breitwillig weggegeben, weil die Regierung durch ihre monatelange Propaganda den Erwachsenen eine solche Angst vor Jugendlichen eingetrichtert hat, dass sie alle Lügengeschichten glauben.

    In ihnen wurde eine brennende Angst vor uns Ratten herangezüchtet, der sie mit Wut und Gewalt begegnen. Ich schüttle traurig den Kopf, wende den Blick von der Leiche ab und trete über sie hinweg.

    Zügig durchquere ich den Garten des Hauses, das hinter mir liegt, nehme das Knirschen meiner Stiefel im Schnee unter meinen Füßen wahr und verschwinde in dem Wald, aus dem ich vor ein paar Tagen gekommen bin. Gekommen um Schutz zu suchen. Schutz und Geborgenheit. Dinge, die man in einer Welt wie dieser nur noch selten findet. Schneeflocken schweben sachte auf mich nieder, der Himmel dunkel und grau über und der harte gefrorene Boden unter mir. Gekommen um Schutz zu suchen und gegangen, um zu flüchten. Zu flüchten vor dem Tod. Dem Tod, der mich heimsucht, mich und all die anderen Kinder in diesem Land.

    Und Neos Gesicht taucht vor mir auf, lächelnd. Er will mich aufmuntern und mir zeigen, dass er trotzdem da ist, in meinem Herzen.

    Doch alles was ich sehe, ist das, was ich verloren habe und nie wieder zurückbekomme.

    Sie haben Angst vor uns. Vor uns, den Kleinen, der jungen Generation. Niemand weiß, was sie mit denjenigen machen, die sie mitnehmen, doch ich gehe davon aus, dass sie sie nicht zu Disney World fahren, damit die Kinder dort ihren Spaß haben.

    Angefangen hat alles mit den Anschlägen am Day One. Sehr vielen Anschlägen und Schießereien überall in den Staaten. Die Regierung rief einen Ausnahmezustand aus und untersuchte das Geschehen. In den Nachrichten wurde dann publiziert, dass die Täter Jugendliche sein sollten. Die genaue Ursache, weshalb diese Kinder das getan hatten und warum so viele Menschen dabei sterben mussten, war noch unklar.

    Doch wenige Monate später erklärte unsere Regierung, dass dies ein allgemeines Problem sei. Ein gefährlicher Virus, ausgelöst durch den gravierenden Anstieg der Chemikalien in der Luftschicht über den USA habe in den letzten Jahren zu einer Veränderung in den unentwickelten Gehirnen der Kinder und Jugendlichen geführt. Dieser Virus sei so aggressiv, dass er sich durch das bloße Einatmen der infizierten Luft übertragen ließe und bestimmte Arsenale im Gehirn beeinflusse. Erwachsene seien davon jedoch ausgenommen, da ihr vollständig entwickeltes Gehirn über biochemische Abwehrmechanismen verfüge, diese seien jedoch bei Jugendlichen in der Pubertät noch nicht ausgebildet. Wissenschaftler erklärten im Fernsehen möglichst einfach die Veränderungen, die der Virus hervorruft. Der Anger- Virus schleuse seine Erbinformationen in die Zellen im Gerhin ein und programmiere diese so um, dass sie weitere infizierte Viruszellen produzieren, sodass der ganze Mensch nach kurzer Zeit mit infiziert sei. Dieser Vorgang sorge dafür, dass sich das Aggressionspotenzial erheblich steigere und die Schwelle zur Gewaltbereitschaft sinke, da die Viruszellen verstärkt das Aggressionszentrum im Gehirn angreife.

    Seit dieser Nachricht hat sich alles verändert. Menschen hatten plötzlich Angst vor mir und den anderen Kindern, Erwachsene kehrten uns den Rücken oder beschimpften uns grundlos als Abschaum und wertlos, weil wir infizierte Ratten seien.

    Nach dieser Erklärung wurde das Einzugsgesetz erlassen, das besagt, dass sich alle Kinder und Jugendlichen einer Untersuchung unterziehen und von den Erwachsenen abgeschottet werden müssen. Natürlich unter militärischer Bewachung. Die nachfolgenden Wochen bestanden nur aus wutentbrannten Demonstrationen sowie Aufständen der Eltern, die ihre Kinder ganz sicher nicht weggeben wollten, misstrauischen Blicken und gehässigen Bemerkungen von manchen Erwachsenen. Zu dieser Zeit ahnten wir noch nicht, wie uns die Regierung verändern und regelrecht jagen wollte.

    Es begann eine Hetzjagd der grausamsten Art.

    Die Kinder mussten weg, so oder so.

    Jamie

    Ich lasse den Wald langsam hinter mir und schleiche eine kleine Landstraße entlang. Geduckt gehe ich schnellen Schrittes neben dem Asphalt her und halte den Kopf gesenkt. Mein Magen knurrt, doch meine gesamten Vorräte musste ich in der Eile zurücklassen. Der Frost kriecht über die Felder zu meiner Rechten und lässt meine Umgebung hart und stumpf aussehen, doch wenn sich ein morgendlicher Sonnenstrahl einen Weg durch die dichten Wolken bahnt, glitzern die Eiskristalle in dem Meer aus Grashalmen, das sich um mich erstreckt und nur durch die schmale Straße durchbrochen wird. Wenn ich vor der Dämmerung nicht in der nächsten Stadt bin, werden sie mich finden. Ich lege einen Zahn zu und beschleunige meine Schritte.

    Ein rostiger Cadillac rumpelt an mir vorbei und ich drücke mein Gesicht noch ein Stück tiefer in die gefrorene Erde. Nachdem er um die nächste Kurve verschwunden ist, rapple ich mich wieder auf, schultere mein M16 und führe meine schleunige Wanderung fort. Die Sonne steht nun schon etwas höher am Himmel und hat die schwarze Dunkelheit komplett vertrieben, nur unter den vereinzelten Bäumen, die ihre kahlen Äste in dem eisigen Wind wiegen, findet man Schatten der Nacht. Ich vergrabe meine Hände tief in meinen Hosentaschen und spüre einen kleinen schmalen Gegenstand zwischen meinen Fingern. Ein Projektil.

    Vor ein paar Monaten, als ich noch nicht vollkommen allein war, waren meine Mom, Neo und ich auf der Flucht. Später erfuhren wir von Basis Alpha. Der vermeintlich einzig sichere Ort, der Schutz für uns Ratten bietet.

    Nachdem im Juni das Einzugsgesetz erlassen wurde und die ersten Kinder in den Sammelstellen abgeben wurden, dauerte es nicht lange, bis Präsident Aloun ein Abkommen mit den Vereinten Nationen schloss. Dieses Abkommen basierte auf einem Handel, der beiden Seiten zugute kam. Die Vereinten Nationen verpflichteten sich, unser Land mit dem Notwendigen zum Überleben wie Lebensmittel oder Kleidung zu versorgen, während unser Land in eine völlige Isolation abtauchte.

    Im Gegenzug versprach Aloun alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Ausbreitung des Anger- Virus zu unterbinden und die USA soweit abzuschotten, dass das Risiko möglichst gering blieb. Die Proteste und Demonstrationen nahmen ein schlimmes Ausmaß an, während die Politiker ihre schnöden Verträge schlossen, die Zahl der Opfer stieg immer weiter, bis das ganze Land im Chaos versank. Als der Winter hereinbrach, flüchteten wir schließlich und statteten uns mit Waffen aus.

    Die Research Station of Army stampfte eine Spezialeinheit aus dem Boden, die alle Minderjährigen finden und in die militärischen Einrichtungen bringen soll, in denen versucht wird, die gefährlichen Viruszellen davon abzuhalten, in den Köpfen der Kinder herumzuspuken. Meine Familie ist im letzten Jahr das Wichtigste für mich geworden und doch bin ich daran Schuld, dass ich sie verloren habe.

    Ich fühlte, dass etwas nicht stimmte, bevor wir auch nur einen Schritt in die Nähe des Gebäudes gesetzt hatten. Doch ich verdrängte das Gefühl und redete mir ein, dass ich paranoid sei, aber die kleine Stimme in meinem Kopf sollte Recht behalten.

    Es stimmte etwas ganz und gar nicht mit dem Gebäude, in dem wir unser nächtliches Lager aufschlagen wollten.

    Es handelte sich bei dem Gebäude um eine schicke Kirche, die durch ihre trostlose Umgebung ihren Glanz verloren hatte. Merkwürdigerweise fühlten wir uns zu diesem Haus Gottes hingezogen, wahrscheinlich dachten wir, dass uns in einer Welt der Zerstörung trotzdem der Schutz des Glaubens sicher war.

    Ich will nicht benennen, was es war, dass uns auf genau dieses Gebäude zuzog, nein, ich kann gar nicht benennen, was es war, vielleicht so etwas wie Hoffnung. Und trotzdem schien uns dieses Gebäude, umgeben von der Einsamkeit des Todes die richtige Wahl, um eine Nacht lang die Kräfte zu regenerieren.

    Neo öffnete die große Tür mit einem unheimlichen Quietschen und betrat den polierten Marmorfußboden, der unsere ausgehungerten Körper widerspiegelte. Mom machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem oder nur etwas Wasser, das wir zu uns nehmen hätten können, ja sogar Weihwasser hätte ich gierig verschlungen.

    Denkst du, wir sind hier sicher?", fragte Neo, breitete eine Decke auf einer der Gebetsbänke aus und sah sich misstrauisch um.

    Ich weiß nicht, ich hatte vorhin so ein komisches Gefühl, das ..." Ein Schrei, hoch und einem Sterbensschrei gleichend ließ mich innehalten. Neo erstarrte in seinen Bewegungen und schlich lautlos wie eine Katze durch die schmalen Gänge, durch die kurz zuvor unsere Mom gewandelt war. Eine dunkle Ahnung legte sich über mich und schnürte mir die Luft ab. Ich folgte ihm und zusammen betraten wir einen Raum, der mir immer in Erinnerung bleiben wird, solange ich lebe. Ein Soldat stand neben Mom, die Waffe auf sie gerichtet. Zwei weitere traten hinter uns durch die Tür, ihre Waffen bereit.

    Neos Finger am Abzug seiner Glock, die er in der Hand hielt, zitterte und seine Augen waren weit aufgerissen, auf Mom gerichtet. Meine Mom war kreidebleich und sah mich eindringlich an, sie nickte kaum merklich mit dem Kopf, bevor der Soldat das Wort an uns richtete. Seine Uniform war komplett in Schwarz gehalten und mit einigen Fächern und Schlaufen für Waffen und Munition ausgestattet. Eine Maske bedeckte sein Gesicht, nur die Augen schauten uns stechend an.

    Sie sind festgenommen. Madame, bitte treten sie zur Seite, damit wir die Zielpersonen abführen können." Er wandte sich Mom zu und nickte beruhigend.

    Es ist besser so, Madame, glauben sie mir. Ich tauschte einen wissenden Blick mit Neo und dann ging alles ganz schnell. Ein Schrei zerriss dieses grausame Schauspiel, das Mutter und Kinder entzweireißen sollte, als ich den Abzug an meinem Finger spürte und mich der Rückschlag meines Gewehrs gegen die Wand presste. Der Soldat hielt sich die Schulter, Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch, die anderen beiden hatte Neo bereits erschossen. So leicht würden sie uns nicht mitnehmen können, nicht ohne Gegenwehr. Dies hatte uns der raue Kampf ums Überleben in den letzten Monaten gelehrt. „Beruhigt euch. Ich will euch nichts tun. Dort wo ich euch hinbringe, wird es euch besser gehen, begreift es doch. Beschwichtigend hob er die Schultern und krümmte sich unter den Schmerzen zusammen.

    Sie werden uns niemals einbuchten, das können sie vergessen., feuerte ich ihm entgegen und klammerte mich an meine Waffe. Plötzlich schnappte sich der Soldat unsere verängstigte Mutter und benutzte sie als Schutzschild. Der Lauf seiner Handfeuerwaffe presste sich zwischen Moms Schulterblätter. Wütend funkelten uns seine blauen Augen an. „Ihr habt es nicht anders gewollt. Entweder ihr kommt mit mir oder ich kann nicht für die Sicherheit eurer Mutter garantieren. Neos Kieferknochen mahlten, während seine Augen hin und her huschten und einen Ausweg suchten.

    Bitte, das können sie doch nicht tun. Sie sind doch noch Kinder.", flehte meine Mom und hielt sich ganz still vor der Brust des Soldaten.

    Madame, es tut mir inständig leid, aber sie sind nicht das, was sie zu sein vorgeben. Was ist nun? Kommt ihr mit oder nicht?"

    Langsam sanken unsere Waffen nach unten, wir waren uns beide einig, uns abführen zu lassen, wenn er unsere Mom freiließ. Doch wir fixierten die müden Augen unserer Mutter. Erst schüttelte sie entschlossen den Kopf, nickte dann und lächelte sanft, als würde sie uns zu verstehen geben, dass sie uns immer lieben würde, egal was passierte.

    Sie gab uns zu verstehen, dass es okay sei, dass sie sich es so wünschte, damit wir weiterleben konnten. Das Bild wie sie nickte, brannte sich in meinen Kopf ein und Neo vergewisserte sich mit einem Blick, dass auch ich die stille Botschaft unserer Mom verstanden hatte. Wieder dauerte alles nur einen Wimpernschlag. Ich presste die Augen aufeinander, um nicht zusehen zu müssen, was ich tat.

    Etwas, das ich mir nie verzeihen würde können und das unsere Mom doch genau so wollte. Neo und ich hoben die Waffen und drückten ab, der Soldat ging endgültig zu Boden. Das, was ich befürchtet hatte, war eingetreten. Mom klappte ruckartig zusammen und wir stürzten beide sofort zu ihr. Ihre Stirn war schweißnass und so weiß wie der Schnee, der draußen auf die Erde nieder fiel. Blut lief ihren Bauch hinab und tränkte ihre Klamotten ganz dunkel. Ich riss meinen Blick von ihr los und betrachtete stattdessen meinen Bruder, der neben mir hockte und Tränen in den Augen hatte. Wir nahmen ihre Hand und strichen ihr sanft über die Haare. Verzweifelt entwich mir ein Schrei. Tränen sammelten sich in meinen Augen, doch ich wischte sie fort.

    Nein… Mom… bitte…, nur ein ersticktes Flüstern und das Rütteln meiner Brust beim Schluchzen erfüllte die Stille. „Es tut mir so leid, Mom. Es tut mir so leid., meine Stimme klang leise und hoch. Panisch versuchte ich, mit meiner Jacke ihre Blutung zu stoppen, doch meine Mom hob mit ihrer letzten Kraft ihre Hand gegen meine. Ihre Geste ließ mich innehalten. „Es ist nicht deine Schuld, Jamie. Ihr tragt keine Schuld. Es ist okay ... Ich wollte es so. Es ist okay ..." Sie hustete und ein ungesundes Gurgeln drang aus ihrer Kehle, Blut lief ihren Mundwinkel hinab.

    Ihr müsst ... verschwinden. Bringt euch in Sicherheit ... Bitte.", ihre Lippen waren von der Kälte so trocken, dass sie aneinanderklebten, als sie uns die Worte entgegen wisperte. Ich spürte, wie mir Tränen über die eiskalten Wangen glitten und auf dem verstaubten Boden auftrafen. Ich drückte ihre Hand, um ihr Trost zu schenken. Schmerzenslaute drangen über ihre Lippen, während wir sie hielten und sie an die Decke starrte.

    Ich hab dich lieb, Mom., flüsterte mein Bruder und küsste sie auf die Stirn. Mom schloss ihre Augen, die Augen, die mich mein ganzes Leben begleitet hatten und die ich nie wieder sehen würde. „Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen., flüsterte ich, während jeder Funken Leben aus ihrem Körper sickerte und nur Spuren der Erinnerungen hinterließ. Tränen rannen mir über die Wangen und tropften auf ihren leblosen Körper. Ihre Brust hatte aufgehört sich zu heben und auch Neo beugte sich nun über sie und weinte stumm. Es war einer dieser Momente, die man am liebsten vergessen und doch immer in Erinnerung behalten will. Lange saßen wir noch so da und trauerten unserer Mutter hinterher, bis wir uns zusammenrafften und ihren letzten Wunsch erfüllten.

    Eine gute Stunde bevor die Dämmerung hereinbricht, komme ich in einer kleinen Stadt an, dessen Häuser noch halbwegs intakt zu sein scheinen. Die meisten Knotenpunkte der früheren Gesellschaft wirken menschenleer, doch oft gibt es geheime Lager oder Häuser, in denen eine kleine Gruppe von Jugendlichen oder Kindern kauert und auf das Ende dieser Hölle wartet. Dicke weiße Flocken sinken auf mich nieder und bilden helle Tupfen in meinem dunklen Haar. Ich vergrabe mein Kinn in meinem Schal und flüchte in einen Supermarkt, dessen Eingangstür ich gründlich mit leerstehenden Regalen verrammele.

    Ich will nicht noch einmal mitten in der Nacht von einem verbitterten Elternteil überrascht werden. Ich verkrieche mich in die hinterste Ecke des großen Ladens und richte meinen Schlafsack auf dem Boden zurecht.

    Dann schlüpfe ich hinein und mache es mir mit meiner M16 in dem einen Arm und einer großen Packung Salzstangen im anderen bequem. Langsam ist es draußen komplett dunkel geworden, nur ein paar vereinzelte Laternen am Straßenrand flackern hin und wieder und werfen ein schauriges Licht in den Laden, dessen Regale lange Schatten an die Wände malen. Ich höre einen Wolf heulen und betrachte die vielen geplünderten und umgestoßenen Regalreihen, zwischen denen früher Mütter mit ihren Kinderwagen geschlendert sind. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich das letzte Mal einkaufen war, jetzt wünsche ich mir die Normalität des einfachen Lebens zurück, die ich früher verabscheut habe.

    Ich liege noch lange so da, stopfe Salzstangen in mich hinein und starre an die Decke. Meine steifen Finger spüre ich schon seit Tagen nicht mehr richtig, doch irgendwann gewöhnt man sich daran. Ich schließe meine Augen und umklammere mein Gewehr noch ein Stückchen fester. Basis Alpha. Das ist mein Ziel. Das Ziel, von dem jedes Kind und jeder Jugendliche träumt. Es heißt, dass der Anführer dieser Rebellengruppe das Versteck eigenhändig aufgebaut und organisiert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob die Gerüchte um die Sicherheit an diesem Ort hundertprozentig stimmen und auch den genauen Aufenthaltsort dieses Unterschlupfs kennt niemand genau, doch ich habe eine gewisse Richtung, in die ich will und das scheint noch meine einzige Hoffnung zu sein.

    Und dann werde ich Neo finden.

    Ich nehme die Straße, die auf den Highway führt und folge ihr. Links und rechts der vierspurigen Asphaltschlange bieten mir dichte Wälder einen guten Sichtschutz, wenn man davon absieht, dass die Äste kahl sind. Ich stiefle am Rand des Highways entlang und verberge mich in den Schatten der Stämme, damit mich die paar vorbeifahrenden Autos nicht sehen können. Nur selten rauscht ein Fahrzeug vorbei, denn in den Städten wohnt ja niemand mehr. Nachdem Präsident Aloun den Notstand ausgerufen hatte, wurden alle Erwachsenen in spezielle Zeltlager an den Rändern der großen Städte gebracht.

    Dort werden sie alle rund um die Uhr bewacht, damit sich auch kein Kind an sie heranwagt. Manche Eltern haben ihre Kinder freiwillig den Huntern übergeben, andere hat man erschossen, als sie sich weigerten ihre Kinder auszuliefern und manche ließen ihre Kinder einfach zuhause zurück und brachen zu den Sammelpunkten auf.

    Aber selten gab es auch Eltern, die mit ihren Kindern fliehen und sich gemeinsam verstecken oder auswandern konnten. Meine Mom war eine der Wenigen, die versucht hat uns zu beschützen, doch sie ließ ihr Leben dabei. Vielleicht hätte sie uns auch einfach zurücklassen sollen, dann wäre sie wenigstens noch am Leben.

    Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, das milchige Licht bricht sich in den gefrorenen Pfützen, die sich am Straßenrand gebildet haben und mein keuchender Atem geht rasselnd. Meine Wangen brennen von der Kälte und die Haarsträhnen, die aus meiner Mütze schauen, sind leicht eingefroren. Vögel huschen zwischen den Ästen hindurch und erinnern mich an einen Waldspaziergang im Sommer, als ich noch kleiner war.

    Damals war man so sorglos und nur mit den banalen Gedanken einer scheinbar unzerstörbaren Welt erfüllt. Das Einzige was mich damals interessierte, war, welches Eis ich am liebsten aß oder warum mein Bruder nicht mit mir spielen wollte.

    Jetzt denke ich nur noch daran, ob ich auch genug Munition bei mir trage und was ich mache, wenn mich wieder ein Hunter erwischt. Meine Füße schmerzen, daher lege ich eine kurze Pause am Straßenrand ein. Erschöpft lasse ich mich gegen einen Ahornstamm sinken und nehme ein paar Schlucke aus der Flasche, die ich mit vielen anderen Sachen aus dem Supermarkt hab mitgehen lassen. Den Ladenbesitzer interessiert das jetzt sowieso nicht mehr. Ein surrendes Geräusch ertönt über mir und ich hebe den Kopf, um die silbrig glänzende Drohne zu sehen, die ganz weit über mir, hoch über den Baumgipfeln durch die Luft schwirrt. Als ich die Augen zusammenkneife, kann ich sogar die kleine farbige Flagge auf der Flanke der Drohne erkennen, die sie als Besitz der Vereinten Nationen kennzeichnet. Da unser Land komplett abgeschottet ist und niemand hinein- oder hinauskommt, ist es nur noch den Vereinten Nationen möglich, Informationen über unsere Situation zu erhalten, indem sie Drohnen hierherschicken und sie Aufnahmen aufzeichnen lassen.

    Ich forme mit einer Hand einen Schneeball und werfe ihn auf die Straße.

    Dort zerplatzt er zu abertausenden Bruchstücken und matscht zu der einheitlichen schlammigen Masse, die sich auf dem grauen Grund angesammelt hat.

    Seufzend stemme ich mich nach einer Weile wieder hoch. Plötzlich ertönt ein Schuss und ich ziehe instinktiv den Kopf ein. Ein Schwarm Krähen fliegt aufgescheucht von den Ästen herunter und zieht seine Kreise über den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Mein Herz schlägt dumpf in meiner Brust und ich presse den Lauf meines Gewehrs an meinen Körper. In den letzten Monaten voller Flucht und Angst ist es wie ein Teil meines Körpers geworden. Mein Beschützer. Ich hocke mich auf den Boden und luge hinter einem Stamm auf die Straße, die ganz still daliegt. Nirgends ist ein Auto zu sehen, dass über den rissigen Boden rattert und Schneematsch zu allen Seiten spritzt.

    Was mache ich, wenn sie mich gefunden haben und das ein Warnschuss war?

    Hektisch sehe ich mich um, doch außer lauter Bäumen und Büschen erkenne ich nichts, wo ich mich verstecken könnte. Was soll ich nur tun?

    Mit weit aufgerissenen Augen starre ich gespannt auf die Straße und warte, dass irgendetwas passiert. Irgendetwas, egal ob es Hunter sind, die mich erschießen, es soll einfach irgendetwas passieren, damit diese ätzende Spannung endlich endet.

    Es ist, wie der Moment bevor man von dem Fünfmeter Turm im Freibad ins Wasser springt. Man steht auf der Betonplatte, die Zehen um die Kante gekrallt und starrt hinunter in die Tiefe. Und im Inneren herrscht ein Kampf gegen einen selbst.

    Doch schließlich nimmt man sich zusammen und wagt den Sprung nach unten. Man spürt, wie einen das Wasser verschluckt und auf der Haut prickelt. Nach wenigen Zügen taucht man wieder auf und schnappt nach Luft. Und noch während man zum Beckenrand schwimmt, erkennt man, wie viel Spaß dieser Sprung, diese Überwindung gemacht hat. Und man zieht sich, triefend vor Wasser aus dem Becken und stellt sich gleich noch einmal an dem Sprungturm an. Süchtig nach der Überwindung, nach dem Gefühl des Sprunges, nach dem Auftauchen und dem Luftschnappen.

    Plötzlich erkenne ich Schemen, Schatten von bewaffneten Männern, die sich durch das Unterholz schlagen, auf dem Weg zur asphaltierten Betonschlange, die sich wie eine von Gott auferlegte Strafe durch die dichten Wälder zieht und die wunderschöne Natur zerschneidet. Das Grollen eines Motors rollt heran und dröhnt in meinen Ohren.

    Mein Herzschlag nimmt zu und der kalte Schweiß klebt an meinen Händen. Schüsse knallen auf der anderen Straßenseite und übertönen die Geräusche des nahenden Autos. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, wie aus dem Nichts springt ein Junge aus dem Gebüsch und rennt auf die Straße zu. Seine dunkle Haut ist sehr gut in dem weißen Nichts aus Schnee erkennbar. Zu gut. Gefährlich gut. Kugeln fliegen ihm um die Ohren und zersplittern das Holz auf meiner Straßenseite. Der Typ hat einen gehetzten Blick in den schwarzen Augen und steuert geradewegs auf die andere Seite des Highways zu.

    Meine Seite. Stimmen rufen ihm drohend zu und noch mehr Schüsse lassen mich zusammenzucken. Hunter erscheinen zwischen den dunklen Stämmen der Eichen auf der anderen Seite und bahnen sich einen Weg über den Randstreifen auf den Highway zu.

    Die Gewehre in der Hand, ratternd, schießend.

    Der Typ sprintet um sein Leben, er hechtet, die letzten paar Meter, als ein Auto herbei rauscht und mit einer Vollbremsung vor ihm zum Stehen kommt. Der Fahrer gestikuliert laut hinter seinem Steuer, doch der Junge steht nur da, vor der Motorhaube und starrt wie hypnotisiert auf die Stoßstange des Wagens.

    Ich rapple mich auf, atme tief durch und lege den Finger an den Abzug meines Gewehrs. Das ist meine Chance. Meine Chance, von hier zu verschwinden, meinem Leben den Rücken zu kehren und Neo zu finden. Und ich werde sie nicht verstreichen lassen.

    Mein Herz klopft, ich stolpere den leichten Abhang zu der Straße hinauf und fuchtle wild mit meinem freien Arm. Ich mache einen Schritt, ich stehe an der Kante des Sprungbretts, ich sehe hinunter in die Tiefe des Wassers. Ich spüre den harten Untergrund der Straße unter meinem Schuh und ich springe, ich springe in die Fluten und überwinde mich, um das zu erreichen, was ich will, um aus dem Wasser auftauchen und das Leben schmecken zu können. „Hey! Beweg dich! Los rein in das Auto! Mach schon!, schreie ich und stürme unter einem Kugelhagel, der zur Hälfte von dem SUV verschluckt wird auf den Typen zu. Dieser schreit schmerzerfüllt auf, als ihn eine Kugel in den Arm trifft, doch wenigstens ist er endlich aus seiner Starre erwacht. Er sieht mich an und stürmt zu der Fahrertür. Schlitternd komme ich zum Stehen und ducke mich hinter das Fahrzeug, unser einziger Schutz vor dem Kugelhagel. Wütend packt der Junge den Mann, der verängstigt hinter dem Steuer sitzt, am Kragen seines gestreiften Hemdes und wirft ihn regelrecht auf die Straße. „Los rein da!, brüllt der Junge und gleich darauf lasse ich mich auf die Rückbank des SUV fallen. Im selben Augenblick, in dem ich meine Tür zu reiße, drehen die Räder des Wagens durch und wir rasen über den Highway davon.

    Die Kugeln schlagen immer noch in das Heck des Fahrzeuges ein, weshalb ich mich flach auf die Rückbank lege und meinen Kopf schütze, doch bereits nach wenigen Minuten haben die Soldaten aufgegeben und der Beschuss stellt sich ein.

    Langsam richte ich mich auf und kralle meine eisigen Finger in den dunklen Stoff des Sitzes. Ich glaube einfach nicht, was gerade passiert ist. Verwirrt und vollkommen verängstigt breche ich in ein hysterisches Lachen aus, das über das Dröhnen des Motors merkwürdig geisteskrank wirkt.

    Doch zu meiner Überraschung dreht sich der Typ am Steuer zu mir um, schenkt mir ein breites strahlendes Grinsen, richtet seinen Blick wieder auf die Straße und fällt in meinen Lachanfall mit ein.

    Sobald wir weit genug vom Highway entfernt sind und über eine einsame Landstraße hinweg tuckern, bricht der Junge am Steuer das Schweigen, das nach unserem hysterischen Lachanfall den Wagen dominiert hatte.

    „Wir sollten das Fahrzeug wechseln. Sie werden unser Kennzeichen kennen und möglichst schnell die Verfolgungsjagd aufnehmen."

    Ich nicke bestätigend, obwohl er mich gar nicht sehen kann. Kurze Zeit später hält er in einem kleinen Dorf und schließt einen verlassenen Truck mit Ladefläche kurz. Ich schaue ihm dabei über die Schulter und versuche zu verstehen wie er das macht.

    Nachdem der Motor angesprungen ist, macht der Typ Anzeichen sich wieder hinter das Steuer zu setzen, doch ich entdecke im selben Moment das Blut, das aus einem Loch in seiner Jacke quillt. Jetzt erst fällt mir wieder ein, dass er angeschossen wurde.

    Gequält lächelnd sieht er mich an, als ich ihn auffordere mir die Wunde zu zeigen. Meine Mom war früher Ärztin und sie hat mir Einiges beigebracht.

    „Ich wollte erst mal so schnell und so weit wie möglich von dort weg und mich erst später darum kümmern.", rechtfertigt er sich. Tadelnd sehe ich ihn an, während er seine Jacke auf die Ladefläche legt und den Ärmel seines Hemdes nach oben rollt.

    „Und was wäre passiert, wenn du am Steuer ohnmächtig geworden wärst? Dann könnte dich selbst das Fliehen nicht mehr retten. Ich hebe seinen Oberarm an und untersuche die Rückseite. Er verzieht das Gesicht, als ich ein wenig auf seinem Arm herumdrücke. „Hmm… Das ist schlecht. Die Kugel ist nicht glatt durchgegangen, sondern stecken geblieben. Wir müssen sie rausholen, sonst entzündet sich das.

    Geschockt sieht er mich an und schaut auf seinen Arm, über den das dunkelrote Blut läuft und in den weißen Schnee tropft.

    „Du willst ernsthaft das Ding aus meinem Arm pulen?", fragt er mich irritiert und stützt sich am Auto ab, um besseren Halt zu finden. Bestimmt hat er schon eine Menge Blut verloren. Ich gehe um den Truck herum und hole meinen Rucksack heraus.

    „Ja, das will ich. Oder willst du deinen Arm verlieren?"

    Ich krame Verbandszeug, Schmerztabletten und Desinfektionsmittel heraus, das ich mal mit Neo in einem leerstehenden Krankenhaus abgestaubt habe. Mittlerweile hat sich eine kleine Pfütze dunklen Blutes in dem Schnee gesammelt und ein Zittern läuft durch den Körper des Jungen. Ich schätze, er ist ein paar Jahre älter als ich, doch durch den ängstlichen Ausdruck in seinem Gesicht wirkt er deutlich jünger. Kein Wunder, ich will ihm ja auch eine Kugel aus dem Arm pulen. Ich halte ihm meine Flasche und drei Schmerztabletten hin. „Schluck das. Dann geht es nachher besser."

    Gierig spült er die Tabletten hinunter, indes ich seinen Arm abbinde, um so den Blutfluss zu stoppen. „Okay. Du solltest dich vielleicht hinsetzen. Ich weiß nicht, ob du aufrecht stehen kannst, wenn ich… „Ja, ich weiß, was du meinst., unterbricht er mich und lässt sich am Truck nieder. Mit dem Rücken an den Reifen gelehnt sitzt er da und kneift die Augen zusammen. Ich reibe mir meine Hände mit Desinfektionsmittel ein und gebe etwas davon auf seine Wunde. Er zuckt zusammen und ein Zischen dringt aus seinem Mund, als das Brennen einsetzt.

    „Bevor ich anfange, muss ich dich noch etwas fragen."

    Mit geschlossenen Augen lächelt er mich an. „Alles was du willst."

    „In welche Richtung soll ich fahren?" Verwirrt blickt er mich an, kurz bevor das Verstehen in seinen braunen Augen aufblitzt und er sie wieder schließt.

    „Ist mir egal. Hauptsache weg von diesen Soldatenärschen." Schmunzelnd ziehe ich sein Hemd noch ein wenig höher und greife mit Daumen und Zeigefinger in die Eintrittstelle. Das warme Blut klebt an meinen Fingern. Ein Schrei entfährt dem Jungen und er muss sich zusammenreißen, um nicht den Arm wegzuziehen. Ich schnappe mir mit der freien Hand ein Stück Verbandszeug und halte es ihm vor den Mund.

    „Hier beiß da drauf. Und halte den Arm still, denk dran, es ist besser, wenn das Mistding draußen ist."

    Ein Glucksen dringt über seine Lippen, obwohl alle Farbe aus seinem dunklen Gesicht gewichen ist. Er strampelt mit den Beinen und die erstickten Schreie drängen mich, mich zu beeilen. Schweiß perlt von seinem bleichen Gesicht, während ich mich mit meinen Fingern tiefer in die Wunde grabe und plötzlich etwas Hartes an meiner Fingerspitze spüre. Leise flüstere ich tröstende Worte, um ihn zu beruhigen. Vorsichtig und mit Bedacht ziehe ich das metallene Projektil aus der Wunde und wische das Blut von meinen Händen ab. Dann reinige ich die Wunde und verbinde sie gut, damit sie heilen kann. Ich schmeiße meinen Rucksack auf den Beifahrersitz und knie mich neben ihn.

    „Geschafft. Sie ist draußen. Jetzt musst du nur noch einsteigen und kannst dann schlafen." Er nickt und dicke Schweißtropfen laufen über seine Stirn. Ich helfe ihm hoch und bedecke ihn mit seiner Jacke, als er sich auf der Rückbank ausgestreckt hat.

    „Schlaf gut.", murmle ich, doch der Junge ist schon in einen Schlaf voller verschleierter Träume gefallen. Ich setze mich hinters Steuer und gehe im Kopf die einzelnen Fahrstunden bei Jack, meinem ehemaligen Fahrlehrer durch. Schließlich starte ich den Motor und ruckle über die schmale Landstraße durch die Felder dem Horizont entgegen.

    Ich sitze am Straßenrand und betrachte die untergehende Sonne, während ich in einen Apfel beiße und Gummibärchen in mich rein stopfe. Mein Kopf ist schwer und meine Finger schmerzen vom Umklammern des Steuers.

    Der feuerrote Ball taucht die Landschaft in ein goldenes Licht und lässt die dicke Schneedecke auf dem Feld, das sich vor mir erstreckt, silbrig funkeln.

    Die Wipfel der Bäume in der Ferne kitzeln die letzten Sonnenstrahlen, die noch einen letzten Rettungsversuch wagen, doch die Dunkelheit dringt immer weiter vor. Ich strecke die Beine aus und stütze mich auf die Hände, um den Kopf in den Nacken legen zu können und in den Himmel zu sehen.

    Das Kerngehäuse des Apfels werfe ich in einem hohen Bogen in das Feld, wo er mit einem leisen Plopp in der dichten Schneedecke verschwindet. Ein Rascheln ertönt hinter mir und meine Finger greifen sofort nach meiner Glock, die ich in kürzester Entfernung auf den Boden gelegt habe. Doch ich erkenne das dunkle erschöpfte Gesicht des Jungen mit der Schusswunde, der sich langsam und bedächtig aus dem Auto schält und die paar Meter zu mir schlurft. „Na, gut geschlafen?", frage ich ihn mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen und setze mich auf. Ein trockenes Lachen dringt aus seinem Mund, als er sich mühsam neben mich auf den Boden gleiten lässt.

    „Na ja, geschlafen kann man das nicht gerade nennen. Ich würde eher bewusstlos verwenden." Eine Weile betrachten wir die Sonne, wie sie den Rückzug antritt und mit ihrer flammenden Schönheit jeden Beobachter in ihren Bann zieht. Die Sonnenstrahlen sind ungewöhnlich warm für den Winter, aber die Kälte kriecht trotzdem in jede Spalte meiner Klamotten und verursacht mir eine Gänsehaut.

    „Danke.", sagt er neben mir irgendwann und blickt mir tief in die Augen. Sein Kinn ist recht kantig und die kurz geschorenen schwarzen Locken sind spröde und zerzaust. Eine schwere Müdigkeit liegt in seinem schwarzen Blick und die Verzweiflung, die meine Augen widerspiegeln, treibt mich fast den Tränen nah. Ich wende den Blick ab und fummle mit meinem Handschuh im Schnee herum.

    „Wofür?", frage ich leise und halte ihm die Gummibärchen hin. Gierig greift er hinein und schüttet sich eine Handvoll in den Mund.

    „Na, du hast mich gerettet. Gleich zweimal. Erst auf dem Highway, als du mich aus der Starre gerissen hast und dann hast du mir die Kugel entfernt. Auch wenn ich auf diese Erfahrung gerne verzichtet hätte." Mit einem Glucksen kaut er auf einem grünen Bärchen herum und beißt ihm den Kopf ab. Ich zucke nur mit den Schultern.

    „Na ja, eigentlich war das rein eigennützig. Die Geschichte mit dem Auto kam mir ganz gelegen. Ich wollte sowieso weg von dort und in eine ganz andere Richtung." Neugierig mustern mich seine Augen.

    „Ach so? Wo willst du denn hin?" Ich überlege kurz und knete den Schnee zwischen meinen Händen. Sollte ich ihm wirklich meinen Plan anvertrauen? Er ist einer von uns, er wird gejagt, ich glaube, ich kann ihm vertrauen. Zumindest vorläufig.

    „Ich suche Basis Alpha. Und dann werde ich meinen Bruder finden. Entschlossen sehe ich ihm in das zerschrammte Gesicht, balle meine Hand zur Faust und zerquetsche dabei den Schnee, als ich an Neo denke. Der Junge nickt nur ein paar Mal und betrachtet wieder den Sonnenuntergang. „Ich habe davon gehört und ich war auch auf dem Weg dorthin. Das war das Einzige, das mich noch davon abgehalten hat mich auszuliefern.

    Er schweigt eine Weile und ich lasse ihn seine Gedanken weiterverfolgen

    „Mein Vater verließ uns, kurz nachdem der Präsident die Nachricht kundgegeben hatte. Er verschwand einfach eines Nachts und hinterließ nur einen Zettel, auf dem *Es tut mir leid* stand." Seine Stimme trieft vor Trauer und Enttäuschung.

    „Na ja, ich nehme es ihm nicht mal übel, dass er mich zurückgelassen hat. Meine Mom starb, als ich fünf war an Brustkrebs und ab da war er total überfordert. Es half ihm auch nicht, dass ich einfach nur Scheiße gebaut hab." Wütend wirft er einen Schneeball Richtung Feld und verzieht kurz darauf sein Gesicht, weil sein Arm schmerzt.

    „Doch warum… warum musste er auch Harper zurücklassen? Warum konnte er sie nicht einfach mitnehmen und sich irgendwo mit ihr verstecken? Sie war doch unschuldig, so unschuldig und so klein. Sie war so klein… Und ich... ich habe sie nicht beschützt… ich habe es nicht geschafft…" Stotternd sitzt er neben mir und dicke Tränen tropfen ihm von den Wangen in die weiße Decke. Sein Kiefer mahlt und ich spüre den Schmerz, der von ihm ausgeht, bis zu mir pulsieren. Ich fühle einen Kloß in meinem Hals und innerlich ohrfeige ich mich dafür, dass ich mich die ganze Zeit, die ganze verdammte Zeit einfach nur selbst bemitleidet habe, obwohl andere auch Leid erfahren haben. Ihre Geschwister verloren haben oder von ihren Eltern verraten wurden.

    Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und ziehe ihn an mich. Sein Kopf gleitet mit zusammengepressten Augen gegen meine Schulter und ich schlinge meine Arme fest um seinen Rücken. Ich sage nichts. Ich sitze nur da und halte ihn, denn in so einer Situation kann man einfach nichts Richtiges oder Tröstendes sagen. Alles was aus meinem Mund kommen würde, würde sich falsch und merkwürdig gekünstelt anhören.

    Also sitze ich einfach nur da und halte diesen fremden Jungen in meinen Armen. Ich halte ihn und schließe die Augen, ich schließe die Augen und genieße das Gefühl, endlich jemanden zu haben mit dem man reden kann, einen Menschen, der genauso ist wie ich und der meinen Schmerz, diesen nagenden Schmerz in meiner Brust, der mich dauerhaft begleitet, versteht. Schluchzer rütteln die Brust des Jungen, den ich halte und ich drücke ihn noch ein wenig stärker an mich und öffne die Augen, um der Sonne zuzusehen, wie sie vom Erdball verschluckt wird. Wie sie verschluckt wird und all unsere Schmerzen und unser Leid mit sich nimmt.

    Der Typ sieht mich von der Seite an und reibt sich nervös den Nacken. „Ähhm…Wie heißt du eigentlich?, fragt er schließlich. „Jamie McMarley. Ich heiße Jamie., sage ich, den Blick stur auf die gerade Straße vor der Scheibe gerichtet.

    „Ich bin Ace. Ace Kennedy." Grinsend sieht er mich an, während ich einen anderen Gang einlege und um eine scharfe Kurve fahre.

    „Dein Name passt zu dir, Ace. Ich hoffe, du hast manchmal echt ein Ass im Ärmel."

    Sein kehliges Lachen erfüllt den Innenraum des Fahrzeugs und ich beginne das Geräusch öfter hören zu wollen.

    Wir widmen uns eine gute halbe Stunde der Landschaft vor dem Fenster, bevor Ace das Schweigen bricht. „Wieso warst du auf diesem Highway, Jamie? Was hat dich dort hingeführt?" Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu und klammere mich an das Steuer, weil ich an meine Mutter denken muss. Ihr bleiches Gesicht und das eine Nicken, das ihren Kopf bewegte und mich auf ewig verfolgen wird. In meinem Kopf, in meinem Herzen und in meiner Seele.

    Meine Fingerknöchel treten weiß hervor und Ace betrachtet meinen angespannten Körper mit gerunzelter Stirn. „Schon gut, du musst es mir nicht erzählen, ich war bloß neugierig. Langsam schüttle ich den Kopf und zwinge mich dazu, ihm ein winziges Lächeln zu schenken, weil er es verdient hat, nicht einfach im Regen stehen gelassen zu werden. „Nein, alles gut. Mein Blick richtet sich wieder auf die Straße, die sich nun durch ein verlassenes Dorf schlängelt. „Es ist nur so, dass… ich hab das alles noch nicht richtig verarbeitet. Ich brauche etwas Zeit, um mir selbst darüber klar zu werden, was passiert ist, aber irgendwann werde ich’s dir erzählen, versprochen."

    Eine Weile sagen wir nichts und Ace schaut aus dem Seitenfenster, eine Hand nachdenklich an das Kinn gelegt.

    „Weißt du, ich war schon so lange allein und bin durch die verlassenen Wälder und Städte gezogen, ich hatte mich schon selbst aufgegeben. Ich weiß schon gar nicht mehr wie es in Gesellschaft so ist." Er wirft mir einen Blick zu, bevor er sich räuspert. Seine Stimme ist rau und krächzend.

    „Ich wollte auf diesem beschissenen Planeten eigentlich gar nicht mehr leben und war schon am Überlegen,

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