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99,9 % - Buch 2: Der lange Atem der Macht
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eBook275 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

2027. Vor sieben Jahren errichteten die 0,1% der Ultra-Reichen (Zeros) eine Schreckensherrschaft über die Welt und ihre Exklaven, vernichteten jene, die ihnen entbehrlich erschienen, trieben die anderen in die "Unterwelt", in die Bäuche der Städte. Ihr Vorteil: das lebende Schutzschild aus Prozento-Kindern und Versklavten. Doch mittlerweile haben sich die 99,9 % weltweit vernetzt, organisiert und solidarisiert, entwickelten eine neue Methode des Kämpfens und eine neue Technologie. Was nach einem Patt aussieht, ändert sich mit der Kunde von der bevorstehenden Zero-Hochzeit. Sofort wird klar: die Zeit ist gekommen. Die Entscheidungsschlacht steht bevor. Der Hotspot ist das Schloss Schönbrunn in Wien. Am Himmelfahrtstag soll ausgerechnet die Anti-Heldin "Sieben" mit ihren Leuten die Bluthochzeit ausrichten.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum13. Nov. 2015
ISBN9783738047714
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    Buchvorschau

    99,9 % - Buch 2 - Jozi Salzberg

    Was bisher geschah

    2027. Längst schon haben die Gierigen die Welt ins Chaos gestürzt, denn sie kannten kein Maßhalten in ihrer Profitsucht, keine Rücksicht, keine Solidarität, agierten aber lange Zeit aus dem Hintergrund über ihre LobbyistInnen und gekaufte PolitikerInnen. Unerkannt warfen sie ihre Netze aus.

    Dann kam es, wie es kommen musste: ohne Skrupel vergifteten die weltweit wütenden Mega-Konzerne mit ihren angeblich notwendigen Pflanzen-Spritzmitteln bedenkenlos die Felder und Gewässer, bis alles Getier darin zu verenden begann oder nicht lebensfähig geboren wurde. Die Skrupellosen holzten Wälder ab, ohne einen Gedanken an das Aufforsten zu verschwenden, denn Großaktionäre haben keinen Bezug zu Land und Leuten und den einheimischen Tieren. Sogar die Pflanzen, die angeblich durch die teuren Giftspritzen vor Schädlingen und Pilzbefall geschützt werden sollten, wurden deformiert und vernichtet. Glyphosat wie es im „Round Up des Konzerns Monsanto vorkommt, wurde längst als krebserrengender Stoff von der WHO angeprangert - jeder Mensch konnte den Bericht (nicht zum ersten Mal im Fernsehen) beispielsweise in „heute konkret um 18 Uhr 30 auf ORF 2 am Dienstag dem 3.11.2015 hören und sehen. Dennoch fiel 2015 die EU-Kommission ihrer eigenen Bevölkerung mit TTIP und anderen Beschlüssen in den Rücken (ihr sind die Konzerne buchstäblich näher, denn die Lobbyisten sitzen Tür an Tür mit den MandatarInnen in Brüssel). Die EU-Kommission erlaubte für weitere 10 Jahre den Einsatz des Giftes. Nierenkrebs, Lymphdrüsenkrebs und andere schwerwiegende Krankheiten wurden in Kauf genommen, damit die Konzerne ihren Profit machen könnten. Ein anderes Beispiel bot der Weinbau 2015 durch das Bayer-Mittel „Moon Privilege, ein Mittel, das nachweislich Beeren und Blätter deformierte (nachzulesen bei Schmider 2015 in der Zürchsee-Zeitung). Sind die Betrogenen unzufrieden, ist ein Großkonzern „zu Zugeständnissen bereit, um die Gemüter zu beruhigen, damit die Kunden weiterhin unnötige Spritzmittel kaufen mögen. Das Interesse der Konzerne gilt allein dem Vermehren des Kapitals – die Politik, die ihre Menschen schützen sollte, versagte vollkommen. PolitikerInnen agierten nicht mehr für die Menschen sondern für „die Wirtschaft. Sie fragten sich nicht, wer „die Wirtschaft denn eigentlich war.

    Die mächtigsten Konzerne sind durch ihre weltweit gehandelten Aktien zwar Weltkonzerne. Doch vor allem jene mit Hauptsitz in den USA übten entgegen aller Demokratievorstellungen ab den 1980er Jahren immer stärkeren Druck auf demokratisch gewählte Regierungen aus - auch zunehmend in Europa, korrumpierten und erpressten, bis diese ihre Bevölkerung als letzte Ressource der Ausbeutung preisgaben und über Jahrzehnte erkämpfte Sozialsysteme Stück für Stück abbauten. Über schlicht undemokratisch (also großteils im Geheimen) verhandelte Abkommen (beispielsweise TTIP) eigneten sie sich einstmals demokratische Rechte an, weil die PolitikerInnen entweder unfähig waren, die Gefahren zu erkennen oder bereits korrumpiert und auf dem demokratischen Auge blind geworden waren. Immer mehr Menschen demonstrierten oder führten Unterschriften-Aktionen durch, doch einige besonders lautstark in den Medien auftretende PolitikerInnen verunglimpften oder ignorierten sie. Die Kluft zwischen der Zivilgesellschaft und der Polit-Kaste wurde immer größer.

    Fakt ist: Der gesamte Reichtum wurde in wenigen Händen gebündelt. 99,9 % der Bevölkerung besaß nichts als das nackte Leben und nicht mehr als die Arbeitskraft. Die Proteste der Occupy-Bewegung gegen die Profitgier der mächtigen Konzerne und sogenannten „Finanzmärkte mit Slogans wie „Wir sind die 99 Prozent konnten gegen die vereinte Macht der Konzerne mit der Politkaste nichts mehr ausrichten. Es war zu spät.

    Aus der Sicht der arbeitenden Massen war die Arbeitskraft der einzige Reichtum, mit dem man etwas aufbauen konnte. Ohne Arbeit geschieht gar nichts, wird kein einziges Produkt geschaffen, kein Erz abgebaut, kein Korn angebaut oder geerntet. Die wenigen Kapitalbesitzer sahen das anders. Und sie setzten ihre Sicht der Dinge durch, weil sie die Politkaste auf ihre Seite ziehen konnten. Die einen PolitikerInnen waren schlicht unfähig, die Absichten zu durchschauen. Die anderen sahen die Vorteile für sich selbst, wenn sie dem Kapital dienten und waren durchaus willfährig.

    2020 geschah das Unfassbare. Die Söldner-Armee der EU griff die europäische Bevölkerung an: Die mittlerweile nur 0,1 % der Ultra-Reichsten der Welt (mit der Selbstbezeichnung „Zeros) – allgemeines Schimpfwort für sie wurde „verdammte Nullen hatten das Söldner-Heer offiziell der EU zur Verfügung gestellt. Inoffiziell hatte das Heer einen speziellen Zweck. Die Mega-Reichen begehrten offen nicht nur Reichtum, sondern die umfassende Macht und Herrschaft über die 99,9-Prozent der Besitzlosen, die sie abfällig „Prozentos" nennen. Unter ihrem Anführer Mun Dong (oder Mun-Dong) errichteten die Gierschlunde eine Schreckensherrschaft auf der Erde, auf dem Erdtrabanten Mond, sowie auf der Mars-Basis. Unterstützt werden sie von sogenannten Freistaaten. Diese beliefern die Nullen mit Söldnern. Das sind Menschen, die auf diese Weise dem Joch der rechtsextremen Anführer, Populisten und Sektenführer in den Freistaaten entkommen können. Seitdem jagen die Nullen-Söldner die UntergrundkämpferInnen. Gräuel wurden von ihnen ohne Zahl begangen, zumeist auf Befehl der verdammten Nullen. Die Nullen selbst zogen hohe Mauern um ihre Enklaven. In Wien gehört ihnen das Schloss Schönbrunn und die Palais des ersten Bezirks. Nicht genug – um sich vor dem Hass der Prozentos zu schützen, setzen die Größenwahnsinnigen die entführten Prozento-Kinder als Schutzschild ein.

    2027

    Die 99,9 % wehren sich verbissen. Sie operieren aus dem Untergrund. In den Eingeweiden aller Städte organisieren sie ihr Leben. Die jungen Leute werden unter Einsatz des Lebens von den Älteren geschützt. Das heißt, dass nur jene am aktiven Kampf gegen die Zero-Söldner teilnehmen, deren (Adoptiv)Kinder das Erwachsenenalter erreichten. Diese Art der Kriegführung ist gerecht. Die heute Älteren haben nichts gegen die wachsende Macht der weltweit wie Heuschrecken agierenden Weltkonzerne unternommen. 2020 kämpften noch alle, doch bald wurde klar, dass man die Jüngeren schützen musste. Zuerst wurden die Kinder und Jugendlichen in Kleingruppen gesammelt und von ihren Familien und von älteren KämpferInnen verteidigt. Dann wurden die noch nicht erwachsenen jungen Leute und Eltern mit Kindern zu der „Geschützten Spezies deklariert. Wer sonst sollte eines Tages eine gute Gesellschaft aufbauen, wenn nicht die Jungen? Die meisten KämpferInnen (vollkommen gleichgültig welchen Geschlechts) sind nach der Kindererziehung zumeist über vierzig Jahre alt, die Mehrheit der Guerillas hat die Fünfzig weit überschritten. Wegen ihres ergrauenden Haars werden sie „SilberlöwInnen genannt. Vor allem die über 60-Jährigen fühlen die Last der Verantwortung, denn in den 1980ern begann der Niedergang der solidarisch organisierten europäischen Gemeinschaften. Stattdessen wurde alles bisher politisch erreichte de-reguliert und der Gier der weltweit wütenden Konzerne Tür und Tor geöffnet. „Hätten wir nur damals...", hört man oft im Bauch von Wien und anderswo die Älteren seufzen. Hätten sie die von den Konzernen propagierten Einsatz von Giften, die rücksichtslose Erdölförderung in sensiblen Ökosystemen, die Ausrottung von Tieren, die Verseuchung von Feldern und Gewässern, die Beseitigung der Krebsgeschwüre LobbyistInnen an den politischen Entscheidungsquellen und mit ihnen einhergehende Unterminierung der Demokartien verhindert... Ja – hätten sie nur!

    Heute ist die einzige Bedingung für die Teilnahme am aktiven Kampf gegen die einstigen Gierschlunde und heutigen Machtgierigen, dass alle körperlich und geistig fit sind und an den (für alle Altersklassen) täglich stattfindenden Kampfübungen teilnehmen. Wer das nicht schafft, übernimmt interne Aufgaben. Jeder Mensch wird als ungemein wichtig und wertvoll angesehen. Wer sonst nichts tun kann, erzählt, wie etwas getan werden kann, welche Erfahrungen er oder sie gemacht hat. Oder ein Grüppchen von körperlich sehr Schwachen, Alten oder Verletzten erzählt den Kindern Märchen und Sagen, und man ahnt es nicht, wie die Kranken über diese Aufgabe an Lebenswillen und Lebensfreude gewinnen. Auch das ist wertvoll für soziale Wesen, wie Menschen es sind. Andere erzählen, wie alles gekommen ist, damit es nicht vergessen werde.

    Die Tunnelsysteme in den Bäuchen der Stadt gleichen Eingeweiden. Sie sind der Lebensraum der 99,9 %, in dem das Überleben am ehesten gewährleistet ist. An der Oberfläche patrouillieren die Zero-Söldner, über manchen Gegenden wurden „schmutzige Bomben abgeworfen. Die Tunnel unter den Städten sind davon nicht betroffen, weil in fast jeder Stadt der Welt Zeros ihre Besitztümer haben und sie „sauber halten. Die Tunnel sind mit Fallen für die Zero-Söldner gespickt, teilweise getarnt und schier uneinnehmbar. Daher versuchen die Nullen mit ihren Söldnern nunmehr im siebten Jahr vergeblich, die 99,9 % vollends zu versklaven oder aber jene zu vernichten, derer sie nicht habhaft werden können.

    Den Nullen leisten die 99,9 % verbissen Widerstand. Nicht nur das. Sie kämpfen auch offensiv, bedienen sich aus den Lagerhäusern der Nullen, stehlen deren Vorräte und Produkte, stehen zumindest in vielen Fällen mit den Entführten und Zwangsverpflichteten in sporadischer Verbindung. Das genügt allerdings nicht, um die Zeros auszuschalten. Diese haben das wirksamste Schild, das es geben kann, um sich errichtet – die entführten Kinder der 99,9-Prozent. Sowohl die Kindersklaven als auch erwachsene ZwangsarbeiterInnen in den Arbeitslagern und Luxus-Domizilen der Zeros verhindern, dass die 99,9 % ihrerseits Bomben über die Zero-Enklaven abwerfen oder deren Wasser und Nahrung vergiften.

    Die KämpferInnen und WissenschaftlerInnen der 99,9 % sind weltweit vernetzt und selbst höchst erfinderisch. Die erzwungenen Dienste der WissenschaftlerInnen in den Nullen-Domizilen sind nichts dagegen. Das Kollektiv wird niemals aufgeben. Damit hatten die größenwahnsinnigen Nullen 2020 nicht gerechnet.

    Im siebten Jahr des weltumfassenden Untergrundkampfes der 99,9 Prozent gegen die 0,1 % der reichen Nullen (so genannt wegen „Null-komma-eins-Prozent") gelangt die Widerstandskämpferin Sieben in Wien an eine Information, die das Blatt zugunsten der unbesiegten Weltgemeinschaft wenden könnte. Unverhofft lastet auf Siebens Schultern, der gewählten Anführerin von 'Meidling' und 'Schönbrunn' und ihren SilberlöwInnen die Hoffnung des weltweiten Widerstands. Doch nur gemeinsam könnte das Kollektiv siegreich sein. Dazu bedarf es umfangreicher Vorbereitungen. Wird die Zeit reichen? Wird der Zugriff gelingen?

    Trügerisch

    2027. Wien. Großgruppe Meidling und Schönbrunn. Auf dem Weg durch den Speisesaal der Meidlinger Gruppe der Wiener 99,9 % (in der einstigen Tiefgarage) fällt Sieben ein neues Gesicht auf. Ein Kind? Sieben war noch nie schüchtern, also geht sie schnurstracks zum Tisch der Familie von „Bufo", der Goldkröte (Bufo periglenes) und deren Mann Toni, den Sieben noch gar nicht zurück vermutet hat, nachdem er noch vorhin an den Söldnern Schießübungen veranstaltet hatte.

    „Bienchen" heiße das neue Familienmitglied, stellt Toni freudestrahlend sein neues Familienmitglied vor. Wie ausgewechselt ist er, der oft so zornige, in seinem Unglück verzweifelte Silberlöwe. Man sieht ihm an, dass an diesem Kind sein Herz hängt, dass das pure Glück in sein Leben zurück gekehrt ist. In Sieben wallt eine tiefe warme Freude auf. Toni hat das Familienglück endlich gefunden.

    Kluge blaue Augen taxieren Sieben, bis das zarte Wesen den Blick senkt, als wäre es ein bisschen schüchtern, was ihr Sieben nicht ganz abnimmt. Aus der Nähe schätzt Sieben die junge Frau auf dreißig Jahre. Wegen der zierlichen Gestalt und der zarten, bleichen, unglaublich reinen Haut wirkt sie aber wie ein Kind. „Wo bleiben die unzähligen Sommersprossen, die sonst bei Rothaarigen die Nase zieren? geht es Sieben durch den Kopf. Sie hat sie wohl in den „guten Jahren in einer der unzähligen Schönheitspraxen weg „lasern" lassen. Geziert reicht die Junge der Älteren eine gepflegte Hand mit perfekt manikürten Nägeln. Kokett wirft sie ihr langes, gepflegtes, karottenrotes Haar zurück. Ein wenig verwundert es Sieben, dass jemand im Untergrund die Muße hat, so langes, offenes Haar zu pflegen und sich trotz der verschiedenen Arbeitseinsätze so zarte Hände zu bewahren. Das schöne Kind wird halt ein wenig eitel sein, was nicht weiter stört. Ein junger Mann wird eine Freude an ihr haben. Die Gemeinschaft auch, denn Kinder sind höchst willkommen.

    Der sonst wortkarge Toni erzählt eifrig, wie er das verletzte Bienchen an der Grenze zwischen dem sechsten und dem ersten Bezirk entdeckt hat. Sie lag da, angeschossen, liegen gelassen zum Verbluten, nachdem sie ihrem Sklavenhalter, dem steinalten australo-asiatischen Bin Mun Dong und seiner blutjungen afro-europäischen Frau Ruby davongelaufen war. Mitleid wallt in Sieben auf. Härte und Brutalität wird insbesondere mit Mun-Dong (wie er landläufig genannt wird), dem Medienmogul, in Verbindung gebracht. Mit eiserner Hand hat er sein Familien-Imperium aufgebaut, das ist bekannt.

    Aber „Gott sei Dank seufzt Toni erleichtert auf, es sei bei Bienchen nur ein Streifschuss gewesen. Sieben überlegt, dass Bin und Ruby zu der jungen Frau nicht brutal gewesen sein können, sie sieht weder verhärmt noch unterernährt aus, vielmehr wiff, taff und sehr gepflegt. An eine fleißiges Honigbiene erinnert das schöne Kind eigentlich nicht, vielmehr an andere Hexapodae, an den winzigen, haarigen, orangen Springschwanz vielleicht. Sieben beschließt insgeheim, den Neuzugang nach der Überklasse der Sechsfüßer einfach „kleine Hex' zu nennen – das ist keineswegs böse gemeint, höchstens belustigt es sie ein wenig.

    Toni berichtet, er hätte die Ohnmächtige zunächst mit einem Kind verwechselt. Im ersten Moment dachte er, dass seine kleine Enkelin doch irgendwie überlebt haben könnte und nun vor ihm liege. Schließlich trug man ihn selbst damals schwer verletzt vom Unglücksort, sodass er es nicht einmal bemerkt hätte, falls jemand seine innigst geliebte Enkelin gerettet hätte. Beim Begräbnis seiner Kleinen war er nicht dabei, damals lag er noch im künstlichen Tiefschlaf. Kein Wunder, dass ihn der Zweifel übermannte, als er die kleine Elfe sah, die seiner Kleinen so ähnlich sah. So sehr verwirrte ihn das rote Haar. Dasselbe Haar hatte seine Enkeltochter. Sieben freut sich ungeheuer für Toni und grinst breit. Da fällt ihr Blick auf Bufo, die bisher kein Wort gesagt hat. In Bufos Augen schwimmen Tränen. Doch Toni bemerkt sie nicht. Die Familie wird noch einiges klären müssen, wird es Sieben klar. Peinlich berührt verabschiedet sie sich hastig von den Freunden und Kampfgefährten, nickt dem neuen Mitglied der Familie kurz zu und verlässt das Grüppchen. Bufo weint nicht leicht, der Tod der ihrigen ließ sie zu einer Kampfmaschine abstumpfen, meinen manche. Aber Sieben kennt die Freundin besser. Beide denken sie ähnlich. Bufo meinte einmal resigniert, ja todtraurig, Geschehenes könne sie nicht Ungeschehen machen, nur neuerliche Tode der jungen Leute würde sie mit allen Mitteln verhindern. Das ist tatsächlich ihre „Spezialität. Meistens lässt sich sich zum Schutz der „Jungen Spezies in den äußeren Bereichen des Untergrunds einteilen. Ihr Werk vollbringt sie gern im Stillen – ganz anders als ihr Ehemann Toni, der buchstäblich das explosive Getöse liebt. Wird eine Gruppe angegriffen, geht Bufo kalt, brutal, pragmatisch vor. Sie würde eher sterben, als zuzulassen, ein junges Leben an die Zeros zu verlieren. Für diese Fähigkeit und für diese Bereitschaft wird Bufo von ihrer Gemeinschaft hoch geachtet und geliebt. Darin findet sie Trost. Die alte Kampfgefährtin ist unverbrüchlich treu und hundertprozentig zuverlässig, und sie hat stets Augenmaß bewiesen – ganz anders als ihr cholerischer Ehemann, dessen Wüten sie mehr als einmal eingedämmt hat. Sieben fängt zu grübeln an. Ihr erster Gedanke war vielleicht kurzsichtig. Könnte Bufo wirklich fürchten, Toni würde das Andenken der getöteten kleinen Enkelin gegen die lebende Adoptivtochter eintauschen? Diese Eifersucht traut sie bei näherem Augenschein der Freundin nicht zu. Was hat Bufos Tränen aber dann ausgelöst? Nun ja, es ist nicht Siebens Sache, ruft sie sich zur Ordnung. Sie würde auch nicht in die Freundin dringen, mit ihr ihre Sorgen zu besprechen. Nein, das liegt ihr fern. Die Freundin würde sprechen, falls und sobald die Zeit reif wäre. Sieben muss sich anderen Aufgaben zuwenden. Es wird ohnehin langsam Zeit, sich in den Versammlungsraum zu begeben.

    Sieben schlendert durch den Saal und grüßt im Vorbeigehen die Mitglieder ihrer Großfamilie. Auf einmal tippt ihr jemand auf die Schulter. Sieben dreht sich um und blickt in die blauen Augen ihrer langjährigen, innig geliebten Freundin Gina. Nun erkennt Sieben den Grund für das Strahlen. Arm in Arm steht die Freundin mit einem schwarzhaarigen Mann mit ebenso blauen Augen wie die eigenen – als wären Geschwister vor sie getreten, staunt Sieben. Ginas schwarze Locken tanzen, während sie ihren neuen Freund Merino vorstellt. Sieben ist hoch erfreut, ja entzückt, denn die Freundin hatte bisher kein Glück mit den Männern. Allein hat sie ihren Sohn großgezogen, hatte keine Hilfe vom Kindesvater gehabt, auch nicht von ihrer Ursprungsfamilie, im Gegenteil. Aber Gina ist eine Kämpferin. Sie hat es auch so geschafft. Für diese Leistung bewundert Sieben die Freundin und schenkt ihr das uneingeschränkte Vertrauen. Ja, Gina ist eine enge Vertraute, eine Schwester.

    In den vielen Jahren im Bauch von Wien half die Untergrundfamilie der Alleinerzieherin, wenn es nötig war. Das ist klar. Doch der Sohn ist nun fast erwachsen. Und kein Mensch will allein durchs Leben gehen. Diesmal hofft Sieben, es möge der „Richtige sein für diese herzensgute und mutige Frau. Sie hat ein wenig Glück verdient – was heißt ein wenig?! Unmengen davon hätte sie verdient, korrigiert sich die Freundin begeistert. Sie umarmt diese beiden „Kelten - die sich bücken müssen (denn sie sind überragen Sieben um Haupteslänge) und wünscht ihnen Glück, so viel Glück, wie sie benötigen würden – meint sie schmunzelnd. Nein, Merino stamme aus Griechenland, er könne kein Kelte sein, meint Gina lächelnd. „Egal! Hauptsache viel Glück! Aber wenn man Euch so anschaut, sind gute Wünsche nicht mehr nötig - Ihr habt das Glück schon eingefangen, neckt sie die Verliebten. Leider wird Gina die Großfamilie mit diesem Mann verlassen. Merino möchte zu seiner Kleinfamilie im Norden Wiens zurückkehren. Er hätte noch seine Eltern und Geschwister dort. Und schließlich, erklärt die Freundin, hätte sie nur ihren Sohn und würde eine ganze Familie dazu gewinnen. Die Frauen verstummen. Sie verstanden einander immer auch ohne Worte, obwohl sie stundenlang reden konnten, ohne das ihnen der Gesprächsstoff ausging. Sie sind ein eingespieltes Team gewesen - sie werden einander ganz unglaublich vermissen - sie werden aber an ihrer Freundschaft ewig festhalten. Während sie einander in die Augen blicken, besiegeln sie dieses stumme Versprechen. Merino hat inzwischen seinen Blick über die Menge schweifen lassen. Nun ja, meint er, es hätte ihm hier gefallen können, wenn seine Familie nicht wäre... „Schon gut, beschwichtigt Sieben den Mann und findet seine Worte sehr freundlich. „Es ist gut so. Punkt! Zum Abschied fallen die Freundinnen einander in die Arme. In Zeiten wie diesen könnte jede Umarmung die letzte gewesen sein. Doch Sieben fühlt, dass sie sich eines Tages wieder sehen werden. Sie blickt dem verliebten Paar lächelnd nach. Merino hat wieder den Arm um Ginas Schulter gelegt und hält sie eng an sich gedrückt. Gina schmiegt sich an ihn. Im Gleichschritt schlängelt sich das Paar zwischen den Tischen durch. Sieben will sich wieder auf den Weg machen. Eine halbe Wendung und sie hält inne – Merino dreht den Kopf nach der „kleinen Hex', die - seine Bewunderung genießend - den Mann mit ihrem Blick herausfordert. Gina hat nichts davon mitbekommen, davon ist Sieben überzeugt, denn Merino hielt sie unverändert an sich gedrückt, Ginas Haar berührt Merinos Kinn, ihr Ohr lauscht seinem Herzschlag an der rechten Seite seiner Brust. Falls sich der Herzschlag beschleunigt haben sollte, würde die Freundin diese Reaktion auf ihre eigene Nähe und Wirkung auf den geliebten Menschen beziehen. Sieben lässt sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und duckt sich, weil eine Woge der Verzweiflung über sie hinweg flutet. Sie sieht sich außerstande, die Freundin zu warnen. Was sollte sie ihr sagen? Und wann? In dieser Nacht verlässt sie doch die Großfamilie mit Merino und mit ihrem Sohn. Sieben könnte ihr natürlich per E-Mail eine Botschaft senden, aber welche? Sieben fühlt sich plötzlich als Verräterin an der Freundin. So kann es nicht bleiben. Gina und sie sind durch dick und dünn gegangen und haben einander in jeder Not beigestanden. Das ließe sie sich nicht von einem daher gelaufenen Schürzenjäger kaputt machen. Sie will ihre Freundin warnen, mehr tun kann sie nicht. Vor der kommenden Enttäuschung schützen könnte sie sie natürlich nicht. Sieben weiß, sie muss meditieren, muss ihre Gedanken ordnen, analytisch vorgehen, muss eine Lösung suchen, muss Worte finden, die ihre Freundin nicht verletzen. Schwerfällig hievt sie sich vom Stuhl und schleppt sich zur Senatssitzung, als hätte sie Bleisohlen unter den schweren Schuhen. So nah liegen Hoffnung und Enttäuschung beieinander...

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