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Sehen will gelernt sein
Sehen will gelernt sein
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eBook284 Seiten3 Stunden

Sehen will gelernt sein

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Über dieses E-Book

Neue, überarbeitete Fassung. Cover Feder und Tusche auf Papier von Jankel und Wilfred Gerber.

Wolfis Verbrecherkarriere bekommt nach der Begegnung mit Lothar Busse, dem Inhaber einer Feuerschutzfirma, die er zur Vorbereitung krimineller Handlungen nutzt, einen ungeahnten Schub. Er begeht gemeinsam mit Busse Scheckkartenbetrügereien und schwere Einbruchsdiebstähle im großen Stil, die Wolfi nach dem unerwarteten Tod Busses in große Schwierigkeiten bringen.
Moritz Kahl beginnt wieder zu schreiben und führt gemeinsam mit der Puppenspielerin sein Stück -Puppen-Menschenspiel- in einem Frankfurter Theater auf, als sich die Ereignisse beginnen zu überschlagen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Sept. 2014
ISBN9783847608677
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    Buchvorschau

    Sehen will gelernt sein - Wilfred Gerber

    Hinweis

    Die Romanhandlung ist frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

    1

    Die Vergangenheit setzte ihm zu, das Gute und das Schlechte aus ihr hatten ihn noch fest im Griff. Die zwei Tage in Freiheit nach den Jahren im Gefängnis ließen ihn die Gegenwart fremd und bedrohlich erscheinen. Er saß verstört unter den Freunden in der fremden Wohnung, die Gesichtsfarbe von unnatürlicher Blässe, der Blick wirr und unstet. Er ließ die Schultern hängen, den Rücken krumm, die feingliedrigen Hände fanden auf der Tischplatte keine Ruhe.

    Die Eintracht spielte. Reinhard Amper, Freund seit Kindertagen, hatte ihn zu Moritz Kahl, dem Mann der Architektin, mitgenommen, weil er als Einziger in der Straße über einen Fernsehzugang zur Bundesliga verfügte.

    Ich bringe, wenn du einverstanden bist, am Samstag einen Freund mit. Er ist vorgestern entlassen worden und hat seine Jahre im Knast bis auf den letzten Tag abgesessen. Ich bin ihm aus vielen Gründen verpflichtet, sagte Reinhard Amper am Freitag vor dem Spiel zu Moritz Kahl. „Er ist ein bisschen merkwürdig, doch jetzt ist nur wichtig, dass er unter Leute kommt. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer, er wird sich bei dir gut benehmen. Außerdem wirst du staunen, wie er die Sprache, Gesten und vor allem seine Gestalt ändern kann. In jeder neuen Situation ist er ein anderer Mensch und hat die Bullen damit bis zur Weißglut gereizt. Kein Foto aus den Kameras vor den Geldautomaten war gleich. Nicht umsonst haben sie ihn am Schluss das Chamäleon genannt."

    Am Samstag, eine halbe Stunde vor Beginn des Spiels, trafen alle pünktlich ein. Mo stellte den Bierkasten auf die Terrasse, die Luft war heute kälter als jeder Kühlschrank. Er gab sofort jedem der wartenden Männer eine Flasche. Wolfi Wagner öffnete sie mit dem grünen Einwegfeuerzeug, lehnte sich zurück und genoss in scheinbarer Ruhe den ersten Schluck. Er saß ungünstig. Nur durch akrobatische Verrenkungen konnte er von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Fernseher erhaschen, trotzdem blieb er eisern auf seinem Stuhl am großen Tisch sitzen. Die Augen musterten dabei für einige flüchtige Momente verstohlen Moritz Kahl. Wolfi war vor seiner Haft oft zur Eintracht ins Waldstadion gefahren, verfolgte sonst jedes ihrer Spiele mit ungeteilter Aufmerksamkeit, heute irritierte ihn die fremde, ungewohnte Umgebung, dass er nicht in der Lage war, sich auf das Match zu konzentrieren. In der hintersten Ecke des riesigen Zimmers stand das unfertige Bild auf der hölzernen Staffelei. Es zog ihn unwiderstehlich an. Wolfi konnte nicht von ihm lassen, sein Blick wanderte unruhig zwischen der Staffelei und dem Fernseher hin und her. Entgegen seiner gewöhnlichen Art, trank er das Bier nicht zügig aus, vergaß die Flasche und bemühte sich durch verhaltene Gesten um Moritz´ Aufmerksamkeit. Ihm waren Wolfis Blicke nicht entgangen. Ich muss mich damals nach dem Gefängnis der Stasi auch so gefühlt haben wie er, dachte Kahl und sah ihm in die Augen.

    „Moritz, darf ich mir dein Bild aus der Nähe ansehen?", rang sich Wolfi endlich durch.                                                                           

    „Ja, wenn du willst, gehen wir hin, antwortete Kahl. „Falls du Fragen hast, stelle sie mir ohne Scheu. Das Spiel ist eh langweilig geworden, lächelte er zurück. Die beiden Männer erhoben sich, gingen, von den anderen Freunden unbemerkt, zur Staffelei und blieben vor ihr stehen.

    Lange wechselten sie kein Wort, doch Wolfi konnte es bald nicht mehr aushalten. „Ich weiß nicht recht, aber dein Bild gefällt mir."

    „Ich zeigen dir warum, sagte Moritz Kahl. „Sehen will gelernt sein. Das ist das dritte aus meinem Zyklus „Das Sichtbare im Unsichtbaren„. Geh etwas näher ran. Was siehst du? Moritz wartete geduldig, bis Wolfi sich wieder vom Bild gelöst hatte.

    „Ich sehe unterschiedliche Striche. Zwischen ihnen verstecken sich kleine Bilder, ist das so oder rede ich Unsinn?" Wolfi zog den Kopf ein und schaute Kahl verunsichert an.

    „Nein, du redest keinen Unsinn, vielmehr hast du auf Anhieb erkannt, wozu ganz andere schon viel länger gebraucht haben. Kahl war verblüfft, ließ es sich aber nicht anmerken. „Ich habe versucht, das Abbild des Realen durch einfache Formen und Farben neu zu erschaffen, und wie du richtig erkannt hast, zwischen den Pinselstrichen, treffen sie aufeinander, sind viele kleine Bilder im Bild entstanden. Einige waren gewollt, die meisten aber sind ohne mein Zutun während des Malens unabsichtlich entstanden. Wenn du dich ganz auf das Bild einlässt, wirst du noch mehr entdecken. Nimm dir Zeit. Ich lasse dich jetzt alleine. Kahl ging zurück zu den anderen, setzte sich versonnen an den Tisch. Es ist schon erstaunlich, was er in dieser kurzen Zeit erkannt hat, dachte er und schüttelte ungläubig den Kopf.

    Wolfi blieb lange stumm vor dem Bild stehen, zeigte voller Stolz, als Moritz zu ihm zurückgekehrt war, auf die vielen kleinen Abbilder, die er noch entdeckt hatte.

    „Gut, Wolfi, du hast wichtige Details in meinem Bild gesehen, jetzt zeige ich dir versteckte Formen, deren Wesen du selbst ergründen musst, ich bin mir aber sicher, du schaffst es."

    Moritz Kahl gelang es durch seine ruhige, bedächtige Art, dass Wolfi nicht auf die Idee kam zu behaupten: „Was soll ich sagen, eigentlich verstehe ich überhaupt nichts von Malerei, sondern sich verwundert sprechen hörte. „Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, so viel in deinem Bild zu sehen, nur weil ich mich zum ersten Mal, seit ich denken kann, auf Kunst eingelassen und erst durch dich erkannt habe, dass ich zwar ein kleiner Krimineller bin, aber auch ein lebendiger, fühlender Mensch. Beim Betrachten verspürte ich eine unglaubliche Freude, die sich noch steigerte, als mir die anderen Seiten deines Bildes bewusst wurden.

    „Das freut mich. Kahl durchströmte bei den durchdacht formulierten Worten ein Glücksgefühl. „Das Entdecken hat dir also gefallen? Jetzt zeige ich dir, was du noch nicht gesehen hast. Tritt bitte drei Schritte zurück, schließe die Augen, öffne sie wieder, wenn du bereit bist und betrachte das Bild aufs Neue. Ich komme zu dir zurück, falls du nicht mehr weiter weißt.

    „Moritz!, rief Wolfi nach einigen Minuten. „Ich bin am Ende, du musst mir helfen.

    „Kein Grund zur Verzweiflung. Nur Geduld. Sehen will gelernt sein. Vieles bleibt für immer verborgen, wenn wir nicht lernen, offen zu sehen. Das Wahre zeigt sich erst, wenn es erkannt ist."

    2

    Die Aufregung war groß in der Frankfurter Vorortsiedlung. Zwei Polizisten hatten ihn in der Mitte, zehn johlende Kinder im Schlepptau, als sie die Nummer 54 in der Bert-Brecht-Straße erreichten.

    Am vergangenen Mittwoch war Wolfi Wagner acht Jahre alt geworden, die Feier fiel bescheiden aus, weil sich seine Mutter beharrlich geweigert hatte, sie in der Wohnung stattfinden zu lassen. Ihr war noch die vom letzten Jahr in guter Erinnerung, als er und seine Freunde es auf die Spitze trieben und im wilden Spiel das gute Geschirr zertrümmerten.                                

    Die Mutter hatte gerade die Schnitzel gewendet, als es klingelte. Wolfi konnte es nicht sein. Ein Uhr war nicht seine Zeit, nach Schulschluss traf er sich immer mit den Freunden aus der Straße und war nie pünktlich zum Mittagessen zuhause.                                                                             Sie wischte sich an der Schürze die Hände ab, drückte den Türöffner und erwartete auf dem Absatz des Erdgeschosses den unangekündigten Besucher.                                    

    „Frau Wagner?", fragte der ältere Polizist und schob Wolfi in den Hausflur.

    Hektische rote Flecken zeigten sich auf ihrem Hals und Gesicht. Werden die schlimmsten Befürchtungen wahr, will dieser Teufel von Sohn mit seinen acht Jahren sich schon jetzt ins Unglück stürzen? Wo wirst du nur enden? Ach, Bub, verfluchter, du taugst nichts.

    „Frau Wagner, wir haben Ihren Sohn auf der Hauptstraße dabei erwischt, wie er, überaus geschickt für sein Alter, den Kaugummiautomaten an der Pizzeria aufgebrochen hat. Er war dabei nicht allein, aber sein Komplize konnte sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staube machen. Ihr Sohn weigert sich standhaft, uns seinen Namen zu sagen. Wir wollten Ihnen das nur mitteilen. Ihr feiner Wolfi ist mit seinen acht Jahren ja noch nicht strafmündig. Es ist jetzt an Ihnen, ihn entsprechend zu bestrafen, oh, Entschuldigung, zu erziehen, muss es richtig heißen. Na, dann, auf Wiedersehen, und einen schönen Tag wünschen wir." Die beiden Polizisten musterten Wolfi mit finsterem Blick und machten sich gelassen auf den Weg durch die Grünanlagen zu ihrem Einsatzwagen. In der Sozialbausiedlung gehörten solche Vorkommnisse zum Alltag, waren schnell vergessen, die richtigen Verbrecher standen hier an jeder Ecke.

    Die Wohnungstür hatte sich hinter Wolfi geschlossen, da hagelte es Ohrfeigen. Der Mutter liefen die Tränen, sie hörten nicht auf zu schlagen, bis ihr Körper erschöpft aufgab, und sie verzweifelt stammelte. „Ich wusste es schon immer. Bub, verfluchter, du taugst nichts. Wart ab, bis der Vater kommt. Dann kannst du was erleben. Wart nur ab, Bub."

    Sie drehte den Zimmerschlüssel von außen zwei Mal um, blieb ratlos vor der verschlossenen Tür stehen, kam wieder zu sich und eilte in die Küche zu den inzwischen angebrannten Schnitzeln.

    Mein Fehler! Ich habe mich erwischen lassen, warf sich Wolfi wütend im Kinderzimmer vor, das er, wenn er Glück hatte, nur für den Rest des Tages nicht mehr verlassen durfte. Seine Freunde auf der Straße vor dem Haus würden heute vergeblich auf ihn warten. Aber wenigstens hatten sie Mo nicht erwischt. Er würde dichthalten und niemals einen Freund verraten.

    Das hatte er auch nicht in all der Zeit, die Ehre verbot es ihm und das ungeschriebene Gesetz der Siedlung. Wenn sich aber doch einmal einer hinreißen ließ, der Polizei, aus welchem Grund auch immer, einen Tipp zu geben, hatte er verspielt und bekam in der Gegend keinen Fuß mehr auf den Boden. Wolfi hatte sich nach der Schule vom Meister nichts bieten lassen, sich sofort mit ihm überworfen und die Lehre zum Automechaniker schon nach einem halben Jahr geschmissen, doch das Fußballspielen hatte er bis auf den heutigen Tag nicht aufgegeben. Aus dem schmächtigen, hyperaktiven Burschen war ein muskulöser, durchtrainierter junger Mann mit halblangen, blonden Locken und wachen Augen geworden.

    Als Kind neigte er, wurde es brenzlich, zum Stottern, inzwischen war seine Sprache aber geschmeidiger geworden, man nahm ihr den einfachen Arbeiter, den selbständigen Handwerker oder Handelstreibenden, den gebildeten, höheren Angestellten oder Akademiker wie selbstverständlich ab. Mit dem Klang der Stimme konnte er bis in die kleinste Nuance den gewünschten Rahmen für jede Atmosphäre zaubern, die für das freundschaftliche Gespräch, die für die selbstbewusste Verhandlung oder die für die leicht arroganten Vorhaltungen eines Chefs.

    Jede abkömmliche Mark gab er für Kleidung aus, von den einfachen Ausführungen bis hin zu Nobelmarken, dass er die verschiedenen Typen selbst aus dem Stegreif und zu jeder Zeit in Gestalt und Habitus glaubhaft spielen konnte.

    Über die Zukunft nach der abgebrochenen Lehre machte er sich keine Sorgen. An Geld kam er, wenn er es denn brauchte, immer ran. Das Team Wolfi Wagner und Reinhard Amper war einfach unschlagbar.

    Die Kneipe in der Frankfurter Vorortsiedlung lag versteckt im Hinterhof und wurde von allen aus gutem Grund nur Tal des Todes genannt. Die Sitten in ihr waren rau aber klar. Hielt man sich an sie, war man sicher, doch Verstöße jeder Art wurden ausnahmslos hart geahndet, wenn es sein musste, auch mit körperlicher Gewalt.

    Wolfi Wagner stand siegesgewiss am Billardtisch, versuchte, die schwarze Kugel in die linke, obere Tasche zu versenken, als die Eintracht ihr erstes lang herbeigesehntes Tor schoss.

    Der frenetische Jubel ließ ihn im entscheidenden Bruchteil einer Sekunde die Konzentration verlieren, das sicher geglaubte Spiel war dahin. Verärgert legte er den letzten Zwanzigmarkschein auf den Rand, ging mit hängenden Schultern zurück zu den Freunden am großen Tisch vor dem Fernseher, griff sich das Glas, leerte es, obwohl das Bier inzwischen schal geworden war, in einem Zug.

    „Reinhard, ich bin blank. Wir müssen wieder arbeiten gehen."

    „Jetzt nicht, Wolfi, würgte ihn der Freund ab. „Wir reden nachher. Lass mich das Spiel noch zu Ende sehen. Für heute habe ich schon was ins Auge gefasst.

    Die Eintracht hatte verloren. Die Straße war um vier Uhr in der Nacht ruhig und menschenleer. Wolfi und Reinhard Amper legten die wenigen Schritte vom Auto bis zur dunklen, verlassenen Kneipe an der Ecke schnell zurück.

    „Was ist?, wurde Amper ungehalten. „Mach die Tür auf oder willst du hier Wurzeln schlagen?

    Zwei kurze Blicke genügten. Wolfi wusste sofort, welches der Werkzeuge er aus der Rolle ziehen musste und machte sich an die Arbeit. Nach einer Minute sprang die Tür lautlos auf, trotzdem drängte Amper zur Eile. „Jetzt mach schon, flüsterte er. „Die beiden Automaten hängen im Hinterzimmer. Ich habe sie beobachtet. Sie müssten gestopft sein. Es sollte sich für uns lohnen.

    „Wir brauchen kein zusätzliches Licht. Du kannst die Taschenlampe stecken lassen. Geh zur Tür, Reinhard. Ich komme hier alleine klar." Wolfi spürte wieder die seltsame Ruhe in sich. Die Automaten waren Standardmodelle, jeder Arbeitsschritt, oft geübte Routine, lief wie am Schnürchen ab. Er hatte die speziellen Werkzeuge aus handelsüblichen durch schleifen, hämmern und schweißen auf der Werkbank im Keller seines Vater zu dem gemacht, was sie jetzt waren, Präzisionsinstrumente.

    Bald klimperten die Münzen aus den übervollen Speichern der Automaten in Wolfis Lederbeutel.

    „Ich bin fertig. Die Werkzeuge lagen schon in der Rolle, wohlverwahrt in ihren speziellen Fächern. „Wir können gehen.

    Reinhard sicherte die Straße. Wolfi ließ die Kneipentür leise ins Schloss fallen. Langsam, mit übervorsichtigen Schritten nächtlicher Zecher gingen sie zurück zum Auto. Amper hatte es vorsorglich im Schatten der Laterne geparkt, dass kein zufälliger Zeuge sie wiedererkennen würde.

    Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, legte den ersten Gang ein, gab behutsam Gas und fuhr erleichtert davon.

    „Ich habe ein ungutes Gefühl, sagte Wolfi, als Amper um die Ecke bog, und die nächste Kneipe in Sicht kam. „Wir machen Schluss!

    „Deinem Gefühl sollten wir wie immer trauen. Die Münzen kann ich auch noch morgen wechseln lassen. Ich habe ein paar Scheine in der Tasche. Boris´ Kneipe am Bahnhof hat uns wieder!" Amper grinste breit und wendete mitten auf der Straße.

    Nur ein paar frühe Zecher hatten sich am nächsten Abend kurz vor sieben in das Tal des Todes verirrt. Reinhard Amper und ein Unbekannten standen am Tresen. Wolfi hatte gerade die Schwelle überschritten, als er ihn mit seinen riesigen Pranken zu sich winkte. „Das ist mein Freund Lothar Busse, und das ist mein alter Freund Wolfi Wagner, stellte er die beiden vor. „Für seine Feuerschutzfirma sucht Lothar einen fähigen, aufgeweckten Mitarbeiter, da habe ich gleich an dich gedacht. Die Einzelheiten besprecht ihr am besten unter euch. Dazu braucht ihr mich nicht. Amper ließ sie allein und gesellte sich zu den Billardspielern.

    „Ich will gleich zur Sache kommen. Ich verkaufe Hausbesitzern Feuermelder und Sicherheitssysteme. Dabei sollst du mir helfen und den ganzen Schriftkram erledigen, das ist nicht so meine Sache. Meinetwegen kannst du gleich morgen anfangen und alles vor Ort lernen. Ich zahle dir zehn Mark bar auf die Hand. Was ist jetzt, Wolfi? Willst du den Job?"

    3

    Moritz Kahl hatte für heute den Antiquitätenladen abgeschlossen. Er ging zielstrebig ins Hinterzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und begann die Papiere, die er gestern zu hohen Stapeln aufgeschichtet hatte, eilig durchzusehen. Er suchte nach Fragmenten und Entwürfen des „Puppen-Menschenspiels".

    Entgegen seines laut verkündeten Vorsatzes, das Schreiben zu lassen, wollte er das Stück jetzt doch zu Ende bringen.

    Es war nicht so, dass er in dieser Zeit überhaupt nichts geschrieben hätte, ganz konnte er es nicht lassen, einige Ideen und Gedichte hatte er notiert, für später, doch die neue Arbeit am Stück, wusste er, wäre nur mit einer konzentrierten Herangehensweise zu schaffen, die sich dann in Struktur, Form und Dialogsprache niederschlagen würde.

    Der erste Entwurf war nach einer Stunde fertig, die oft vermisste Freude wieder in ihm, als er sich erhob und auf den Weg zum „Schmendrik" machte.

    „Ich bin von Beruf Einbrecher, was anderes hab ich nicht gelernt. Meistens ließen sie mich in Ruhe, dass ich aber damals, kurz nach dem Kaufhofbrand, dem Baader seine erste Pistole besorgte, haben sie mir nie verziehen. Manfred Milzberger trank im überfüllten „Schmendrik„ hastig sein Bier aus. „Für mich wird es Zeit. Die in Preungesheim fackeln nicht lange, und gerade jetzt will ich mir meinen Freigang nicht versauen. Es war schön, dich getroffen zu haben, Moritz. So spät schon? Mit der Straßenbahn ist es nicht mehr pünktlich zu schaffen. Scheiße, verfluchte! Und Ines hat sich so auf das erste gemeinsame Wochenende gefreut. Er raffte am Tresen seine Sachen zusammen und rannte zur Tür.

    „Manfred! Kahl war sich sicher, dass die zwei Bier nicht für 0,8 Promille ausreichten. „Manfred!, rief er. „So warte doch. Ich fahre dich. Mein Auto steht direkt vor der Kneipe. Wie durch ein Wunder war in der Fichardstraße ein Parkplatz frei. Ich sage es nicht gern, ich bringe dich mit dem Wagen in den Knast zurück. Du bist pünktlich, dein Liebeswochenende ist gerettet, und ich erfülle meine tägliche gute Tat. Lass mal stecken, ich zahle für dich. Gerlinde, was macht das? Kahl gab ihr die Deckel. „Ach was, ich komme gleich wieder, leg sie hinter den Tresen. Wir müssen uns beeilen, Milzberger will in den Knast. Ich zahle nachher alles zusammen. Bis gleich. Na, komm jetzt, Manfred!

    Milzberger und Moritz Kahl eilten auf die Straße. Das erste Stück des Weges fuhren sie stumm, als sie die Friedberger Landstraße erreichten, brach Kahl das Schweigen. „Weißt du was, Manfred, am Samstag und Sonntag bin ich auf der Antiquitätenmesse in Mannheim. Wenn du willst, gebe ich dir und Ines das Hinterzimmer im Laden. Ihr habt ja sonst kein Fleckchen für euch. Nicht mal du schaffst es, auch nur eine Nacht im Lehrschwesternheim ungesehen zu überstehen. Komm am Freitag vor sieben in den Laden, dann gebe ich dir den Zweitschlüssel. Meine Ware wirst du hoffentlich, trotz deines erlernten Berufs als Einbrecher, in Ruhe lassen."

    „Ein Wunder ist geschehen, keine verstopften Straßen in Frankfurt. Wir haben es zehn Minuten vor der Zeit geschafft. Er parkte direkt vor der Schleuse. „Wir sehen uns am Freitag. Bis dann, Manfred, verabschiedete sich Kahl von seinem Freund.

    Das Tor der Schleuse öffnete sich wie von Geisterhand, und bevor es sich wieder schloss, blieb Milzberger die Zeit, um Kahl noch einmal zu winken, dann hatte ihn der Knast geräuschlos verschluckt.

    Soll ich zurück in den „Schmendrik„ fahren? fragte sich Moritz Kahl. Das Gefängnistor hat mich mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will. Das ist der zweite Berufsverbrecher, den ich zum Freund nahm, gestand er sich widerwillig ein.

    Der andere, Robin Fischlauf, war sein Arbeitskollege in der Kommunalen-Wohnungs-Verwaltung-Pankow gewesen. Seine Kindheit fand sorgfältig behütet in einer sozialistisch kleinbürgerlichen Familie statt, doch schon bald führte ihn der Weg fort vom Pfad der Tugend.

    Drei Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag wurde er erwischt, als er gemeinsam mit zwei Freunden in ein Objekt der Gesellschaft für Sport und Technik, kurz GST, deren eigentlicher Zweck darin bestand, die Jugend des Landes vormilitärisch zu erziehen, versuchte einzubrechen und volkseigene Luftgewehre widerrechtlich in sein privates Eigentum zu überführen.

    Für die Straftat wanderte er für mehrere Jahre in den Jugendwerkhof, in dem die Erzieher das Wesen der Jugendlichen sofort brachen und sich danach intensiv mühten, aus den nun geborstenen Seelen allseits gebildete, sozialistische Persönlichkeiten zu formen.

    Sie wunderten sich, dass es ihnen auch mit starkem Druck nicht gelang. Vielmehr entwickelte sich in dem verdeckten Jugendstrafvollzug eine eigene, nicht kontrollierbare Dynamik, die es, getreu der darwinschen Lehre, nur dem Stärksten und Skrupellosesten erlaubte, sich durchzusetzen. Die niedrigsten Instinkte blühten in der menschenfeindlichen Umgebung auf, und die körperliche Gewalt wurde zur Normalität.

    Hier erhielt Robin Fischlauf die wichtigste Prägung, doch seine angeborene Intelligenz erlaubte ihm, von den meisten unbemerkt, alle

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