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Ein ganz böser Fehler?: Krüppelmemoiren I
Ein ganz böser Fehler?: Krüppelmemoiren I
Ein ganz böser Fehler?: Krüppelmemoiren I
eBook406 Seiten

Ein ganz böser Fehler?: Krüppelmemoiren I

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Über dieses E-Book

Sommer 1990, während der Wendezeit. Das Schicksal schreitet voran ... Ein junger Mann wird auf der Autobahn verunfallt. Schwer verunfallt. Und – alles ändert sich nun für ihn: Er ist nicht mehr der Strahlemann, der versucht, immer im Mittelpunkt zu stehen, er ist jetzt ins Abseits gestoßen. Alle seine "Freunde" haben ihn verlassen, seine Freundin hat ihn verlassen, seine Eltern haben ihn verlassen – er ist isoliert. Von den Ärzten erhält er eine vernichtende Prognose. War es das?
Nun merkt er zum ersten Mal, dass man als "Krüppel" andauernd belogen wird, nicht mehr für voll genommen wird.
Trotzdem: Er will sich durchbeißen, es allen zeigen, wieder hochkommen. Aber wie? Mit unbändigem Hass, Hass auf alles und jedem? Mit niemanden mehr störender Ironie? Mit gespieltem Zynismus? Jede Unterstützung, um die er heischt, wird ihm verwehrt. Während seiner Krankenhauszeit, die lange, sehr lange dauert, und auch, als er wieder im Alltag steckt. Oder er muss hart ringen um sie. Oder – muss er es doch nicht? Stehen ihm alle Wege offen, er erkennt es nur nicht? Wird er wieder ins Licht treten? Und was wird aus seinem Hass? Wird er ihn überwinden?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Juni 2021
ISBN9783754131466
Ein ganz böser Fehler?: Krüppelmemoiren I

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    Buchvorschau

    Ein ganz böser Fehler? - Mike Scholz

    Ein ganz böser Fehler?

    Krüppelmemoiren I

    von

    Mike Scholz

    Autobiographie

    Impressum

    © 2018 Mike Scholz

    E-Mail: amoebi@gmx.de

    Mobil: 0162 295 30 68

    Coverdesign: Irene Repp 

    https://daylinart.webnode.com/

    Bildrechte: © Gary Gray - 123rf.com; © Zacarias Pereira Da Mata - 123rf.com;

    © nanypw - 123rf.com; © Jakub Gojda - 123rf.com

    Satz: Jana Walther

    Verlag & Druck: epubli

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Ver­lages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbe­sondere für die elektronische oder sonstige Verviel­fältigung, Überset­zung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    ... The life is a show, and the show must go on.

    (Queen)

    Ich danke Angie, Mona und Micha für ihre Hilfe

    und grüße sie alle.

    Vorwort

    Ich hoffe, dass diese Geschichte denen nützt, die in einer ähnlichen Lage sind, wie ich es war. Meine Er­fahrung besagt, dass Ärzte – ganz gleich welchen Fachgebietes – meistens zum Patienten sagen: Riskie­re nichts, es wird schon werden. Doch wie, das sagen sie einem nur ganz selten. Wenn man dann al­les daran setzt, seine Regeneration zu verwirkli­chen, auch Niederlagen (Stürze mit deren Folgen) wegste­cken kann, ohne dass man wegen Angst vor weiteren in sich zusammenfällt, dann schafft man es auch.

    Ich war 21, als der Unfall passierte. Normalerwei­se – ich nehme es zumindest an – bekommt man dann von jeglicher Seite Unterstützung. Bei mir war aber das genaue Gegenteil der Fall: Höflichkeitsphrasen, die mir dann, als ich es merkte, auf den Geist gingen, waren von den meisten die einzige Hilfestellung, die sie mir zuteilwerden ließen.

    Aus diesem Grund soll sie auch Freundeskreisen, die davon betroffen sind, zeigen, dass Behinderte noch eine Gefühlswelt haben und der Mensch immer noch ein Rudeltier ist; und Eltern könnten daran er­kennen, wie man es nicht machen sollte.

    Dies sind meine Memoiren, keine Fiction–Ge­schichte. Und Memoiren sind dazu da, es so zu be­schreiben, wie es wirklich gewesen ist. Auch, wenn es manchmal sarkastisch bis makaber ist, sollte man doch immer bedenken, Umwelt beeinflusst den Men­schen. Und in manchen Situationen wird man ge­zwungen, so zu reagieren! Eine Chance hätte es für mich nie gegeben, wäre ich ein ruhiger Typ. – Das ist vor kurzem von jemand Unbeteiligtem gesagt wor­den. – Ich möchte auch auf keinen Fall mit erhobe­nem Zeigefinger dastehen. Deswegen ist dies kein rei­ner Krankenreport. Obwohl dies eine gewichtige Rol­le spielt – logisch, denn darum geht es ja. Aber es geht auch um das Umfeld, was für einen Menschen sehr, sehr wichtig ist. Und wenn einige daraus etwas für sich entnehmen können, bin ich schon zufrieden. Und wenn man noch darüber lachen kann – super. Denn Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

    So, und nun viel Spaß beim Lesen.

    Das Jahr 1990 ist angesagt, 3. August. Ein Jahr des totalen Umbruchs in Deutschland. Das sozialistische System der DDR musste sich geschlagen geben, zeig­te, dass es der Marktwirtschaft unterlegen ist. Den Menschen hatten sich plötzlich die Grenzen geöffnet, jetzt konnten sie Leute wiedersehen, von denen sie geglaubt hatten, vor Jahrzehnten wäre es das letzte Mal gewesen. Auch die Währungsreform war vollzo­gen, die Ostdeutschen nannten seit einem Monat Geld ihr Eigen, welches Wert in der ganzen Welt besaß. Nur die politische Einheit fehlte noch, doch die war auch schon in Sicht, sollte noch im gleichen Jahr über die Bühne laufen. Alles schwelgte in Verzückung, freute sich über die neue Freiheit, die es auszukosten galt.

    Auch die Insassen eines Trabants, welcher gerade auf die Autobahn Löbau–Dresden am Burkauer Berg auffährt. Auch sie wollen die Möglichkeiten der neu­en Freiheit genießen, wollen nach Augsburg fahren, um Karten für ein Thrash-Metal-Konzert zu holen.

    Gib Stoff!, fordert Mike, der Beifahrer, den am Lenkrad sitzenden Frank auf.

    Hier wird gebaut. Deswegen nur sechzig erlaubt.

    Scheiße!, knurrt Mike. Und legt die Füße auf das Handschuhfach, greift nach einer Zigarette, zuckt je­doch im gleichen Augenblick davor zurück, da er mit Rauchen aufhören will; wirft dafür einen Blick nach hinten auf den Rücksitz, wo Pia, seine Freundin, halb sitzt, halb liegt. Und er betrachtet sie genüsslich, kann sich sehr gut an den Freudentaumel der letzten Nacht erinnern, als er mit ihr das erste Mal schlief. Denn ob­wohl sie erst sechzehn ist, kann sie doch schon jedem Mann den Kopf verdrehen – mit ihren üppigen prallen Rundungen, an denen er sich laben konnte. Aber trotzdem! Mike – der gerade bei der Armee ist und kurz vor seiner Entlassung steht, welche am 24. Au­gust stattfinden soll (endlich, wie er findet) – wird da­nach für ein Jahr als Betreuer in die USA gehen und hat nicht die Absicht, sie dorthin mitzunehmen. Und er weiß auch, warum er Pia nichts davon erzählt, sie hier zurücklassen will: Er ist nicht in sie verliebt! Op­tisch sieht sie in seinen Augen zwar unheimlich gut aus, doch was sie außen mehr hat, fehlt ihr dafür im Kopf – findet nicht nur er. Und deswegen ist für ihn eine Bindung an sie auf ewig unmöglich.

    Ab Dresden wird die Autobahn besser, lässt sich Frank wieder vernehmen. Ab da können wir dann schneller fahren.

    Ich werde jetzt schlafen, meldet sich Pia. Und auch Mike schließt die Augen, will ein Nickerchen machen. Denn der Sensenmann erhebt sich bereits mühsam ächzend, um die Toten für ihrem all–mitter­nächtlichen Rundgang aufzuwecken.

    Plötzlich fängt Frank an, unflätig zu fluchen. Wor­auf Mike wieder die Augen öffnet, denn das ist nicht Franks Art.

    Was ist los?, fragt er verwundert.

    Na gucke mal durch die Scheibe!, kräht Frank wütend dagegen.

    Mike setzt sich dazu auf. Wünscht sich jedoch im gleichen Augenblick, lieber unten geblieben zu sein. Denn draußen versucht sich ein Polski Fiat als Lü­ckenspringer, überholt einen anderen Trabant, der sich mit ihrem Wagen auf gleicher Höhe befindet.

    Frank flieht vor der drohenden Kollision auf die Parkspur. Verliert aber nicht die Kontrolle über sei­nen Wagen und schickt sich nach weiteren Flüchen an, seine Fahrt fortzusetzen.

    Es rumst kurz. Glas klirrt. Dann ein aufbrüllender Motor, der plötzlich abstirbt. Und ein anderer, der ei­ligst verschwindet. Pia schreit auf: Haltet an! Haltet an! Da ist was passiert!

    Frank stoppt den Wagen ab. Mike lugt durch die Heckscheibe, sieht jedoch nur rote Augen, die sich langsam schließen. Und ein paar helle Blitze, die ein Laser über den Horizont jagt. Doch sonst alles dun­kel, wie in einer tiefen Grube auf einem verlassenen Fabrikgelände.

    *

    Mike ist ausgestiegen und läuft zurück, um sehen zu können, was da passiert ist.

    Frank, der seinen Motor abgestellt hat, folgt ihm.

    Wie von Geisterhand geschaffen tritt unvermutet ein Anblick aus der Dunkelheit hervor, der ihren Drang weiterzulaufen, stoppt, sie aber auch nicht zu­rückgehen lässt, an Ort und Stelle in Erstarrung treibt: Der andere Trabant steht quer zur Fahrbahn, belebt ihre Vorstellungen eines Trümmerhaufens: Scherben liegen weit verstreut auf der Straße, aus dem Nichts kommendes Licht spiegelt sich in den Zacken der Au­toscheiben, die Heckklappe hat sich halb abgeschert und gewährt Einblick in die gähnende Dunkelheit des Kofferraums, Eingeweide des Wagens lugen um die Ecke; niemand bewegt sich darin, obwohl deutlich zu sehen ist, dass es zwei Insassen gibt.

    Mike erwacht zuerst aus seiner Erstarrung. Renn schnell zurück und hole Verbandszeug, weist er Frank an. Und sage Pia, dass sie drin sitzen bleiben soll, fügt er noch hinzu. Habe keine Lust, dass sie mir den Buckel voll kotzt.

    Frank rennt los. Derweil ruckt Mike die Beifahrer­tür auf.

    Eine korpulente ältere Frau schaut zu ihm – nein, nicht zu ihm, sondern zu irgendeinem entfernten Punkt hinter ihm. Und Blutbläschen blubbern stoß­weise in unregelmäßigem Rhythmus aus ihrer Nase heraus. Der Fahrer aber schaut niemanden mehr an; er klebt mit dem Kopf am Lenkrad, dazu dringt qualvol­les Stöhnen aus seinem weit geöffneten Mund.

    Und, was ist?, will Frank wissen, als er zurück­kehrt.

    Mike weist nach innen: Gucke es dir an.

    Frank riskiert einen kleinen Blick. Doch gleich darauf hält er sich würgend und heftig nach Luft jap­send die Hand vor den Mund, saugt danach mit gieri­gem Röcheln die kühle Brise der Nacht in seine jetzt nach Erlösung schreienden Lungen. Ich kann kein Blut sehen, gesteht er weinerlich, davon wird mir immer soo schlecht.

    Mist, dann muss ich die Alte auch noch alleine raushieven, zeigt Mike sich wenig begeistert.

    Doch dann fasst er zu. Schleppt unter Ächzen die Frau zum Straßenrand, wo er sie in eine stabile Sei­tenlage legt und nachschaut, ob er bei ihr irgendwo Verband anlegen muss. Da er aber nichts findet, rennt er zurück zum Fahrer des Wagens.

    Frank spurtet zu diesem Zeitpunkt den Berg hinauf, hat das Den-Kommenden-Wagen-Zeichen-Geben über-nommen.

    Kurze Zeit später kommt ihm der erste entgegen. Frank winkt – irgendwie, aber wie, das weiß er selbst nicht – und stellt erleichtert fest, dass der Opel Kadett das Winken bemerkt und richtig gedeutet hat. Frank schaut ihm nach, sieht, wie der Opel hinter Mike langsam vorbeituckert und dann nach der Unfallstelle anhält, die Warnblinkanlage blitzt auf.

    Mike hat sich über den Fahrer gebeugt. Dabei be­merkt er, wie hinter ihm ein Wagen entlangfährt und dann irgendwo hält. Doch Mike kümmert sich nicht darum, ist vielmehr konzentriert auf den vor ihm lie­genden Mann, fragt sich, ob er es wagen soll, ihn auch herauszutragen; ist sich jedoch nicht so schlüs­sig darüber. Darum richtet er sich wieder auf und lässt hilfesuchend seinen Blick umherschweifen.

    Frank hat sich wieder der Bergkuppe zugedreht und will weiter auf sie zurennen. Doch da kommt der nächste Wa­gen. Und der fährt mit hoher Geschwin­digkeit. Ein Merce­des ist es, erkennt Frank und fängt an zu winken.

    Wiederum steigt in ihm Befriedigung auf, als er bemerkt, dass der Mercedes abbremst – er hört die Reifen quietschen. Aber plötzlich – der Mercedes ge­rät ins Schleudern.

    Frank weiß noch nicht, was er davon halten soll.

    Dann hört er, wie der Motor von einer starken Gas­peitsche getroffen aufjault, seinen geraden Weg fortsetzt. Und nun ist kein Bremsenquietschen mehr zu vernehmen. Er rast jetzt mit voller Geschwindig­keit auf Frank zu!

    Dessen Augen weiten sich vor Erstaunen, gepaart mit Entsetzen. Nun hämmert es ihm durch den Kopf: Spring! Spring! Der Wagen hält nicht an! Spring!

    Frank hebt ab. Dabei scheint es ihm, als wenn er in Zeitlupe segeln würde, Kopfschmerzen bekommt er; nur eine Hoffnung macht sich in ihm noch breit: Mike bemerke es und fliehe rechtzeitig. Dann landet er im Straßengraben.

    Dort liegt er still mit schmerzenden Knochen und sieht nicht, was nun abläuft auf der Straße, hört es aber – ein Orgeln und Stampfen und Kreischen und Schreien, wie er es noch nie gehört hat, und nie mehr hören möchte. – Er hält sich die Ohren zu.

    Mikes Blick bleibt an dem nun haltenden Opel hän­gen. Er sieht, wie die Warnblinkanlage angeschaltet wird, hofft, dass ihm der Fahrer helfen kann. Doch im gleichen Moment ertönt hinter ihm ein wildes Gehu­pe, Scherben knirschen, verraten, dass sie mit riesiger Geschwindigkeit überrollt werden. Dazwischen das immer wiederkehrende hysterisch–entsetzte Schreien von Pia: Mike! Mike!

    Nun dreht er den Kopf in Richtung der Geräusch­kulisse. Sieht einen schleudernden Mercedes auf sich zurasen. Will wegspringen.

    Kurz nach dem Absprung spürt er, wie sein Körper von etwas Hartem erfasst wird. Dann wird es dunkel. Nur ein Gedanke schießt noch in seinen Kopf und bleibt in ihm stehen:

    Das war's!

    Wiedergeburt

    „So close no matter how far …" (Metal­lica)

    1

    Dunkelheit

    schwarzer Raum – kein Empfinden – existieren?

    Dunkelheit

    Plötzlich – ein Lichtblick

    Wie von einem Blitz getroffen entsteht ein Gleißen in meinem Kopf, zeigt mir überdeutlich und unabänder­bar ein Bild, in dem ich nur der objektive Zuschauer bin, meinen Körper sehe, in ihm aber nicht darinste­cke: Er sitzt in einem Wagen, welchen es hin und her schüttelt.

    Doch ehe ich nach diesem Bild greifen kann, es mir möglich ist, die Bewandtnis dieses Bildes zu er­gründen, entfleucht es wieder. Und um mich herum senkt sich wieder der Schleier der Dunkelheit.

    *

    Plötzlich flammt das Licht wieder auf. Und diesmal weiß ich, wo ich bin: Im 'CK', einer Disko, wo ich mich öfters blicken lasse. Und stecke dort mitten in einer Schlägerei. Doch obwohl ich viele Schläge ein­stecken muss und ich hin und her wanke, wird mir klar, ich bin wieder nur Beobachter. Der Körper dort unten wehrt sich, versucht zurückzuschlagen; doch ich bin völlig unbeeindruckt davon, spüre keine Schmerzen, kein Wutlodern in mir, auch keine Reak­tion, es juckt mich einfach nicht! Jetzt wird er auf eine Bank gedrängt und dort festgeklemmt, gleichzeitig droht das Bild wieder zu entfleuchen. Ich will es diesmal festhalten, suche eine Möglichkeit dazu. Doch – auf einmal etwas anderes. Ich schaue mich um. Gibt es hier irgendwo eine Kamera, welche sich umgeschwenkt hat? Ich richte meinen Blick wie­der auf das sich vor mir abspielende: Sehe erneut ihn, diesmal auf einem Bett, an den Händen angeschnallt, zerrend und heftig reißend an seinen Fesseln. Und ich bin jetzt wieder drin im Körper, spüre das Festhalten an den Händen, spüre, dass ich versuche, mich zu be­freien.

    Es ist doch mein Körper!

    Nach einer Weile halte ich erst einmal inne, um wie­der Kraft sammeln zu können. Schaue mich derweil um und erkenne, dass mir der Raum bekannt ist. Nur woher? – Plötzlich, als wenn die Erkenntnis darauf gewartet hätte, bis ich mich mit diesem Thema befas­se, um dann zu erscheinen, flüstert sie mir zu, dass ich mich im Bett der Wohnung befinde, in der ich neunzehn Jahre lang lebte. Doch warum? Vor einem Vierteljahr zog ich um. Und wer und warum hat man mich angeschnallt? Ich hasse es, in der Freiheit be­schnitten zu werden!

    Ich versuche wieder, die Gurte zu zerreißen. Ver­suche es mit aller Kraft, die mir zur Verfügung steht. Versuche es erneut und noch einmal.

    Trotz der Vereinigung des Körpers mit mir – nichts. Ich resigniere. Das Leuchten vor meinen Au­gen wird auch wieder schwächer. Doch diesmal kann ich es nicht festhalten, bin ja der Beweglichkeit mei­ner Hände beraubt.

    Die Dunkelheit nimmt mich wieder in Besitz, bet­tet mich ein in die Wogen ihrer Unendlichkeit.

    *

    Wieder das Leuchten. Erst ein Glimmen, dann die Leuchtkraft von vorhin, dann – es strahlt richtig. Sagt mir, dass ich in der Wirklichkeit sein muss. Ich fühle mich auch als Bestandteil dieses Körpers, der auf die­sem Bett liegt.

    Sind meine Hände immer noch angeschnallt? Ich hebe die linke Hand: okay; die rechte: Nanu? Was ist das? Sie lässt sich nicht bewegen! Ist sie noch ange­schnallt? Nein. Und doch ... Was ist hier los? Und was ist das für ein Zimmer? Kann mich nicht erin­nern, es irgendwann mal gesehen zu haben. Und was ist das für ein Bett, in dem ich hier liege? Kann mich auch nicht erinnern, jemals reingestiegen zu sein! Wo bin ich? Was wird hier gespielt??

    Zwei junge Frauen treten in den Raum. Beide se­hen sehr gut aus, doch – ich kenne sie nicht! Will sie auch deswegen fragen, was hier eigentlich los ist.

    Wo bin ich hier?

    Können Sie uns hören?, werde ich statt einer Antwort gefragt. Und mir wird auf einmal klar: Ich habe nicht ein einziges Wort ausgesprochen. Nicht ei­nes.

    Ich schaue die beiden Frauen an, verdutzt und un­gläubig. Kann es nicht fassen, dass ich nicht sprechen kann. Und das gerade ich, wo ich doch so eine abso­lute Quasselstrippe bin.

    Die eine Schwester beugt sich besorgt über mich.

    Das kann sie ruhig öfters machen. Denn was da in ihrem Ausschnitt leuchtet, sieht nicht schlecht aus. Außerdem duftet sie verführerisch.

    Ich kann das nicht verstehen, teilt sie der ande­ren mit. Sein Puls ist in Ordnung, atmen tut er auch, rollt mit den Augen. Wahrscheinlich ist sein Gehör auch verletzt.

    Nein, das ist okay!, will ich schreien, aber auch jetzt entringt sich meinen Lippen kein einziger Laut.

    Nur in meinem Kopf entstehen die Worte.

    Wütend will ich mit dem rechten Arm auf das Bett schlagen. Werde jedoch sehr schnell und schmerzlos daran erinnert, dass der Befehlsverweigerung betreibt.

    Hörst du uns?, werde ich noch einmal von der über mir gebeugten Frau gefragt.

    Ja!Scheiße, geht nicht! – Ich nicke.

    Wie geht es dir?

    Wie soll es mir gehen? Beschissen! Vor allem, weil ich nicht weiß, was hier abläuft! – Ich zucke mit den Schultern.

    Schlaf ruhig weiter, du bist jetzt über den Berg. Sie lassen mich wieder allein.

    Berg? Was für ein Berg? Bin ich Bergsteigen ge­wesen? Mache ich doch normalerweise gar nicht. Aber was ist hier normal? Ich kann nicht sprechen, den rechten Arm nicht bewegen – das muss ein Traum sein, ein schrecklicher Alptraum. Und die bei­den jungen Damen sind Glücksfeen. Was haben sie gesagt? Schlafen? Aber ich schlafe doch schon. Aber vielleicht meinen sie richtig schlafen. Mmh, okay. Jetzt richtig schlafen und dann richtig erwachen. Und diesen Alptraum vergessen.

    Ich lasse mich in die Dunkelheit zurückfallen.

    *

    Eine Stimme schlägt in mein Bewusstsein: Heute ist Freitag, der neunzehnte August.

    Mit einem Schlag bin ich hellwach. Überlege, was ich gestern gemacht habe. Überlege und überlege, zermartere meinen Erinnerungsspeicher. Doch der hüllt sich in Schweigen. Deswegen beschließe ich weiterzuschlafen. Ich träume noch!

    *

    Wieder Stimmen. Eine davon kommt mir bekannt vor.

    Ist es besser geworden mit ihm?

    Er ist heute Vormittag erwacht. Das ist die Stim­me der vorhin über mich Gebeugten.

    Und jetzt? Ist er jetzt auch wach?

    Woher kenne ich diese Stimme bloß? Es will mir nicht einfallen!

    Die mir Bekannte kommt herein. Mike, bist du wach?, fragt sie mich.

    Ich nicke. Richte dann wieder erwartungsvoll mei­nen Blick in Richtung Eingang. Will endlich wissen, wem diese Stimme gehört.

    Sie holt eine Frau herein. Und auch so, wie die Frau aussieht, ist sie mir bekannt. Also: Wer ist das?.

    Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Au­gen: Na klar, meine Mutter! Die sich jetzt mit mit­leidsvollem Blick und fast schüchtern zu mir wendet.

    Hallo Mike. Erkennst du mich?, fragt sie mich leise, als wenn die Stasi mithören würde, und jeden Buchstaben betonend.

    Ich nicke. Und fühle mich plötzlich geborgen und mit Wärme umhüllt, obwohl sie mich nicht anfasst. Nur – ich finde es schön, ein mir bekanntes Gesicht zu sehen.

    Ich darf dir noch nichts mitbringen, aber das wird sich bald ändern. Morgen komme ich wieder. Tschüss.

    Ich greife mit der linken Hand nach ihrer – fürch­terlich langsam bewegt sich diese –, bekomme sie zu greifen; dann fange ich an, sie zu streicheln. Ein Schleier legt sich vor meine Augen.

    Nach einer Weile geht sie mit dem Versprechen wiederzukommen. Ich aber fühle mich durch diese Begegnung zu ihr so hingezogen, von ihrer Wärme so überwältigt, dass alle Fragen nach dem wie, warum und was überschattet werden und diese Gedanken an meine Mutter die Herrschaft in mir übernehmen. Ich schlafe wieder ein.

    *

    Die Augen geöffnet schaue ich mich sofort um. Und erblicke etwas Neues.

    Es war also doch nur ein Traum!

    Ich juble innerlich.

    Dann – Rückfall ins andere Extrem. Ein schmerz­volles Stöhnen will sich mir entringen, doch findet es keinen Ausgang, lässt dafür alles in mir verkrampfen: Wie oft träume ich diesen Scheiß noch? Hört das denn niemals auf? Werde ich denn niemals wach? – Ich liege in einem anderen Zimmer, einem Mehrbett­zimmer, wo weitere sechs Menschen liegen. Und an meinem linken Arm hängt ein Schlauch.

    Was soll denn das Ganze? ist das eine Klapper und ich soll stillgelegt werden?

    Ich betrachte mir den Schlauch genauer. Stelle fest, dass er nirgendwo angeschlossen ist, einfach nur am Arm baumelt.

    Hä? Hää? Was soll denn der dort?

    Ich will ihn abreißen, denn er stört mich. Doch mit der linken Hand bekomme ich ihn nicht zu fassen. Die rechte – ich habe den linken Arm hinübergelegt – kann nicht zugreifen. Was nun?

    Mir fallen die Zähne ein. Darum führe ich den Arm zum Mund und zerre den Schlauch heraus. Was zwar ein bisschen schmerzt, trotz dessen fühle ich mich jetzt viel freier.

    Von irgendeinem Mitbewohner des Zimmers wird geklingelt, worauf eine – Ich wette hundert zu eins, dass ich mich in einem Krankenhaus befinde. Bloß – warum bin ich hier? – Krankenschwester erscheint: Den Schlauch brauchst du aber noch.

    Ich versuche zu antworten, will andeuten, dass dies Blödsinn ist – ich schüttle den Kopf.

    Nichtsdestotrotz versucht sie aber, mir den Schlauch wieder anzulegen, hat allerdings nicht mit meiner Gegenwehr gerechnet. Sie kommt nicht an meine linke Hand heran, da ich sie immer wieder wegziehe.

    Ich muss wohl deine Hand erst festzurren!, droht sie wütend.

    Ich tippe an meine Wange.

    Verwundert schaut sie mich an.

    Na gut, auf deine Verantwortung, schränkt sie dann ein. Aber wenn es nicht geht, kriegst du ihn so­fort wieder dran. Ich grinse.

    Warum soll es nicht gehen? Es hat, und dann wer­den wir weitersehen.

    *

    Essen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit der lin­ken Hand zu löffeln. Denn auch davon bleibt die rechte unbeeindruckt.

    Ich weiß immer noch nicht, was ich hier eigentlich soll. Man scheint hier gar nicht daran zu denken, mich mal zu informieren. Könnte ich reden, würde ich einen Aufstand machen, dass der Sturm auf die Bastille als friedliche Demonstration erscheint. Aber das kann ich nicht! Träume ich vielleicht doch noch? Nee, dazu ist alles hier zu echt. Kann es der Wirklich­keit aber trotzdem nicht zuordnen! Alles konfus hier, unerklärbar, surreal! Ich hänge zwischen den Stüh­len! Eine Scheißstellung ist das. Muss sogar daran zweifeln, ob ich es wirklich selber bin.

    Das Essen schmeckt aber sehr gut; ich muss da­nach feststellen, dass der eine Teller für mich nicht reicht. Also wird noch einer verlangt.

    Die Schwester schaut mich zweifelnd an, dann holt sie mir Nachschlag. Allerdings ist der so gering, dass der ebenfalls nicht ausreicht, nicht ausreichen kann. Ich verlange noch einen.

    Was, du willst noch einen?? Wo isst du denn das hin?

    Ich zeige feixend auf meinen Bauch. Ich bin ein schlanker Typ – schnuppere schon am Zustand des Dürrseins –, weshalb es ihr wohl auch etwas unklar ist, wie ich das verzehren konnte und immer noch nicht genug habe.

    Sie betrachtet mich ungläubig, holt mir aber noch einen weiteren, der diesmal dick belegt ist.

    Nachdem ich den auch verspeist habe, lächle ich befriedigt. Sie jedoch kann es nicht fassen. Schaut vom Teller auf mich und wieder zurück; dann zieht sie kopfschüttelnd ab. Aber wenn es so gut schmeckt, dann ist es doch wohl normal, dass man ein bisschen mehr isst. Und genau dies habe ich heute getan.

    *

    Am Abend erzählt man mir, dass meine Mutter ges­tern dagewesen wäre. Aber ich hätte geschlafen.

    Die wollen mich wohl auf den Arm nehmen, ich war doch gestern wach!

    Kurz darauf höre ich im Radio die Datumsangabe: Es ist Sonntag, der 2. September.

    Sonntag heute? Gestern war doch Freitag, also was soll das? Oder ist dem nicht so? Das gibt es doch aber gar nicht! Eigentlich müsste heute Sonn­abend der 1.9. sein. Was ist hier los? Wollen die mich etwa verscheißern? Es macht denen hier wohl Spaß zu sehen, wie ich meiner Freiheiten beraubt bin! Ja, jetzt habe ich es: Man hat hier bestimmt das Radio manipuliert, es irgendwo angekoppelt, um mich im Ungewissen zu lassen. Ich soll nicht hinter die Büh­nenvorhänge gucken können. Eindeutig. Ich könnte dabei ja etwas für die nicht so Angenehmes entde­cken. Ja, die wollen mich verscheißern, ist sonnen­klar!

    2

    Am nächsten Tag glaube ich, der Zeitpunkt ist ge­kommen, von hier zu verschwinden. – Ja, danke, es war wunderschön hier. Doch es ist nichts nach mei­nem Geschmack; darum winke–winke. – Ich fühle mich munter und frisch genug, misslingen also ausge­schlossen.

    Aufrichten. Muss dabei bemerken, mein Kopf zit­tert wie im Sturm befindliches Espenlaub. Doch im Moment kann ich dagegen nichts tun, also ab in den Hinterkopf damit.

    Der Fußboden vor mir scheint eben, begehbar zu sein.

    Auf einmal registriere ich, wie irgendein Blick auf mir ruht. Ich hebe den Kopf, lasse meinen eigenen umherkreisen – dann: Ein älterer Patient beobachtet mich argwöhnisch. – Spinnt der? Was hat denn der zu gucken? Der ist wohl neidisch? Na, was soll's; mich juckt es ja eh nicht. Weiter geht es.

    Die Beine stoßen die Bettdecke weg und stellen sich auf. Rechts ist das noch etwas komisch, aber egal jetzt. Eeh, wenn ich hier erst einmal raus bin, nicht mehr unter dem hiesigen Einfluss stehe, dann wird sich das schon geben.

    In dem Moment – es klingelt. Verdutzt schaue ich mich um – der Alte hat geklingelt. Mistbock. Schleu­nigst wieder ins Bett.

    Eine Schwester kommt hereingerannt. Wer hat geklingelt?, will sie wissen.

    Der ältere Patient meldet sich: Ich war's. Der Jun­ge da drüben war aufgestanden.

    Ist irgendwas nicht in Ordnung?, wendet sie sich an mich.

    Ich gucke ganz unschuldig und zucke mit den Schultern.

    Okay, aber mache das nie wieder!

    Kaum ist sie weg, schnellt mein Körper wieder in die Höhe.

    Es klingelt.

    Ich lasse mich wieder zurückfallen und werde so wütend, dass ich ihm den Hals umdrehen könnte, wäre er in meiner Reichweite: Scheinbar will der sich als Amme aufführen. Hat der nicht mehr alle? Doch was bleibt mir anderes übrig? Ich muss nach wie vor gute Miene zum bösen Spiel machen, die Schwester ganz unschuldig anlächeln. Wird nur mit jedem Mal schwerer.

    Die gleiche Schwester wie vorhin. Der Hilfsauf­passer reckt nur seinen Finger in meine Richtung, worauf sie sofort zu mir weiterläuft.

    Also wenn ich wegen dir noch einmal gerufen werde, passiert was!, schreit sie mich an. Dann schnalle ich dich wieder fest!

    Darauf zu nicken, fällt mir schwer, doch ich tue es. Muss es tun, denn sonst passiert das sofort; man kann erkennen, dass sie dazu bereit ist.

    Nach ihrem Weggang beobachte ich erst einmal meinen Aufpasser, um erfassen zu können, wann sich mir eine reelle Chance zum Aufstehen und Abhauen bietet.

    Nach einer langen Weile – einer unendlich langen Weile; kostbare Zeit geht mir dadurch verloren – hat er vom mich Anstarren genug und wendet sich ab.

    Jetzt!

    Wie auf einem schlappen Trampolin liegend kata­pultiere ich mich aus dem Bett. Ein Schritt, der zweite – plötzlich knicke ich mit dem rechten Bein um und lande unter dem Bett.

    Es klingelt. Ich mache mir nicht erst die Mühe des Aufstehens.

    Die Schwester kommt wieder hereingerannt und stürmt sofort auf mein Bett zu. Und ich kann mir vor­stellen, dass ihr Gesicht jetzt zorngerötet ist, die Blut­adern pulsierend hervortreten wie bei einem, der so­eben gehenkt wird.

    Nach einem längeren Augenblick erscheint ihr Ge­sicht in meiner Höhe. Was soll das? Du willst dich wohl völlig umbringen? Ihr Gesicht ist tatsächlich hochrot.

    Ich fange an zu grinsen. – Soll ja helfend sein, habe ich gehört. – Was sie

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