ASKIFOU: eine deutsche Flucht
Von Thomas Bäumler
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Buchvorschau
ASKIFOU - Thomas Bäumler
PROLOG – WIE JOHANNS FLUCHT BEGANN
Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch (Kohelet 1.2;2,21-23). Die Tage des Menschen sind wie Windhauch, alles geht dahin, nichts bleibt. Throne und Mächte vergehen und des Menschen Werke sind wie Staub, den der Wind vor sich her weht...
Mit gehetztem, unruhigen Blick, nach allen Seiten witternd wie Wild, das den Jäger fürchtet, stand der hagere alte Mann am Bahnsteig und tupfte sich mit einem großen altmodischen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Mutterseelenallein war er, einsam und verlassen stand er da, mit klopfendem Herzen in all der lärmenden Betriebsamkeit, die um ihn herum herrschte, und wartete auf den Elektrozug nach München, der jeden Augenblick einfahren sollte. Wie um ihn daran zu erinnern, dass er ständig unter Beobachtung stand, begann die Stelle an der Innenseite seines linken Oberarms, da wo die Haut zwischen den Muskeln weich war, zu brennen, genau dort, wo man ihm vor gut zehn Jahren den Chip implantiert hatte, den jeder Bürger Deutschlands erhalten hatte, damit die staatlichen Organe jederzeit über seinen jeweiligen Aufenthaltsort im Bilde waren und vor allem, um ein unerlaubtes Abwandern ins Ausland unterbinden zu können. Gerade eben noch hatte er sich von seinem Freund Christian, dem letzten Band, das ihn noch mit seiner Heimat Deutschland verbunden hatte, verabschiedet, bevor dieser in den Regionalzug nach Nürnberg eingestiegen war, um in sein Kloster zurück zu kehren, das er vor vielen Jahren verlassen hatte.
Es war nicht nur die Kühle des frühen Julimorgens, die ihn frösteln ließ, vor allem war es die Angst davor, dass seine Fluchtpläne von den Behörden im letzten Moment aufgedeckt werden könnten und die Furcht vor der völlig ungewissen Zukunft, die ihn erwartete.
Es war eine Sache mit der Bahn zu verreisen, anstrengend genug für einen Menschen mit 81 Jahren, eine ganz andere Sache war es jedoch, nur mit den paar Dingen, die man am Leibe trug und einem Rucksack einen Zug zu besteigen, wohl wissend, dass man damit eine Reise ohne Wiederkehr antreten würde, dass man das Land, das einem über achtzig Jahre lang geliebte Heimat gewesen war unwiderruflich verlassen würde, nicht wissend, wo man letztendlich stranden würde und ob der mit heißer Nadel eilends gestrickte Fluchtplan, den er sich zurecht gelegt hatte, überhaupt würde aufgehen können, wusste er ja nicht einmal, ob Ekaterini in Ammoudia, Kreta überhaupt noch lebte, hatte er doch seit über einem Jahr nichts mehr von ihr gehört.
Vorsichtig aus den Augenwinkeln spähend sah er sich nach allen Seiten um, ob einer der allgegenwärtigen Vertreter der staatlichen Ordnungsmacht auf ihn aufmerksam geworden war, dies schien jedoch nicht der Fall zu sein, beschäftigte sich doch ein ganzer Trupp von ihnen gerade mit einer Schülergruppe, die offenbar eine Ausflugsreise antrat.
Und schon fuhr leise summend, eine kühle Bugwelle aus Wind vor sich her schiebend, der hochmoderne Elektrozug in den Bahnhof ein. Mit weichen Knien betrat der alte Mann unsicher schwankend eines der Großraumabteile, aus denen der Zug bestand und ließ sich seufzend auf einem Fensterplatz, den er glücklicherweise ergattern konnte, nieder. So konnte er wenigstens noch einmal von seiner Heimat gebührend Abschied nehmen. Wenn er dann noch die Grenzkontrollen beim Übertritt nach Österreich und, besser noch, nach Italien überstanden haben würde, hätte er mit dem Land, das ihm zuletzt keine Heimat mehr gewesen war und nie mehr wieder eine würde sein können, endgültig abgeschlossen.
Während der Zug sich mit einem sanften Ruck langsam in Bewegung setzte, sann er darüber nach, wie es dazu hatte kommen können, dass ein alter Mann wie er gezwungen war, seine Heimat aufzugeben und alles hinter sich zu lassen, was ihm einmal lieb und teuer gewesen war......
Askifou
Heulend fegte der Meltemi von den Hängen der weißen Berge und tobte um das nächtliche, von einem fahlen Mond beschienene kleine Häuschen, in dem sie ihren Urlaub verbrachten. Das beständige, bei jedem Windstoß neu einsetzende Schlagen und Klappern der Läden und Türen raubte ihm jeden Schlaf, gab ihm aber die Gelegenheit, seine neben ihm liegende Frau in Ruhe zu betrachten. Ihr vom Mond beschienener Körper mit den weiblichen Formen, die er so liebte, schimmerte silbrig, fast wie Marmor dachte er, während sich ihre Brust mit jedem Atemzug sachte hob und senkte. Ihr Gesicht hatte sie zur Seite gedreht, es verschwamm im Halbdunkel, er wusste jedoch ohnehin um die schöne Ebenmäßigkeit ihrer Züge. In Momenten wie diesen konnte er sein Glück kaum fassen, mit dieser Frau bereits seit 25 Jahren verheiratet sein zu dürfen und den guten Teil seines Lebens mit ihr geteilt zu haben.
Gestern waren sie auf Wunsch ihres Sohnes auf der Hochebene Askifou in Südwestkreta. Askifou, was so viel heißt wie ungebeugt, ungebrochen und deren Name wohl daher rührt, dass sich die Bewohner der Sfakia weder von den Venezianern, noch von den Türken, noch von der deutschen Wehrmacht mit ihren grausamen Massakern ihren unbeugsamen Stolz, ihre Würde und ihre Freiheit hatten rauben lassen. Das dort oben in einem kleinen Weiler gelegene Kriegsmuseum, eine private Sammlung von Fundstücken der kriegerischen Vergangenheit Kretas, insbesondere natürlich der Zeit des zweiten Weltkriegs, hatte es ihrem Sohn (die Tochter war nicht so begeistert gewesen) angetan, eine Sammlung, die ihresgleichen auf der Welt sucht, ist sie doch das Produkt der lebenslangen psychischen Verarbeitung traumatischer Kindheitserlebnisse ihres Begründers, der als Zehnjähriger starr vor Angst aus einem Versteck mit ansehen musste, wie seine ganze Familie beim Einmarsch der Wehrmacht in Askifou ausgelöscht wurde.
Askifou, ungebeugt, welcher Name, welch ein Programm für eine abgelegene, kleine Hochebene auf einer Insel am Rande Europas. Lange musste er noch darüber nachsinnen, während langsam die Sonne aufging und die Ebene von Frangokastello in sommerlich gleißendes Licht tauchte.
I. 2042
…...Begonnen hatte alles an einem dieser dunstigblauen Maitage, an denen eine bereits früh am Morgen spürbare Wärme eine erste Ahnung des bevorstehenden Sommers aufkeimen lässt und letzte Fliederdüfte vom endenden Frühling künden.
Fahlgelb ging die Sonne eben über den kahlen Hängen des Fischerbergs auf, den im vorvergangenen Jahr der letzte einer ganzen Serie heftiger Herbststürme, wie sie der unbestreitbare Tatsache gewordene Klimawandel mit sich brachte, beinahe vollständig entwaldet hatte, so dass er jetzt schütter dalag wie der Rock eines Bettelmanns. Die blasse Sonne spiegelte sich in den nahezu blinden Fenstern der ehemaligen Porzellanfabrik Seltmann, was den eigentümlich schwefligen Farbeindruck, der über der Stadt lag, noch verstärkte. „Alle Bürger Weidens möchten sich heute ab 1o Uhr zur jährlichen Meldung in den Stadtteilzentren einfinden…", forderte eine metallisch klingende, unpersönlich digitale Stimme aus den