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Allah und die Klavierspielerin
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eBook263 Seiten3 Stunden

Allah und die Klavierspielerin

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Über dieses E-Book

Fragender: Was willst Du mit Deiner Geschichte sagen?
Autor: Was eigentlich immer am schwersten zu sagen ist, nämlich das ganz Alltägliche und das Unerhörte, das dann ganz plötzlich den Horizont des Alltags aufreißt. Es sitzen da lauter Personen wie du und ich auf engem Raum zusammen – in einem Flugzeug. Alle haben ein einzigartiges Schicksal, sie wissen es nur nicht.
Fragender: Haben sie etwas miteinander zu tun, sind ihre Lebenswege ineinander verwoben?
Autor: So viel und so wenig wie dein und mein Lebensweg. Herr Meierdom ist ein Hundeliebhaber, Dr. Stockfuß ein bekannter Universitätsprofessor, die Wondrichs, Vater und Tochter, sind auf dem Weg nach München, um von dort ein Bild, die Klavierspielerin, zu holen, das sie früher einmal, der Not gehorchend, verkaufen mussten. Dr. Draschke ist ein Politiker, Yusuf, der Marokkaner, ein Student, der sich mit schwitzenden Händen und heißem Kopf auf das Paradies vorbereitet. Christian Schneefuß und Hannah Liebkind sind Verliebte. Alle Gestalten in dieser Novelle, die ich im Jahre 2004 verfasste, aber kürzlich noch etwas überarbeitet habe, sind also Menschen, denen man täglich begegnen könnte. Doch eine solche Charakterisierung ist in Wahrheit irreführend, denn wir alle sind fähig, uns von einem Moment in den anderen bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln. Yusuf zum Beispiel spricht hervorragend deutsch und hat ein Kind mit seiner Frau Susanna, ein vollständig Integrierter, so könnte man meinen.
Fragender: Einen Augenblick – du hast eine Novelle geschrieben? So etwas gibt es doch längst nicht mehr!
Autor: Das stimmt. Deswegen nenne ich die Geschichte ja auch Roman – die übliche Camouflage.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Jan. 2017
ISBN9783738099287
Allah und die Klavierspielerin

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    Buchvorschau

    Allah und die Klavierspielerin - Till Angersbrecht

    Große und kleine Vögel

    Dort, ein Silberreiher, der auf langen Stelzen am Ufer eines Sees promeniert! Nur für kurze Zeit scheint er Gast zu sein. Es genügt ein Rascheln im Schilf, die unvermutete Bewegung eines Vorbeikommenden, vielleicht auch nur der Stoß eines Windes, um ihn wie einen Federflaum vom Boden zu heben. Die natürliche Bestimmung eines Silberreihers ist das Fliegen.

    Wer würde dasselbe beim Anblick eines Airbus behaupten, der mit schwerfällig-massigem Körper auf einer Rollbahn steht? Wer würde ahnen, dass Silberreiher und Airbus die gleiche Bestimmung haben? Der hell glänzende Leib des Flugzeugs drückt wie ein Bleigewicht auf den Boden. Er besitzt so gewaltige Proportionen, dass ein Steinzeitmensch, zum ersten Mal auf einen Flugplatz der neuen Zeit geführt, niemals vermuten würde, dass ein derart mächtiger Körper sich je vom Boden erheben, geschweige denn sich in die Lüfte aufschwingen könnte. Selbst wenn dieser Rumpf mit den zwei steifen Armen schon über die Bahn zu rollen begänne, würde der überraschte Gast bis zuletzt auf den Flügelschlag warten und dann, wenn das Unglaubliche trotzdem geschieht, verstört und erschüttert das Wunder bestaunen, dass ein so unförmiger Riesenvogel, wie von der Hand eines kundigen, aber unsichtbaren Geistes von oben am seinem Genick gepackt, mühelos, als hätte er alle Schwere plötzlich von sich gestreift, steil in die Höhe strebt.

    Überwältigt von Ehrfurcht, würde der Steinzeitmensch den großen Unsichtbaren anbeten. Denn nur ein Gott bringt es fertig, einen Körper, groß wie ein Gebirge, das eben noch dreihundert Menschen in seinem Bauch verschlang, so leicht in die Luft zu entführen, so als hätte er bloß nach einem Kinderspielzeug gegriffen.

    Voller Furcht und Zittern würde der Steinzeitmensch dann wohl auch eine Reihe seltsamer Gesten und Riten vollführen, damit das silberne Wesen, das sich seinen Blicken am Horizont allmählich entzieht, bis es schließlich ganz außer Sicht gerät, nicht plötzlich vom Himmel fällt.

    Die Furcht und das Zittern sind durchaus verständlich. Ganz anders als wir Menschen der Technik, gewohnt die Natur nur noch in Zoos und Aquarien zu erleben, weiß ein Mensch, der vor zehntausend Jahren lebte, dass Vögel jeglicher Art immer in mindestens zwei Zuständen existieren. Er kennt den Reiher in seinem Silberkleid, bewundert ihn wie einen Tänzer, wenn er sich voller Lust und Leichtigkeit vom Boden zum Himmel schwingt. Aber ebenso kennt er den zerbissenen Vogel, dessen Flügel vom Schlamm verschmiert und dessen Federn über eine Wasserlache verstreut sind, in der sogar am folgenden Tag noch ein Schimmer von Blut zu entdecken ist. Der Hals ist gebrochen, die Beine wie in Stücke zerhackt. Der Mensch der Vorzeit hat aus Erfahrung gelernt, dass alle Vögel der Welt irgendwann auf diese Weise ihr Leben beenden. Und deswegen führt er seine Rituale und Gebete aus, um die Hilfe der Götter gegen den Tod zu suchen.

    Wie steht es also mit diesem Vogel, der größer, massiger und mächtiger ist als alle anderen, die er jemals gesehen hat?

    Natürlich ist dem Gast aus der Urzeit nichts davon bekannt, dass ein die Evolution den Reiher gefertigt hat, und zwar in einem mühevollen Prozess voller Umwege, Engpässe und plötzlichen Überraschungen, weil einmal das Auge erfunden wurde, ein anderes Mal die Atmung der Lungen und schließlich auch noch das warme pulsierende Blut. Und noch weniger kann er wissen, das dies alles wie in einem Puzzle exakt aufeinander abgestimmt werden musste - stimmte eines der Teile mit den übrigen nicht zusammen, dann war es nötig, den ganzen Prozess an einem früheren Punkt von vorn erneut zu beginnen. Wie soll unser Gast da ahnen, dass der unförmige Airbus, dessen Anblick ihn vor Schrecken und Ehrfurcht erstarren ließ, nicht von einer blind experimentierenden Evolution in Millionen von Jahren geschaffen, sondern von gewöhnlichen Menschen ersonnen wurde, Menschen wie seinesgleichen. Die haben den gewaltigen Vogel in der erstaunlichen Zeitspanne von nur dreißig Jahren geschaffen.

    Wenn unser früher Verwandter sich verwundert die Frage stellt, warum seine späten Erben ihm mit einem so herrischen Stolz begegnen, dann mag er hier nach der Antwort suchen. Der heutige Mensch kann es kaum fassen, dass die Evolution an einen einfachen Silberreiher Millionen von Jahren verschwenden musste, während er selbst einen tausendfach größeren und schnelleren Vogel in drei Jahrzehnten erfand!

    Aber man glaube nicht, dass der Mensch die Natur deswegen matt zu setzen vermochte. Reiher und Airbus sind sich auf unheimliche Weise ähnlich. Der neue Mensch möchte das gern vergessen, aber der Steinzeitmensch hat sich davon eine Ahnung bewahrt, weil er sich so genau an die Flecken von Blut in der Lache erinnert und an das Entsetzen, mit dem er das erste Mal daran vorüberging. Der heutige Mensch weiß wenig oder will auch nichts davon wissen, dass Airbus und Reiher trotz ihrer unterschiedlichen Abkunft und Entwicklungsgeschichte dennoch ein und dieselbe Zukunft teilen. Er will von dieser Zukunft nichts wissen, aber er täte gut daran, immer an die gesamte Geschichte seiner künstlichen Reiher zu denken.

    Zunächst wird der große Vogel in einer Fabrikhalle ausgebrütet, aus der man seinen schimmernden Leib von Traktoren langsam ins Freie ziehen lässt. Dann kommt der Moment, da er sich zum ersten Mal in die Lüfte erhebt, und zwar nicht unsicher und zögernd wie sonst jeder Nestling, der sich erst noch auf seine Instinkte besinnt, sondern gleich mit der Majestät der Vollendung. Ein Airbus tritt sozusagen seit dem ersten Moment seines Daseins als Erwachsener in die Welt; er braucht nicht aus Erfahrung zu lernen und die neue und fremde Wirklichkeit vorsichtig zu ertasten. So wie er sich beim ersten Mal in die Höhe hebt, unbeirrbar in seiner Richtung, verlässlich und stolz in seinem Auf- und Höhenflug, wird er es danach unzählige Male tun, weder besser noch schlechter als am ersten Tag seines Jungfernflugs.

    So tritt er als Vollendeter in das Dasein wie ein singender, tanzender, mit sicherem Flügelschlag federleicht in die Höhe geschwungener Silberreiher, wie ihn nach Meinung unseres Gastes ein poetischer, die Schönheit liebender Gott und nach Auskunft unserer Wissenschaften die prosaische Evolution an einem unsichtbaren Reißbrett geplant und geschaffen hat. Dies ist der makellose Zustand eines A340-300, aus dessen in der Länge sechzig Meter zählendem silbrig glänzenden Leib zwei Schwingen von etwa fünfundzwanzig Metern Länge zu beiden Seiten abstehen, um ein Gewicht zu tragen, das insgesamt etwa dem von hundertzwanzig Autos zu je einer Tonne entspricht, wobei man allerdings hinzusetzen muss, dass dies erst seine unbeladene und unbetankte Daseinsform ist, denn vor der Fahrt frisst die Maschine noch einmal hundertfünfzig Tonnen Kerosinfüllung in sich ein. Danach lässt sie bei vollständiger Buchung bis zu zweihundertfünfundneunzig Menschen in ihrem Leib verschwinden, Menschen, deren gesamtes Lebendgewicht sich im Schnitt auf 25 Tonnen beläuft, während das sie begleitende Gepäck mit etwa sechs Tonnen zu veranschlagen ist.

    Man darf sich den Flug eines voll beladenen Airbus A340 deshalb ruhig mit dem etwas merkwürdigen Bild vorstellen, als würden auf einem Parkplatz etwa 300 Pkws gemeinsam Flügel bekommen, um sich in die Luft zu erheben.

    Die Maschine D477 von Hamburg nach München, planmäßiger Abflug von Hamburg um 11 Uhr 10, planmäßige Ankunft in München um 12 Uhr 25, hat soeben eine volle Tankfüllung aufgenommen. Sie entspricht somit der eben beschriebenen kraftstoffgefüllten Daseinsform. Die Maschine ist bis auf den letzten Platz ausgebucht.

    10 Uhr 55 vormittags

    Einem Silberreiher zucken die Muskeln seiner Flügel, selbst wenn er langbeinig durch Wasser oder über Wiesen stolziert. Man sieht es ihm an, dass seine Bodenhaftung gering ist. Ein Airbus aber unterscheidet sich in wartendem Zustand in nichts von einem phantasievoll gestalteten Gebäude, wie es moderne Architekten entwerfen. Liegt das Ungetüm noch dazu im Flughafen vor der Abfertigungshalle, mit der es durch einen überdachten Laufsteg verbunden ist, dann ist es nichts als ein langgestreckter Magen oder Darm, der die Zusteigenden in seinen trägen Körper schluckt. Wie Briefe, die man durch den Kanal einer Rohrpost bläst, werden die Passagiere in den wartenden Hohlkörper geschleust, an dessen Funktionsfähigkeit sie einfach glauben müssen – was die meisten von ihnen ja auch bereitwillig tun.

    In der Abfertigungshalle 13C herrschte noch die übliche Aufbruchsstimmung, nervös irrten die Augen der Wartenden zwischen der Uhr und der blinkenden Tafel mit den Angaben über Abflugs- und Ankunftsdaten. Da klickten die Ziffern, Frauenstimmen ertönten über die Lautsprecher in Englisch, Deutsch oder Französisch, je nach Destination. Der heutige Tag unterscheidet sich in keiner Hinsicht von dem üblichen Montagsbetrieb an einem kühlen Oktobermorgen. Maschinen steigen und landen in anhaltendem Gedröhn, das in das Innere der Ankunfts- und Abflugshallen freilich nur nachhallt wie fernes Rauschen und leichtes Donnern, während es draußen in der wirklichen Welt rings um das Flughafengelände den Hausfrauen in den einförmigen und blassen Einfamilienhäusern den Schweiß auf die Hände treibt oder ihre Babys zum Weinen bringt.

    Ein leichter Nieselregen verhängt die Sicht mit einem trübgrauen Schleier, auch auf das Gemüt der eintreffenden Passagiere für den Inlandflug Hamburg-München scheint sich die Nässe gelegt zu habe. Einige von ihnen sind gerade eben in Bus oder Taxi eingetroffen, andere mit der Hamburger S-Bahn. Die letzteren zählen zu den wenig begüterten Gelegenheitsfliegern, denn in der Hamburger S-Bahn treiben sich seit einigen Jahren Diebe und aggressive Schüler herum, nicht zu reden von den zahlreichen Alkoholikern, die in lallendem Zustand nach Kontakt zu ihren nüchternen Mitbürgern suchen. Wären da nicht die in grauer Uniform gekleideten Ordnungskräfte mit ihren Hunden und bösen Blicken, womit sie unterschiedslos potentielle Störenfriede ebenso wie Reisende mustern, dann würde sich kein friedliebender Bürger diesem Verkehrsmittel anvertrauen, schon gar keiner von denen, die sich für eine Reise von Hamburg nach München ein Flugticket leisten.

    Aber Frau und Herr Meierdom sind es gewohnt, jeden einzelnen Euro, bevor sie ihn opfern, zwei oder dreimal umzuwenden. Aufgrund eines kürzlich gewonnenen Quiz über das Seelenleben der Hunde haben sie den Flug von den Vier Pfoten geschenkt bekommen, andernfalls hätten sie die Bahn nicht bloß von Bahrenfeld bis zum Flughafen Fuhlsbüttel benutzt, sondern sich gleich noch in den Zug vom Hauptbahnhof bis nach München bringen lassen.

    All diese Leute – die Bus- und die S-Bahnfahrer und jene, die im letzten Moment eintreffen, wie z.B. Prof. Stockfuß und Frau, die natürlich im eleganten BMW, oder Herr Alexander Draschke, der im schwarzen Mercedes gekommen ist - werden von Stewardessen mit geübtem Lächeln gleich hinter der Bordtür empfangen. Welch angenehmer Gegensatz zum nebligen, nieselnden Wetter da draußen! Man könnte meinen, die freundlichen Damen hätten auf nichts anderes gewartet als auf die Gelegenheit, Herrn Draschke oder Herrn und Frau Meierdom an diesem Morgen persönlich zu begrüßen.

    Leider beruht dieser Eindruck auf Täuschung. In Wirklichkeit hält sich die gegenseitige Freude in recht engen Grenzen. Ein Inlandsflug verspricht weder den abwechslungsreichen Blick auf Meer oder Küsten noch die heimliche Spannung, die ein Sprung von einem Kontinent auf den anderen allen außer den Gewohnheitsfliegern immer noch verschafft. Nein, ein Inlandsflug bietet noch weniger Abwechslung als die Taxifahrt in einer Großstadt. Man kann darin eine ziemlich unverblümte Aufforderung zur Langeweile sehen, und das für eine Dauer von eineinhalb Stunden, denn etwa so lange braucht ein Airbus für die Strecke bis München.

    Da können die Stewardessen noch so lächeln. Gegen die unvermeidliche Langeweile bietet das keine ausreichende Medizin, allenfalls eine schnell vergängliche Aufmunterung. Gegen das unvermeidliche Nagen der Zeit liegen daher gleich am Eingang eine Reihe von Zeitungen aus, bunte und weniger bunte. Die werden von beinahe allen Eintretenden denn auch hastig aufgegriffen, allenfalls nach einem kurzem Zögern, ob sie die bunte Variante der einfarbigen vorziehen sollen oder doch eher umgekehrt.

    Merkwürdig, der Beobachter kann da noch vor dem Abflug der Maschine eine wichtige Entdeckung machen. Nach gängiger Meinung sind Zeitungen zum Lesen da. Vermutlich wird das auch stimmen, aber darüber hinaus erfüllen sie mehr als nur eine passive Rolle. Sie verhalten sich sogar äußerst aktiv, denn jeden, der an ihnen vorübergeht, zwingen sie, Farbe zu bekennen. Sie wirken sozusagen wie ein Sieb, das die Passagiere gleich in zwei verschiedene Kategorien unterteilt. Da sind einmal die sogenannten seriösen Blätter, die mit betont langweiligen Titeln ihre Anständigkeit proklamieren. Dem Eintretenden geben sie zu verstehen, dass sie die Anbiederung an den billigen Geschmack, an den Krimskrams der Fernsehbilder, an die Schliche der Werbung nun wirklich nicht nötig haben. Natürlich verzichten sie auf knalliges Rot oder überhaupt auf jegliche Farbe. Selbst wenn verschiedene erogene Zonen, vornehmlich die des weiblichen Geschlechts, an mehr oder weniger versteckter Stelle doch einmal vorkommen sollten – und das ist inzwischen fast bei allen unweigerlich der Fall – dann ist doch ein betont nüchterner Text so berechnet, dass er die aufgestörte Sensibilität empfindlicherer Naturen durch eine biedere, manchmal geradezu betont wissenschaftliche Verpackung beschwichtigt.

    Aus diesem Grund bieten sie gegen die unvermeidliche Langeweile eines Inlandfluges nur unzureichenden Schutz. Die meisten Passagiere, selbst solche der höheren Bildungsschichten, greifen in dieser Situation, zumal sie ja überwiegend alleine reisen und sich daher von ihren Freunden und Kollegen unbeobachtet wissen, vorzugsweise nach den bunten Blättern mit den phantastischen Überschriften. Ein solches Verhalten lässt sich auch am heutigen Tag konstatieren. Es ist diesmal sogar besonders naheliegend, denn da sticht eines der Blätter mit auffallend grellen Farben und einem in die Augen springenden Titel hervor. Man sieht das Bild eines Mannes, dem das Blut von den Armen trieft. Darunter steht der viel versprechende Titel „Bossi frisst Herrn in Raten auf". Das kleinere Foto der Bulldogge mit dem Namen Bossi, die dieses Verbrechen verübte, bietet sich dem wissbegierigen Betrachter ebenfalls an.

    Natürlich wird das Blatt von der überwiegenden Zahl der Eintretenden ergriffen, auch solchen, die sich zusätzlich noch mit einem der seriösen Blätter versorgen.

    Das bunte Blatt mit der Bulldogge Bossi ist auch die Zeitung, nach der die gerade eintretende Frau Meierdom mit schüchternem Lächeln greift. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie dafür nicht zahlen muss, daher ihre Schüchternheit. Auch Herr Meierdom, ein über fünfzigjähriger Mann mit zwei wunderlich rechts und links der Glatze abstehenden Schläfenlocken, nimmt sich ein Exemplar von dem Stoß. Doch kaum ist sein Blick auf den Titel gefallen, wirft er den Kopf unwillig in die Höhe und schnaubt seiner Frau ein empörtes „So ein Unsinn", hinüber, wobei er die lächelnde Stewardess mit seinem wütenden Blick erschreckt. Gewiss, Herr Meierdom versteht etwas von Hunden, deswegen hat er ja vor zwei Wochen seinen preisgekrönten Beitrag über ihr Seelenleben verfasst. Ein Mann wie er weiß natürlich, dass ein normales Tier zu einem solchen Verhalten gar nicht imstande ist. Der Titel empört ihn erst recht bei einer Zeitung, der er nun schon seit zwei Jahrzehnten die Treue hält. Warum steht denn da jetzt auf einmal ein so hanebüchener, schamloser Unsinn drin? Das kann man sich doch nicht bieten lassen!

    Wie immer, wenn Herr Meierdom sich erregt, hat das Auswirkungen auf seinen Kreislauf. Ein gar nicht so leichtes Rot überströmt seine Wagen, die Adern treten an Nase und Wangen hervor. Sein Schritt stockt, obwohl die nachrückenden Passagiere in den offenen Leib des Airbus drängen. Am liebsten würde Herr Meierdom es gleich hier am Eingang den Leuten sagen, dass sie einen derartigen Unsinn auf keinen Fall glauben dürfen. Wie kann man den Hunden eine solche Verleumdung antun, die doch seit Jahrtausenden die treuesten Freunde des Menschen sind! Seine einzigen wahren Freunde sogar, denn auf Kameraden in Menschengestalt kann sich ja heute, wenn es wirklich auf Treue ankommt, keiner mehr wirklich verlassen. Dem Herbert Kungel hat er geglaubt. Sein bester Freund war das einmal gewesen, jedenfalls hatte er ihn dafür gehalten. Aber auch der hat ihn von einem Tag auf den anderen im Stich gelassen. Ein Hund würde das niemals tun. Ein Hund hat ihn noch nie verraten. Hunde sind einfach treu, von Natur aus.

    Welch frecher Unsinn!, schnaubt er, den Druck der Nachkommenden in seinem Rücken spürend, noch einmal in Richtung zur Stewardess. Die aber lächelt, wie sie es immer tut - bei jedem der eintretenden Passagiere. Das ist die Vorschrift, und sie gilt jedenfalls solange, wie die Passagiere nicht aufsässig werden und die Ordnung im Flugzeug stören. Dann gibt es natürlich nichts mehr zu lächeln. Leider kommt dieser Fall in letzter Zeit gar nicht so selten vor ...

    10 Uhr 56

    Etwas vor elf tritt Kapitän Behrends, ein mächtiger blonder Mann um die fünfzig, mit seinem gebückten Kopiloten Kroschke als letzter durch die Eingangstür. Er hat noch Zeit, es wird noch eine Viertelstunde vergehen, bis die Maschine auf die Startbahn hinausgeschleppt wird. Die üblichen Verzögerungen, der Hamburger Nieselregen spielt wieder einmal eine leidige Rolle. Stellenweise liegt er als dichter Nebel über der Bahn. Behrends lässt sich einen heißen Kaffee in das Cockpit bringen. Dabei kann er es nicht lassen, der jungen Stewardess Ute Dalz sozusagen versehentlich über die Hand zu streichen.

    Die Ute kennt er schon lange. Er freut sich immer wieder, wenn er sie sieht. Er mag ihr Lächeln und ihren kecken Witz, auch wenn sie jetzt auf seine Vorschläge zu einem Treffen im Café Stern längst nicht mehr eingeht. Seit sie verheiratet ist, wie sie sagt. Aber er glaubt, dass das eher etwas mit seinem Alter zu tun hat. Immerhin ist es ein Vergnügen, die Ute anzuschauen, und einen duftenden süßen Café, den wird sie ihm jedenfalls immer servieren. Dagegen wird der magere Kopilot, dieser bleiche, unscheinbare Kroschke, den Flug ganz bestimmt nicht versüßen. Außer einem hingelispelten Gutenmorgengruß und dem üblichen Dialog über die technischen Angaben der Instrumente, ist mit dem Mann ja l kein Wort zu wechseln.

    Ja, Behrends sieht es deutlich voraus. Dieser Flug wird in beiderseitigem mürrischen Schweigen vergehen. Mit ernüchternder Klarheit stellt sich der Kapitän die kommenden eineinhalb Stunden vor. Schweigen, nichts weiter als tonloses Schweigen. Das ist nicht so leicht zu ertragen, zumal wenn man so ein Bedürfnis nach Worten hat wie gerade er. Wie gut es im Vergleich mit ihm die Reisenden haben! Die können doch wenigstens ein Buch oder eine Zeitung lesen, aber er muss schweigend in den Nebel, die Wolken oder auf die Instrumente starren, beinahe zwei Stunden lang. Für ihn gibt es keinen Pardon.

    Ja, es wird wohl das unselige Wetter sein, dieser verdammte Nieselregen, der einem das Gemüt auf den Boden drückt. In Hamburg ist es eben die meiste Zeit nass. Das ist schon merkwürdig, wenn man bedenkt, dass auf die Stadt an der Elbe insgesamt nicht mehr Regen fällt als zum Beispiel auf Rom. Das hat Behrends vor kurzem in einer Zeitung gelesen. Nicht mehr Regen im ganzen Jahr als in Rom! Man stelle sich vor, wie schön es in Hamburg sein könnte! Doch leider hat ein launischer Wettergott Hamburg und seine Bewohner bestrafen wollen - für irgendein unbekanntes Vergehen vermutlich. Er hat es so eingerichtet, dass der Regen seine Fracht an wenigen Tagen auf die heilige Stadt entlädt, in Hamburg dagegen ist er zu einem Sprühnebel aufgefächert. Ohne eine bestimmte Vorliebe für besondere Tage verteilt der sich gleichmäßig über alle dreihundertfünfundsechzig von ihnen.

    Es ist wohl der verdammte Regen, aber vielleicht bin ich auch einfach nur schlechter Laune, gesteht sich Kapitän Behrends. In letzter Zeit kommt das öfter vor, eigentlich bin ich ja schon permanent schlechter Laune. Als ob man nicht auch Grund genug dazu hätte! Es braucht ja auch gar kein schlechtes Wetter, keinen Nieselregen, damit einem die üble Laune auf das Gemüt drückt. Die feinen Herren der Direktion sind daran schuld. Die haben sich doch schon wieder etwas einfallen

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