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Dunkler weiter Raum: Versuch über Gott und die Welt in 15 Gesängen und einem Zwischenspiel
Dunkler weiter Raum: Versuch über Gott und die Welt in 15 Gesängen und einem Zwischenspiel
Dunkler weiter Raum: Versuch über Gott und die Welt in 15 Gesängen und einem Zwischenspiel
eBook668 Seiten10 Stunden

Dunkler weiter Raum: Versuch über Gott und die Welt in 15 Gesängen und einem Zwischenspiel

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Über dieses E-Book

Deutscher Evangelischer Kirchentag 2001 in Frankfurt am Main. Zwei Bahnstunden von Baden-Baden entfernt, dem unscheinbaren Mann in den "besten Jahren", ledig, kränklich, kinderlos, längst schon mehr als ein Arbeitsplatz, ein Ort allein für den Broterwerb beim Rundfunk, der ihn seit einigen Jahren als Hörfunkdokumentar beschäftigt. Ein Vertriebenenkind aus dem Ruhrgebiet, Jahrgang 1957, geprägt vom norddeutschen Protestantismus und nicht minder von einer Schweizer Kleinsekte mit deutschem Hauptsitz in Frankfurt am Main, unweit der großen "Herrensauna", die er hin und wieder besucht.

Deutscher Evangelischer Kirchentag, und dann noch in Frankfurt am Main: Die richtige Zeit und der richtige Ort, mit der Bestandsaufnahme eines Lebens zu beginnen, das von Kindheit an von der Religion bestimmt wird, einem Protestantismus, der ihm immer nur Anspruch statt Zuspruch gewesen ist und von dem er trotzdem nicht lassen kann, dieser Sonderling wider Willen, der zwischen Hörfunkgebäude und Szenetreffs, zwischen Arbeitsamt und Bildungsfernsehen fern allen religiösen und sexuellen Zeitgeist-Mainstreams körperliche Nähe so sehr wie eine Theologie sucht, die hier und heute so sittlich wie intellektuell vor der Welt verantwortet werden kann.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Mai 2018
ISBN9783742738301
Dunkler weiter Raum: Versuch über Gott und die Welt in 15 Gesängen und einem Zwischenspiel
Autor

Hans-Georg Fabian

Geboren 1957 in Mülheim an der Ruhr, bis zur 8. Klasse Hauptschule, Umzug nach Norddeutschland, dort Realschule, Mittlere Reife, abgeschlossene kaufmänn. Lehre, Studium evang. Theologie auf dem 2. Bildungsweg, Abbruch, FOS Wirtschaft, Wirtschaftsfachabitur, Englisch und Religionspädagogik an der Uni Bremen, Abbruch, Justizhelfer, 1987 bis 1992 arbeitslos, 1992 bis 2007 Learning-by-Doing-Hörfunkdokumentar beim SWR Baden-Baden, seit 2010 Rentner.

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    Buchvorschau

    Dunkler weiter Raum - Hans-Georg Fabian

    1. Gesang

    Die Bahnhofsampeln: auch dem Kirchentagsvolk egal. Drei Doppelspuren, Straßenbahnschienen, dazwischen Inseln; alles weiträumig überschaubar und somit eine Prinzipienfrage, hier dem Gesetz oder der Vernunft zu folgen. Psalm 31, Vers 9: Du stellst meine Füße auf weiten Raum, Losung zum 29. Deutschen Evangelischen Kirchentag 2001 in Frankfurt am Main. Stuttgart, der Austragungsort vor zwei Jahren, war für einen evangelischen Kirchentag irgendwie passender, weil kirchlicher, evangelischer. In Stuttgart gehören Flugblattverteiler protestantischer Endzeitsekten selbst beim Schlußverkauf irgendwie dazu, Sekten, die mir selbst heute noch...

    Kaisersack, Anfang und Ende des Bahnhofsviertels. Ein schwarzes US-Vokalensemble, Gospelpop, Passantenapplaus. Ihr Prediger ein Weißer. Gleich werden sie mich bekehren wollen, und... allen entsprechenden Erfahrungen zum Trotz immer noch besser als dieser satte, selbstzufriedene Kulturprotestantismus, dieses Volkskirchenbürgertum, das in seinen stillen Momenten irgendwas vom Herrgott faselt, und daß es vielleicht da droben ja doch vielleicht eine höh're Macht geben könnte, müßte, sollte, vorausgesetzt, daß...

    New Man bei Dr. Müller, New Man in der Stadt Paul Tillichs. Monitore in Backsteinwänden, die Wände dunkelblau schutzlackversiegelt; eher Schutz- als Lasterhöhle, ein Fluchtpunkt für all jene, die nicht zum schwulen Establishment zählen, sich gegenseitig dann ja doch nicht, kaum daß sie hinter der Schranke sind... – Nein, heute auf gar keinen Fall. Später, morgen, gewiß, vielleicht. Jetzt einfach schnurstracks dran vorbei. Das kann ich schließlich immer haben.

    Die Christusfiguren auf den Bankendächern fügen sich so harmonisch ins Stadtbild ein, daß sie auch nach dem Kirchentag dort verbleiben könnten. Das sorgsam mit Tesafilm befestigte Pappschild auf dem T-Shirt des Halbwüchsigen, der sich mit seiner Clique beim Zirkuszelt vom CVJM, das mehr an eine orthodoxe Kapelle als an ein Zirkuszelt erinnert, trifft, scheint mir da ungleich mehr Mut zu verlangen, das Schild, auf dem ein einziges Wort, mit Kugelschreiber in Großbuchstaben geschrieben, steht, und zwar das Wort Ficken.

    - Nichts Geringeres als ein Symbol, um es mit einem Topos Paul Tillichs zu sagen? Auf dem Marktplatz ein afrikanisches Trommlerensemble; ich bleibe und rauche am Rande. Man scheut sich an solchen Tagen schon fast, seine Kippen auf den Boden zu werfen, und außerdem ist Fronleichnam bekanntlich immer noch ein katholisches Fest.

    Endlich mal einer, der Zettel zur Rettung der Sünderseelen verteilt, Flyer, wie man heute so sagt; hinter ihm ein Greenpeace-Stand zur Rettung allein der Erde. Ein Heiliger, ein Auserwählter, einer der 144.000, die auf Vergeltung ihrer Qualen hoffen, erlitten beim Anblick der Unzucht, und keinen Verkehr mit Weibern hatten, und dieses ja wirklich ein Bibelwort und nicht Sonderlehre der Sondergemeinschaften, wie in seinem Standardwerk Seher, Grübler, Enthusiasten Oberkirchenrat Kurt Hutten die religiösen Einzelgänger und endzeitlichen Sonderlinge und durchaus mit Respekt betitelt hat. Neulich auf der Arbeit ein Hörfunkbeitrag von 1966, Kurt Hutten zu den Chancen und Grenzen der, wie man damals so sagte, sexuellen Revolution. Ja, auch zu den Chancen. Mündigkeit und Verantwortung. 1966.

    Die ab 16 Uhr gültige Abendkarte kostet nur die Hälfte, und Kirchentag hab ich auch hier; außerdem fahr ich auch morgen nach Frankfurt, und übermorgen ebenso. Der Sommer hat gerade mal angefangen; Berlin kommt noch zurecht. Ein halbwegs stabiles Frankreich-Hoch, bei Regenwetter lohnt es nicht, man will ja auch wieder Guben besuchen, Heimatstadt Paul Tillichs, bis 1933 Philosoph in der Stadt des Kirchentags; Guben, die Heimat auch Heinz Rudolf Kunzes, aufgewachsen in Osnabrück und seit Jahren nun schon im Hannöverschen.

    - Europäische Modellstadt Guben-Gubin, sicher die einzige ostdeutsche Stadt mit einem baptistischen Bürgermeister. Im hohen Alter trat auch Karl Barth für die Erwachsenentaufe ein und brachte Paul Tillich zur Straßenbahn, und Tillich fortan der Meinung war, sie wären wieder Freunde.

    - Mit Paul Tillich auf weitem Raum: Du mußt lediglich bejahen, daß du bejaht bist. Nur muß ich inzwischen auch dieses bejahen, nämlich daß ich inzwischen bejahrt...

    Ein Hauptvorwurf Barths gegen Tillich war, daß dieser eine Offenbarungswalze über die Welt rollen lasse, als verstünde es sich von selbst, daß überall Gericht und Gnade walten. Ein jüngerer Mann fragt eine ältere Frau, was man dann noch glauben könne. Zwei Aktivisten mit Biergartenschirm laden das Volk zum Lobpreis ein, Worship 24 Stunden Nonstop, daneben eine Stellpapptafel mit Werbung für ein Erotikkino, 24 Stunden Worship Nonstop.

    Kirchentag auch im Schwulenviertel. Hardrock in einer Jugendkirche. Dann ein Song mit Jesus, und freilich einer zum Kuscheln. Was wohl jetzt im Bathhouse abgeht... was aber geht da schon ab? Was sich die Spießer da alles so vorstellen, die reißen sich dort die Kleider vom Leib und... Sagte ja schon Bowie einst im Frühjahr '73: The Jean Genie loves chimney stacks. Vielleicht kommen am Samstag Kirchentagsgäste, die auch an diese Mythen glauben. Dann könnte vielleicht was abgehen dort.

    - And when the clothes are strewn, don't be afraid of the room. Kreideschrift auf dunklem Tuch vor dem Zelt einer weiteren Jugendkirche bietet Fußwaschung an und Nackenmassage. Das tut Gott? – Nur von ferne; bei näherem Hinsehen wird aus Gott ein ganz profanes gut.

    Am Horizont Posaunenchöre: Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist – mein? – sein? – Begehren... – Unterhemden bekennen sich zur Altpapiergruppe Loccum; Loccum, das geistliche Zentrum des Hannöverschen Luthertums.

    Passagenbäume mit Holzbankkringeln. Kaum noch ein freier Platz zu finden, geschweige denn eine ganze Bank, und die sollte es eigentlich sein; Menschen langweilen mich oder machen mir Angst. – Also aufgerafft und noch einmal durchs Viertel, durchs Quartier Sida. Drei Buben vor einer Dessousboutique; einer von ihnen greift dem Plakatmann lachend an den Slip. Ein anderer zieht sich die Boxershorts runter und pinkelt auf den Bürgersteig. Schauen Sie mal, der hat Pipi gemacht!, doch beschuldigt wird der Falsche. Der versichert mir seine Unschuld, und ich gebe ihm recht, denn ich hab’s ja gesehn; er lächelt und schaut seine Freunde an, dann wieder mich, dann wieder die Freunde. Die können sich kaum noch halten vor Lachen; dem, der's gar nicht gewesen ist, laufen inzwischen die Tränen.

    In der U-Bahn-Station Richtung Messegelände ist er längst wieder guter Dinge. Dort ein Wandplakat von Unicef: Drei Prozent aller Erwachsenen in Frankfurt benutzen Kinder als Sexualobjekte. Und darunter, in Kinderschrift: und die übrigen 97 Prozent als Hausaufgabenmaschine. – Kurz vor vier; es ist an der Zeit, wie einst schon Hannes Wader sagte in freilich ganz andrem Zusammenhang.

    2. Gesang

    Wir sind der Staat, und wir sind liberal? Die Bundesministerin für Selbstgerechtigkeit, zur Förderung der Tugend und zur Bekämpfung des Lasters auf Delacroix' Barrikaden, in der Hand ein gigantisches Gummiglied.

    - Das gibt es ja wirklich. Herbst '99, Schöneberg, in einem der zahlreichen Gay-Cinemas zwischen Nollendorfplatz und Kurfürstenstraße. Umgebaute Altbauwohnung mit Käfigecken, Keller und Katakomben. Auf einem Podest in der Mitte des Kellers ein muskulöser Gummimann, vorher wohl Stunden im Käfigraum und dort offen für wirklich jeden. Und nun stand er da rum auf diesem Podest wie ein antiker Diskuswerfer mit kahlem Haupt und traurigem Blick, nackt bis auf die Springerstiefel, benebelt von den üblichen Asthmamitteln, laut Bundesministerin Schnüffeldrogen und eben nicht nur lungenerweiternd, im After besagtes Gummiteil. – Und das alles ein guter Grund, nun endlich zur Sauna zu wechseln. Kurz vor der Kellerwendeltreppe und grad an besagtem Podest vorbei, entgleitet dem Athleten der mattschwarze Phall und prallt mir auf den rechten Fuß; zum Glück trug ich schon die Winterschuhe. Nun, ich hob's auf, er dankte freundlich, und wusch mir dann erst mal die Hände.

    Auf dem Weg zur Sauna die frische Berliner Luft genossen, welch Wohltat im Gegensatz zum abgestandenen badischen Mief, genauer, in den Tallagen; egal, die Bronchitis ist eh schon chronisch. Seit 22 Jahren Raucher; das Röntgenbild wird zur Momentaufnahme. Und wenn nicht Krebs, dann ein Emphysem; langsames, quälendes Dahinvegetieren. Oder meine nun auch schon seit Jahren chronische Übersäuerung; es gibt da ja Zusammenhänge: Magen- , Lungen- , Speiseröhren- , Kehlkopf- , Zungen- , Gaumenkrebs. Aber wenn schon unzeitig sterben, dann bitte nicht im Südwesten (bin ich doch nur des Funks wegen hier), im Land von Spätzle, Speck und Rahm, und dann noch womöglich im Krankenhausbett; wenn schon, ob unzeitig oder zeitig, im Norden, gleichsam gefällt wie ein Baum, im Wald und wenn irgend möglich, allein, kurzum, wie es schon Reinhard Mey in Anlehnung an Knut Hamsun erhofft. Das aber nur am Rande. Und überhaupt, der Funk... vertretungsweise eine Handvoll CDs archiviert, Sixties-Pop, gediegene Unterhaltungsmusik. Everybody loves somebody sometimes. Sonnige Spätsommernachmittage, reife Frauen in Cabriolets. Die ganzen brasilianischen Sachen. Brasilien... damals ein Folterstaat, eine rechte Militärdiktatur. Das hätte ich Ende der sechziger Jahre ohne weiteres so sagen können.

    - Fußballand Brasilien: schlimmer noch als die BRD, wo man immer noch Breslau und Danzig sagte und die gute sozialistische DDR noch immer beleidigend Ostzone nannte. Wenn schon westdeutscher Fußball, dann Alemannia Aachen. Im Sportmittelteil der Mickymaus-Hefte Kurzporträts der Bundesligaspieler mit Sammelbildern zum Ausschneiden. Prinzipiell, so sagten die Leute, werden Fußballspieler Fußballspieler, weil sie zum einen nur Hilfsschule haben, zum anderen aber zu faul dann sind, wie sich's gehört, ein Müllmann zu werden. Gingen sie weder zur Müllabfuhr noch hatten sie das Zeug zum Fußballspieler, ja, waren sie dann zu allem Übel auch gar noch Hundertfünfundsiebziger – nun, dann wurden sie eben Schlagersänger wie etwa Freddy Quinn, so munkelten sie, die Leute, obgleich sie doch aus den Medien wußten, der spricht annähernd hundertfünfundsiebzig Sprachen, und wenn Junge, komm bald wieder dann im Radio wieder und wieder kam, mußte ich heulen, wirklich immer, obgleich ich der See und dem Seemannsleben in etwa so verbunden war wie Freddy Quinn dem eigenen Geschlecht, Freddy Quinn, der zwar zur Fremdenlegion, aber erst mal doch aufs Gymnasium ging – und die Leute gewiß vor Jahrzehnten schon über all diese Märchen aufgeklärt hätte, hätte ihn das, was die Leute so sagten, nicht geradezu amüsiert; und so hätte er sicher Verständnis gehabt, daß ich weder zur See noch ausreißen wollte...

    ...und sicher weit mehr als für eben den Umstand, daß ich mich damals mit zehn oder elf, nun ja, irgendwie schon so ein wenig verguckt in einen der Alemannenkicker, Hans-Josef Kapellmann, soweit ich noch weiß. – Josef... dann ist er sicher katholisch, und das sollte man eigentlich nicht so mögen, den ganzen katholischen Hokuspokus, Gebete leiern, den Heiligenkult und das Rumrutschen auf den Knien.

    In einem Aufsatz über ein Fußballspiel kämpften die Aachener Alemannen gegen den 1. FC Köln, die ich nach furioser Partie mit einem 4:3 oder 3:2 den verdienten Sieg erringen ließ, und freilich durch einen oder mehrere Treffer meines Schwarms Hans-Josef Kapellmann. Die anderen waren frei erfunden, und so kickte dann eben ein Müller für Köln, was in der Klasse für entsprechendes Gelächter sorgte.

    - Die Innenseite der Oberplatte des Bettkastens meines Klappbetts: am Außenrand der Querschnitt eines Mittelgebirges, Überläufer der Außenbeize, so ähnlich wie in Schulatlanten. Zwei Zacken überragten alle anderen und sahen aus wie der Kölner Dom. – Köln: der Inbegriff der Heuchelei; Katholizismus und Karneval, und das letztlich ein und dasselbe. Trotzdem gab's Rosenmontags Berliner und im Wohnzimmer bunte Papierschlangen gar, und im Cowboykostüm mit Spielzeugpistole ging es zum Rosenmontagszug, regelmäßig und Jahr um Jahr wie das Millowitsch-Theater im ersten Programm. Mitunter erfand ich beim Betrachten der Beize großorchestrale Schlußkadenzen, die einfach nicht mehr enden wollten.

    - Spaß- und Freizeitbad Seeheim, großer FKK-Bereich, dienstags abends und samstags abends im ganzen Bad textilfrei. Neulich drehte ein Bub im Hammam auf dem Wärmeplatten-Oktogon unter der Kuppel aus blauem Glas mit den kleinen Sternbildleuchten seiner Mutter an den Nippeln herum, als verstünde sich das von selbst. Im Whirlpool wieder die Walrösser nur; die glotzten mich gierig an. – Nur: was verlangt man? Was erwartet man? Ist man womöglich ein Geisterfahrer, der festen Überzeugung, die anderen...

    Nordwind ist selbst im Hochsommer kalt; man fröstelt auf einem Seeheimer Bahnsteig im Lärm der Durchgangsgüterzüge und hofft, und Besseres kann man ja kaum, einem Schnupfen jetzt so entgehen zu können wie späteren Strafaktionen derer, denen das alles hier Teufelswerk. Man kramt in der Anekdotenkiste, und schon ist die Hand im Falleisen drin...

    Nach Aussage meines Gemeindepfarrers, sofern ich denen glauben darf, die mir das damals zutragen mußten, war ich der verdorbenste Konfirmand, den er jemals im Unterricht hatte, schlichtweg alles übertreffend, was er kannte aus seiner Wehrmachtszeit. Gewiß, der Bub von den Wärmesteinen, da können die Eltern beruhigt sein; bei dem wird alles nach Plan verlaufen, da haben Neurosen keine Chance; der wird später höchstens aus Neugier mal ihm neue, fremde Bereiche erkunden, sofern er dann diese wie jene noch hat. – Und überhaupt, wer wurde in den sechziger Jahren in den heiklen Fragen der Leiblichkeit schon wirklich liberal erzogen, selbst wenn die Eltern noch jugendlich waren und der sexuellen Revolution nicht samt und sonders abgeneigt? Und freilich war ich ein Bettnässer, wenn auch überwiegend ein indirekter; meistens wachte ich rechtzeitig auf, weckte meine Mutter und tapste ins Bad, sobald sie die Bettlampe angeknipst. Mitunter aber dachte ich, sie könnte womöglich verärgert sein, wenn ich sie jetzt in der Nachtruhe störte, und das wegen solcher Belanglosigkeit. Nicht, daß es je so gewesen wäre, doch wartete ich und wartete ich, bis es weit größeren Ärger dann gab als den, den mein Schweigen vermeiden sollte. Und keine, und das bis heute nicht, auch nur halbwegs vergleichbare Situation, wo ich nicht wieder und wieder und wieder mich so und kein Jota gescheiter verhielt...

    3. Gesang: Excerpt from a preteenage opera. Denkt auch an morgen. Denkt auch an mich.

    Tun Sie das nicht! Der Junge ist doch intelligent. Schicken Sie ihn aufs Gymnasium und lassen Sie das Ganze auf sich beruhen. Das sind doch nur Jungs. – Das aber hat ja keiner gesagt. Und auch der Älteste hatte geraten, mich weiter zur Volksschule gehen zu lassen, gingen doch die Übeltäter nun allesamt aufs Gymnasium, was letztlich nur den Hochmut nährt, zumal doch zu unseren Lebzeiten noch diese Welt zum Paradies wieder wird. – Menschenfreundliche Gesellschaft, Frankfurt am Main, Paradiesgasse. Ich stellte mir diese als Sackgasse vor, am Ende ein kleiner, paradiesischer Park, obgleich Parks in ihrer erzwungenen Ordnung eher Friedhöfen glichen als der freien Natur. Wälder, wie ich sie aus Norddeutschland kannte, fehlten ja nun mal im Ruhrgebiet, und wenn man zudem kein Auto hatte, so war dann selbst im Ruhrgebiet der Bewegungsraum drastisch eingeschränkt; zwar gab es bereits in den sechziger Jahren eine hochentwickelte Infrastruktur, doch ließ gerade diese jeden richtigen Wald in unerreichbare Ferne rücken. Und so führte der Sonntagsfamilienspaziergang vorzugsweise durch Grünanlagen, zum Trampelpfad etwa beim Bahndammgebüsch und zum alten jüdischen Friedhof. Die richtigen Friedhöfe waren mir zuwider; überall roch's nach Zersetzungsprozeß, ein Geruch, den ich eher dem Menschenfleisch als dem welkenden Grabschmuck zuordnen wollte. Im Sommer auf der Ruhr eine Schiffchenfahrt.

    - Ein Knopfdruck, und schon öffnen sich die Pforten zu den Tagen der Kindheit, genauer gesagt, zum Bandmagazin, einer klimatisierten Lagerhalle mit Dutzenden von Schieberegalen für mehrere tausend Sendemitschnitte. Kein Ort, der jetzt im üblichen Sinne irgendwie atmosphärisch wäre, kein Ort für konkrete Erinnerungen, ach, eine Sendung vom März '64, ja, da war ich doch... es ist dann eben März '64, und nur selten über 1970 hinaus, und wenn, dann ohne diese Zäsur. – Zäsur? Längst eine rein geographische Sache. Sonst würde ich dieses Bandmagazin ja voraussichtlich gar nicht kennen. Und falls man sich im Jenseits was wünschen darf, so werde ich mir ein Privatkino wünschen, ein Kino für alle Sinne, und möchte dort wieder und wieder und wieder nichts als diesen Lebensfilm sehen mit der Möglichkeit, alles, was verkehrt war, in Ordnung zu bringen, und freilich, je näher der Gegenwart, desto häufiger nur noch Sequenzen.

    Ruhrstadt, vier Bahnstunden, Rheintrasse. Ruhrstadt, die Stadt ohne Soundtrack. Bertelsmann-Lesering-Langspielplatten. Die Singles meiner Schwester, ihre LP von Esther und Abi Ofarim; mein Lieblingstitel auf dieser Platte – natürlich – Dirty old town. – Ihr Philips-Mono-Kofferplattenspieler, ans Röhrenradio anzuschließen: Duft wäre übertrieben, Geruch klingt ordinär; sagen wir, eine Komposition aus Hartplastik, Weichplastik, Kupferdraht, vielleicht noch eine Prise Korund, vor allem bei scheppernden E-Gitarren bzw. Beatgruppen-Chorgesang, I want to hold your hand von den Beatles, I wanna be your man von den Stones.

    - Tonarm zum Ausklicken ganz nach vorn, zurück auf den Halter, Platte runter; alte Platte in Hülle stecken, neue Platte aus Hülle ziehen und vorsichtig auf den Teller legen; Tonarm zum Anklicken ganz nach hinten, Tonarm zum Abspielen wieder nach vorn und behutsam auf den Tonträger setzen.

    Ein Ausschnitt aus einem Beatles-Konzert, ich wurde aus dem Bett geholt, mir dieses Spektakel anzusehen; es wurde nicht verdammt, es wurde nicht gelobt, ich wurde niemals zuvor und niemals danach wegen irgendeiner Fernsehsendung oder irgendwelcher sonstigen Gründe aus dem Bett geholt, vielleicht gab es damals die noch üblichen Sprüche von wegen entarteter Kunst, das aber galt auch den schönen Stimmen kurz nach eins beim Nachtisch des Sonntagsbratens, WDR, erstes Hörfunkprogramm, und allein der Ouvertüren wegen, im Koffergerät mit Rundlaufsucher und Batterien mit Auslauf. Das hielt bis weit in die Achtziger; ein Jammer, daß ich's dann weggeworfen, ja, eigentlich eine Schande.

    Nach wochenlanger lustloser Rumquälerei lernte ich eines Frühsommerabends auf dem Weg mit dem eher leichten Gefälle zwischen Schule und Schrebergartenanlage, mein Klapprad nun doch noch zum Fahrrad zu machen, unbehelligt von skeptischen Blicken und gutgemeintem Rat. Und dann ging es los, im Sommer '70, und das durch den dicksten Stadtverkehr, und ohne nun gleich den Mut zu verlieren, geriet man mal in die Straßenbahnschiene, so daß man über den Lenker ging, voll mit dem Schädel aufs Pflaster schlug und sich eigentlich nur noch wundern konnte, an Leib und Rad nur verschrammt zu sein. Einmal auf den Ruhrschnellweg geraten, und das im dicksten Abendverkehr, gewendet dort und ganz rechts gehalten, wenn auch freilich aus meiner Sicht. Ein freundlicher Ford-Mustang-Fahrer erkannte die Gefahr, hielt an und lotste mich zum Seitenstreifen und hievte mich samt Klapprad dann auf den Acker neben der Stadtautobahn.

    Im August ein Volksradfahren quer durch die Stadt und längs der Ruhr. Zwei Strecken standen zur Wahl, 30 oder 40 Kilometer, ich wählte mutig die 40 und erhielt meine einzige Sportmedaille und das bis auf den heutigen Tag, für die Teilnahme nur und was denn auch sonst, doch immerhin die Goldene, und trotzdem kein Vergleich zur Siegerurkunde meiner Schwester; ein Leichtathletik- oder Schwimmwettbewerb im Rahmen der Bundesjugendspiele. – Als ob man das je so gesagt hätte. Und für meine bevorzugten Jugendspiele gab es und gibt es nun mal keine Medaillen...

    - Die Begrenzungsmauer zu den Bahnanlagen in der Vorderen Bahnhofstraße, genauer gesagt, eine Futtermauer, und kurz vor der Unterführung, dort, wo heute der Eingang ist, damals ein Pissoir, ein Pissoir mit Kondomautomat; zwei ältere, hagere Südländer, und ich denke noch heute, die machten da was. Sie drehten sich um wie auf frischer Tat ertappt und redeten was, wem immer das galt, und falls mir, dann zwar freilich als Aufforderung, doch wohl nur, mich schleunigst davonzumachen, oder derber gesagt, zu verpissen. – Nun, ich hab auf dem Absatz kehrtgemacht und bin weiter, und das ohne jegliche Eile, nach Haus oder Richtung Stadt geradelt.

    Mir war's ja erlaubt, im Jugendzimmer meines späteren Schwagers nach Sachen zu stöbern, die Jungs meines Alters interessieren könnten. Das war so um '65 rum, als ich dann dieses Quartett entdeckte zwischen Schatzinsel, Lexika und Michel-Katalogen, ein Quartett mit halbnackten Frauen drauf, und selbst die Frau auf der Jokerkarte trug untenherum einen Pelz, was freilich eine Enttäuschung war; egal, mein Bauch wurde dennoch – durchwoben? durchflutet? - , wie immer man's nennen soll, und so, wie ich's bis auf den heutigen Tag so heftig nicht mehr erlebt haben dürfte.

    - Hans-Georg ist sehr fleißig: so steht es im Versetzungszeugnis von der Siebten in die Achte. Schon möglich, aber: was nutzt uns das, wenn alle Zukunft in Eden liegt, aber Ruhrstadt nun wahrlich jenseits davon? – Hochöfen. Abgase. Ruß und Rauch. Gingen wir zur Mangel am Lessingplatz, gab's als Trägerlohn meist ein Comic-Heft; ging's zur Mangel gleich hinter der Eisenbahnbrücke, stand ich meist draußen im Wäschedampf und sah den schnaufenden Dampfloks nach und mit etwas Glück dem Rheingold, der einen Wagen mit gläserner Kuppel führte. Der letzte Schnellzug mit Dampflokbespannung war der von Hannover ins Ruhrgebiet im Sommer '66.

    Im Sommer '98 standen in Frankfurt ab und an Sonderzüge bereit, mit Dampflokbespannung und Museumswaggons mit breiten Faltenbalgübergängen, im Grunde wie beim ICE, doch löchrig und zugig und laut; ich hatte stets ein wenig Angst, die Waggons könnten auseinanderreißen, und freilich eben gerade dann, wenn ich über diesen Übergang ging. Auch bei den neueren Zuggarnituren war der Gepäckwagen meist in der Mitte und stets für den Durchgang freigegeben. Auf der Eisenbahnbrücke beim Mangelweg ergriff mich bisweilen ein wenig die Angst, ich könnte womöglich den Drang verspüren, übers Geländer rüberzuklettern, vom Vorsprung auf die Gleise zu springen oder auf offene Güterwaggons.

    Von Comic-Heften und Kaugummikugeln, 10 Pfennig das Stück, einmal abgesehen, sparte ich jeden Taschengeldgroschen für Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke. – Verbeulte mattrote Doppelautomaten, rechts die Überraschungskugeln, schon möglich, daß ich mir irgendwann dann doch mal eine gezogen hab; 50 Pfennig, das war viel Geld für diesen – und so auch erwarteten – Plastiktand. – Dieser ganz bestimmte – Duft, Geruch – beim Zeitschriftenhändler am Lessingplatz; das konnte ich geradezu riechen schon, wenn freitags das neue Mickymausheft in den Comicregalen beim Schaufenster lag.

    Die Jugendstilvillen am Lessingplatz: Stuck und Schnörkel und Teufelsfratzen; ein einziges Pandämonium, Tod und Wahnsinn und Leichenwagen, Alptraumstoff für viel zu schwere, viel zu warme Federbetten, Tagtraumstoff für viel zu hohe Doppelfenster mit Kondenswasserrinne.

    - Ein Gedanke vom Sommer '71: Ich werde wach – und stehe unvermittelt wieder vor der Ruhrstädter Wohnungstür. Dritte Etage, Dachgeschoß, ein Durchschnittsmietshaus jener Tage, keine Arme-Leute-Wohnung, zumal im Vergleich mit der Badischen. Erst Kohleöfen, dann Öl, und auch dort das Schlafzimmer unbeheizt. '76 auf etlichen Lessingplatzhäusern geometrische Formen in poppigen Farben, davor die neuen, modernen Autos, Golf, Passat, Audi 80, Ford Taunus ohne irgendein M hintendran. Und wenn ich als Kind mit dem Mut des Beschützten unter das Bett meiner Schwester schaute, sobald ich im Hausflur hören konnte, daß meine Mutter vom Einkauf zurück, so wurde '76, wie zum Zeichen des Sieges, alles mit Fotos dokumentiert, die Innenstadt, die Stadtbücherei, das alte Finanzamt, das neue Finanzamt, und vor allem natürlich die Schule und das Viertel rund um den Lessingplatz.

    Der erste mir noch bekannte Traum: Ich stand vor unserem grauen Haus, wo eine altertümelnde Sonnenfratze sich in Dachhöhe hin und her bewegte, mich rief und mich irgendwie packen wollte, mir sicherlich nichts Gutes zu tun. – Sicherlich ein Fernsehtrauma, die Psychokrimis, die Serienkrimis, der Spätfilm am Samstag so gegen halb elf, und Spätfilme höchstens zwei oder drei, mir fällt jetzt nur ein französischer ein und Alfred Hitchcocks Marnie. – Wie leicht ich doch zu verängstigen war; da reichte schon die Traumsequenz mit der Säge aus dem Doppelten Lottchen, obgleich doch bloß das Bett zersägt und die Kinder gerade nicht.

    - Ruhrstadt 2001: die weißgetünchten Jugendstilhäuser ausnahmslos von Architekten bewohnt und ausnahmslos unter Denkmalsschutz. – Die dunkelgraue katholische Kirche in der Innenstadt aus den zwanziger Jahren, heute vielgerühmtes Beispiel eines jetzt wirklich geglückten Sakralbaus dieses an allem Sakralen nicht gerade üppigen Jahrzehnts. Am Lessingplatz das Gemeindehaus, uniert, wie im Rheinland so üblich; meine Schwester wurde dort konfirmiert, und ich wurde dort getauft, geboren am Tage Calvins.

    Das Kirchengebäude weit außerhalb, in Nähe von Schule und Schrebergärten; ein Neubau (ein Altbau wohl gar nicht vorhanden), Glas und Beton, markanter Turm. Mit dem Neubau kamen die Schulandachten. Einige in den hinteren Reihen waren statt mit Andacht mit Sachen beschäftigt, die selbst für unierte Neubaukirchen, sagen wir, eher untypisch sind.

    - Goldene Alukappe: A-Milch; silberne Alukappe: B-Milch, zum Kochen und Backen und fast immer mit Rahm, mitunter nicht wenig, im Flaschenhals, welchen ich dann ablöffeln durfte. Milchfett war das einzige Fett, das ich damals mochte, und das ist ja auch noch heute so, im Gegensatz zur Servicegesellschaft. Wo gibt es denn heute Milchmänner noch, die einem frühmorgens die Flaschen bringen? Wo, bitte, bringt denn noch heute ein Bäcker frühmorgens die frischen Brötchen ins Haus? Vielleicht lohnt es nicht mehr, weil keiner mehr wagt, die Ware auf Kredit zu liefern oder das Geld vor die Haustür zu legen. Weil der Nachbar womöglich die Flaschen klaut und auf die Brötchentüte milcht.

    - Ich weiß es nicht, und ebensowenig, ob man das alles bedenken muß. Und dann diese Fahrt nach Norddeutschland, das hätte ich so nicht absagen dürfen, was immer am Sonntag da los war mit mir. Und dann dieses physische Unwohlsein, seit Tagen nun schon Dauerschwindel, ich schätze mal, das rechte Ohr, defekt schon seit '64; da hat mich ein Trottel nicht aufgefangen, unten an der Rutsche im Nichtschwimmerbecken, Anfang September, noch 30 Grad, im Freibad von Kirchheim, den meisten bekannt als Nadelöhrdreieck der Nord-Süd-Autobahn.

    Hessen war Zufall und hatte nichts mit den Frankfurter Menschenfreunden zu tun, und auch die Schwarzwälder Ferienwohnung 1969 nicht aus vorrangig religiösen Gründen. Im Radio Herb Alpert, dessen Sound meine Mutter wohl schätzte, doch keinesfalls sein Statement (und womöglich nur kolportiert), der beste Trompeter der Welt zu sein; wer so etwas von sich selbst behauptet, zählt fraglos nicht zu den Menschenfreunden. Sie besuchte eine Versammlung in Lörrach; da spielte neulich Neil Young auf dem Stadtfest, soweit ich weiß, sogar kostenlos; damals Ausflugsfahrten nach Basel, nach Zürich und an den Vierwaldstätter See. – Die Sekte mit deutschem Hauptsitz in Frankfurt duldete wohlwollend Sympathisanten, was für Sekten eher untypisch ist.

    - The Summer of '69: nein, in Bryan Adams' Sinn gab's das freilich erst in Wenden, und die 60er ja nun wirklich nicht die best years of my life. – Immerhin eine poppig-runde Plastiksonnenbrille, Desinteresse am Unaussprechlichen und ausgesprochen großes Interesse am Mordfall Sharon Tate. Nicht, daß ich Mansons Family irgendwie mit den Menschenfreunden, doch Sondergruppe ist Sondergruppe und folglich als solche schon interessant, zumindest interessanter doch als evangelische Landeskirchen. Ein Klassenbuch wurde eingeführt, und Briefe verschickt bei entsprechendem Eintrag; einmal traf es dann sogar mich, und zu Hause nun fast schon ein endlich! – Die Bahnfahrt wie üblich im D-Zug nur und nicht, wie erhofft, im Rheingold.

    - Die Bahnhofsfassade: viel mehr ist nicht übrig von diesem Teil der Innenstadt, und das, was heute noch vorhanden, das haben sie nicht mal im Ansatz saniert. Das Drumherum ist neu und fremd, so auch der Friedrich-Noske-Platz, Friedrich Noske, Rektor der evangelischen und später dann: Gemeinschaftshauptschule am Gartenweg. Friedrich Noske war Sozialdemokrat und hat mir nichts getan. Noch heute besitze ich die Münzalbenblätter, die er, der passionierte Numismatiker, mir an einem Samstagmittag für meine kleine Sammlung geschenkt. – Hat er mir auch seine Sammlung gezeigt? Selbst wenn: Friedrich Noske, das will ich ihm lassen, ging es einzig um die Münzen. Friedrich Noske war nur ein prügelnder Lehrer, und die Prügelstrafe, wie schon gesagt, erlaubt; ich schätze, er hat sich über das Prügeln genausowenig Gedanken gemacht wie über das, was die Leute wohl reden könnten, wenn er in seinem Büro einem Schüler nach Unterrichtsschluß seine Münzsammlung zeigt.

    - Ein paar Silbertaler, Groschen, Scheidemünzen, Pfennigstücke, das älteste von 1765, noch dazu eine Handvoll Münzen aus Europa und Südamerika sowie ein Maria hilf-Medaillon, das mich gleichermaßen irritierte wie faszinierte, aus dem Nachlaß meines Großvaters, alles in einem Leinensäckchen mit dem kunstgestickten Schriftzug Bleibe voll!. Sonst hätte ich wohl kaum jemals Münzen gesammelt. Briefmarken, gut, das mochte noch angehn, aber Geld, das war nun wirklich nicht in Einklang zu bringen mit der altruistischen Lehre der Menschenfreunde, genauer, des Menschenfreundlichen Werks, der Kirche des Reiches Gottes e. V., l'Eglise du Royaume de Dieu, Verlag 'Der Engel des Herrn', Menschenfreundliche bzw. Philanthropische Gesellschaft und so weiter und so fort. Menschenfreunde, les Amis de l'Homme ist auch, genauer, der frühere Name der sozial engagierten Amis sans Frontières, für Hutten der Menschenfreunde edelster Zweig, deren Glieder vor allem in Frankreich wirken, religiös inzwischen so neutral, daß sie die Ursprünge ihrer Bewegung auf ihrer Website nicht mal mehr erwähnen. So ganz geklärt ist das bis heute nicht, wer da nun eigentlich abtrünnig wurde, wer nun die wahren Menschenfreunde, die legitimen geistigen Erben des Sendboten Alexandre Freytag sind.

    Freytags Lehre hat ihre Wurzeln in der Lehre der Zeugen Jehovas, denen er bis Anfang der zwanziger Jahre in leitender Stellung angehörte. Im Mittelpunkt steht das Weltallgesetz mit dem sogenannten Gleichwert: Alles, was mir widerfährt, ist die ganz natürliche, irdische Folge meines Denkens, Trachtens und Handelns (und Gott demzufolge kein strafender Gott im kirchlich-traditionellen Sinn), und der einzige Weg, den Gleichwert zum Guten zu wenden, ein Leben nach den Regeln des Altruismus, genauer, wie Freytags Botschaft an die Menschheit diesen versteht: Wer nicht meckert, sich nicht aufregt, nicht rumkritisiert, nicht neidisch und nicht gierig, sondern freundlich, bescheiden, zurückhaltend ist, sich nicht wehrt und sich fleischlos und fettarm ernährt und auf Wollust und Ehe und Kinder verzichtet, der wird mit dem Fleisch auch den Tod nicht schmecken, der bleibt gesund bis zum Ende der Welt (das Freytag, wenn auch ohne ein Datum zu nennen, noch für seine Generation erhoffte), den Anbruch des Reiches Gottes auf Erden und der Schaffung eines neuen paradiesischen Gartens.

    - Schlechte Karten für diesen Garten bei meiner Freude an Kartenspielen, Fleisch und Krimis und Widerworten; schon das Einspeicheln war ein gewisses Problem aufgrund des damit verbundenen Verzichts auf Getränke während des Essens. Zum Funkessen nehme ich meistens Salat, und falls ich dann doch mal was trinken sollte, dann plagt mich nach Stunden noch Völlegefühl, vom Sodbrennen ganz zu schweigen.

    - Und nochmals: Gleichwert, nicht etwa Zorn; Gott schickt weder Magen- noch Höllenbrand, und wenn nach den ersten tausend Jahren, der Zeit, in der die gesamte Menschheit mit leichter, von Gott geführter Hand das Paradies auf Erden schafft, der Teufel noch einmal losziehen darf, die Welt zum Bösen zu verführen, dann müßt ich mich halt zusammenreißen, während dieser paar Tage stets freundlich zu bleiben, nicht gar noch am Ende dem zweiten Tod – als Gleichwert? als Strafe? – anheimzufallen, dem ewigen, traumlosen Schlaf.

    - Wären sie wenigstens so bekannt und präsent wie die Zeugen Jehovas gewesen... Wie aber soll man einer Sekte entkommen, die letzten Weltendes keiner kennt, ja, die letztlich wohl nicht mal selber ihren richtigen, amtlichen Namen kennt, die keinem etwas Böses will, einer Sekte ohne Beitrittszwang, ohne Riten, Zeichen, Gewänder, einer Sekte, die weder verlockend ist, geschweige denn eine Bedrohung?...

    Vielleicht haben sie sich längst aufgelöst, ist ja nun auch schon drei Jahre her, daß ich vor ihrer Zentrale stand, einem weiß verputzten Zweifamilienhaus mit relativ großem Garten drumrum. Dort auch ein größerer Anbau; das war wohl die Druckerei. – Der Anzeiger des Reiches der Gerechtigkeit: eine monatlich publizierte Sammlung diverser Artikel aus der Tagespresse, vom Anzeiger religiös kommentiert, und freilich, wie bei Sekten so üblich, im Lichte der Wahrheit und grad nicht religiös. – Das also ist es. Und wärst du fromm, so könntest du frei den Blick erheben. Ist's denn nicht also?...

    Läge die Sauna ein paar Stockwerke höher und könnte man dort aus dem Fenster schauen, dann schaute ich triumphierend herab auf die deutsche Zentrale der Menschenfreunde. – Unsinn, da hätte ich Hemmungen, und letzten Endes, warum denn auch? Wo, bitte, war denn die Kirche damals, als eben nicht nur der Anzeiger kam, sondern auch die Wechseljahre und mit diesen zugleich die Depression, die Sinnkrise einer Heimatvertriebenen mit wesentlich älterem Ehemann, Finanzbeamter im Mittleren Dienst, und Heimat drei Zimmer im Dachgeschoß und ansonsten ja bloß noch der Garten? Und selbst der Urlaub ein Arbeitsurlaub, drei Wochen Haushalt im Ferienhaus, weder Auto noch Pelz, kaum Schmuck und kein Erbe, ja, nicht der geringste Eigennutz, das kleinste sündige Vergnügen...

    - Da freut man sich über jeden doch, der unverhofft an der Haustür klingelt, in der alten – ledernen? – Aktentasche nicht weniger als das Heil der Welt, die Botschaft Gottes an die Menschheit, die Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft, die weder den Tod noch das Ruhrgebiet kennt. Herr Schmitz, ein Witwer, der mir zum Ende der wohl wöchentlichen Besinnungsstunde zwei Pullmoll in die Kinderhand kullern ließ, schon damals aus der Dosieröffnungsbox, und mit menschenfreundlich frischem Atem im Abschlußgebet vom Erlöser sprach. Da wurde Erlösung existentiell, da löste sich was auf der Kinderbrust, da spürte man Gottes Atemhauch, und wohl trotzdem mehr Zufall als Marketing. Später hat er wieder geheiratet, was zwar biblisch erlaubt, aber trotzdem nicht im Sinne seiner Gemeinschaft war; da wohnte er außerdem schon in Neuwied, so daß es sich meiner Kenntnis entzieht, ob ihm das Recht zum Predigtdienst nach diesem Fauxpas entzogen ward.

    Seine Nachfolgerin war mir ein wenig suspekt, vertrat sie doch allen Ernstes die These, daß nur die Menschen auferstünden. Das war zwar nur von prinzipiellem Interesse, ich hatte kein Haustier und wollte auch keins (in Norddeutschland 2, 3 Katzen; die wurden allesamt überfahren). – Und: wer gab mir das Recht zu dieser Kritik, mir, der ich gerade die Masern hatte, und diese, was sonst, als Gleichwert doch?...

    - Nicht, daß sie solchen Sachverhalt auch nur angedeutet hätte; auch gab es kein einziges kritisches Wort zu meiner Mineraliensammlung (und je wertvoller, desto begehrenswerter), und auch der Herr Schmitz kritisierte sie nicht, und statt mir die Leviten zu lesen, zitierte er lieber den biblischen Text zu den Mauern des Neuen Jerusalem, die Tore geschmückt mit Edelsteinen. Mein erster Ansatz von Bibelkritik: Wie konnte der biblisch wertvollste Stein denn ausgerechnet ein Jaspis sein, ein Halbedelstein aus der Gruppe der Quarze und sicherlich auch schon zu biblischen Zeiten ein Schmuckstein, ein Rohstoff für Kunsthandwerk, und nicht der edle Smaragd, das Symbol für das ewige Leben? War das ein Übersetzungsfehler, oder war hier der Autor für einen Moment mal nicht so vom Heiligen Geist inspiriert, obgleich das laut Menschenfreundlichem Werk doch nur das Alte Testament betraf?...

    In meiner kleinen Sammlung hatte ich zwar freilich keinen Smaragd, aber immerhin ein Tigerauge, einen Rosenquarz, einen Lapisstein, zudem diverse Feuersteine, die meisten aus der ehemaligen Kiesgrube hinter den Heidetaler Ferienhäusern. Die Halbedelsteine waren aus einem Kunstgewerbeladen gleich neben der evangelischen Stadtkirche; da waren wir einmal vor Weihnachten drin, mir war das zu voll und zu laut und zu hell. Mein mir wertvollstes Stück, schon in den ersten Jahren bei den Ferienhäusern gefunden, ging später leider verloren, vermutlich auf dem Grundstück eines Klassenkameraden; womöglich liegt er da heute noch, und die gläsernen Splitter eben wirklich nur Glas, die mein Klassenkamerad dort beim Rasenmähen gefunden hatte, Glas, Härte fünf nach der Mohs'schen Skala. In Ruhrstadt legte ich meinen Stein einem Juwelier zur Begutachtung vor, einem freundlichen älteren Herrn; der klemmte sich die Lupe ins Auge und bestimmte ihn als Bergkristall, was zwar prinzipiell schon in Ordnung ging, aber trotzdem ein wenig enttäuschend war, hoffte ich doch auf Wertvolleres denn bloß auf einen Halbedelstein, zudem aus der Gruppe der Quarze, den Täublingen unter den Steinfamilien, doch alle Versuche, was Beßres zu sein, schlugen ja eben schon damals fehl; mein Lieblingsstein war härter als Glas, doch gegen den Industrieberyll (hier und dort schon grün wie Smaragd, dennoch aber kein Edelstein, trotz Härtestufe acht), da war er beim Ritztest chancenlos, so oft ich's auch wiederholte.

    - Freude am Schmuck, ein Bertelsmann-Buch, ein Wunsch, den meine Mutter etwas seltsam fand, doch es ging mir ja nur um die Steine, und freilich: allein um die echten Steine; alles, was synthetisch war, von den Kunstfaserhemden mal abgesehen, war mir zutiefst zuwider; neben synthetischen Edelsteinen auch Filme, die angeblich draußen spielten, die Landschaft aber Kulisse war.

    Hingegen war's mir zutiefst egal, ob Freude am Schmuck nicht zu mädchenhaft; diesen Vorteil hatten sie ja, die selbsternannten Menschenfreunde, auch wenn ich in ihren Schriften kein einziges Wort zu diesem Thema fand: Ob Homo nun oder Hetero – beides war letztlich egoistische Sünde, beides führte letztendlich zum Tod. – Und: entsprachen ihre Kupferstiche etwa nicht exakt den bekannten Visionen der Propheten Jesaja und Micha? Gründerzeitvillen, hingetupft in einen endlosen Park mit nicht enden wollenden Höhenzügen am nicht enden wollenden Horizont.

    - Stuhlgang? Soweit ich noch weiß, noch immer, aber wenigstens ohne Geruch. Keinesfalls Autos, eventuell Züge, und so oder so eine Langeweile, die den Ruhrstädter Sonntag noch weit übertraf.

    Das neue Leben im Paradies übten beide Menschenfreunde unter Verzicht auf Privatbesitz auf ehemaligen Gutshöfen ein; bei meinen hießen diese Güter, die es neben der Schweiz und Frankreich auch in Mexiko und in Deutschland gab, soweit ich noch weiß, Versuchsstationen. Dort lebten auch ehemalige Kleinfamilien und demzufolge auch Kinder, so daß es nur allzu verständlich ist, daß hin und wieder Ordnungsbeamte auf diesen Stationen nach dem Rechten sahen. Und so konnte der Anzeiger – stolz? – verkünden, wie einem dieser Ordnungsbeamten sogleich die Tränen in die Augen schossen, als die Kinder ihm Lieder des Sendboten sangen, und, so man dem Anzeiger glauben darf, selbstverständlich vor Freude. – Und so galt dann auch die Familienversammlung – die wohl monatliche Hauptversammlung – nicht der Klein- , sondern einzig der Glaubensfamilie, auch wenn, soweit mir das bekannt, meiner Mutter, die ja eh kein Mitglied, sondern nur Sympathisantin war, niemand je einen Vorwurf machte, daß ich sie einmal (und wirklich nur einmal) zu einer solchen begleiten durfte, und freilich noch Kleinfamilie genug, diese im Ruhrstädter Saal zu versammeln, einem Schuppen auf Brachland am Rande zur Bahn, ein kleiner Garten drumherum, und festlich, fröhlich, familiär war diese Versammlung nun wirklich nicht.

    Der neue Leiter der Ruhrstädter Gruppe, auch dieser nicht gerade jugendlich, kam aus dem Schwarzwald und liebte die Pilze und schwärmte oft vom Parasol, der, paniert gebraten, wie ein Kalbsschnitzel munde, wie ja auch unser Pilzbuch schrieb, und beklagte das Schicksal des Menschengeschlechts, da dieses doch stets in Wollust gezeugt, ein Wort, das meine Mutter zitierte (und durchaus mit kritischem Unterton), als ich zwar Wollust, doch weder das Wort und schon gar nicht dessen Bedeutung kannte. Das war der Bruder Mayen; Herren und Damen, Männer und Frauen gab es nicht bei den Menschenfreunden, und auch das einzige Ehepaar in der Ruhrstädter Versammlung lebte nicht mehr als Mann und Frau zusammen, sondern wie Bruder und Schwester; wenigstens trug der Mann einen Bart und fuhr einen Citroen Ami 6. Bruder Mayen liebte Käsekuchen, und diesen sogar mit Sahne. – Sagte er Quark oder Käse? – Käsekuchen, ein ekliges Wort, damals wie noch heute.

    Auf der besagten Familienversammlung war ich, wie erwartet, das einzige Kind, und lachte, als Bruder Mayen sagte, daß uns der Teufel doch immer wieder einen Knüppel vor die Beine werfe, mit diesem uns zu Fall zu bringen; zwar verursachte dieses Mißgeschick tatsächlich ein leises Schmunzeln im Saal, mir aber war es nun doppelt peinlich, und ist's auch im Paradies so still, so mottenkugelig und dielenknarrend, dann lieber wohl doch in den kirchlichen Himmel und hier jetzt nun erst mal die Erde.

    - Und überhaupt, Menschenfreunde und Mottenkugeln, Menschenfreunde, die doch auch Tierfreunde sind, und weiterhin sah ich Fernsehkrimis und regte mich unangemessen auf, wenn der Täter am Ende erschossen wurde und so der gerechten Strafe entging; und da das fast immer Mörder waren, Todesstrafe, Rübe ab, Galgen, elektrischer Stuhl. Das gibt Krebs, wenn man sich schon als Kind so aufregt, und dann noch ob solcher Nichtigkeiten, das glaubte ja selbst mein Vater schon, obgleich der ansonsten, genau wie meine Schwester, herzlich wenig mit den Menschenfreunden anfangen konnte. Und immer noch hoffte ich insgeheim, das Jahr 2000 erleben zu dürfen, so, wie im Jahrbuch Das neue Universum auf der vorderen Klapptafel dargestellt, mit Magnetschwebebahnen und Wohnraumglocken und allem, was sonst noch als Fortschritt galt. – Noch schädlicher als der nichtige Zorn war ein blauer Fleck in der Seitengegend, ein Bluterguß, und üblicherweise verursacht durch die Faust eines Klassenkameraden; kam beides zusammen, war die Aufregung groß, 1969 gar so groß, daß mein Vater den fast schon versprochenen Jugoslawien-Urlaub kurzerhand für gestrichen erklärte. Fräulein Hertz soll meiner Mutter gesagt haben, daß die anderen mich nicht leiden können, weil ich ihnen geistig haushoch überlegen sei, doch selbst wenn es so gewesen wäre – ich hätte mich hier so zurückhalten können wie etwa im ungeliebten Sportunterricht. – Und überhaupt, haushoch überlegen... sie hätte mich nicht so loben sollen, als ich bei der Frage nach Wörtern mit äu das Wort Täufe nannte, einen Begriff aus der Bergmannssprache, und ich, um die Situation abzumildern, einen Klassenkameraden, dessen Kommunikation mit mir sich vorzugsweise darauf beschränkte, mir auf die Oberarme zu boxen, ansprach und sagte, daß sein Vater als Bergmann diesen Begriff sicher kennen würde; er sah mich so verächtlich wie immer an und boxte mich auch weiterhin.

    Im Juli '69 der Bundeskongreß der Menschenfreunde auf dem Stuttgarter Killesberg. Die hatten sogar einen Sonderzug. Das Oberhaupt der deutschen Gemeinde fuhr in einem Mercedes vor, wie meine Mutter erzählte, sogar mit Chauffeur; vielleicht war's ja auch bloß ein Taxi.

    Ein Ferientag, mein Vater im Amt. Nicht, daß beim Eis geknausert wurde, doch die Sorten wiederholten sich. Ich begehrte die große und nie gekaufte (und eigentlich eher fade) Fürst-Pückler-Packung aus der offenen, vereisten Langnesetruhe der Bäckerei am Lessingplatz, und nun endlich die Gelegenheit. Doch war es mir freilich unmöglich, die ganze Packung auf einmal zu essen; zum einen war ich – trotz Bauch – kein Fresser, zum anderen hatte ich Angst vor dem Gleichwert, und sei es profane Übelkeit. Also steckte ich das, was übrig war, in das offene Kühlschrank-Eiswürfelfach und drehte die Regulierung auf sechs. Das hielt aber kaum bis zum Abend, und der Rest der begehrten Köstlichkeit ging halbgetaut ins Klo.

    Tags darauf kam meine Mutter heim, im Gepäck die versprochenen Mickymaus-Bücher, nur währte die Freude kürzer noch als die Vortagsfreude am Pücklereis; die ganze Familie war anwesend wohl, und der Kühlschrank nun so eisverkrustet wie die Bäckertruhe am Lessingplatz, zumindest rund ums Eiswürfelfach. Die Fragen wollten und wollten nicht enden, und hätte meine Mutter auf dem Treffen in Stuttgart ernstlich den guten Vorsatz gefaßt, fortan sich nicht mehr aufzuregen, so hätte sie diese Prüfung jetzt sogleich an ihre Grenzen geführt, log ich so überzeugend doch, wie ja die andern nur sagen konnten, daß sie das Drehrad nicht verstellt. Zudem war während der Rückfahrt im Zug eine Glaubensschwester gestorben, ein Vorfall, der selbst einen Menschenfreund nun wohl doch ein wenig unruhig macht. – Kam auch im Zug eine Unruhe auf? War für die deutschen Menschenfreunde wirklich ein ganzer Sonderzug nötig? Wo hatte ich das Geld für die Eispackung her? Hatte ich Zugang zum Haushaltsgeld, und wenn ja, mit welchen Vorgaben dann? Warum und wieso schmolz das Speiseeis, während der Kühlschrank völlig vereiste? Wie und wo hab ich die Pappe entsorgt? War Dagobert Duck eine Alternative? Der schwimmt im Geld und lebt trotzdem ewig, und gewiß in einer besseren Welt als die Menschenfreunde in Gründerzeitvillen im Langweilpark vor Mittelgebirgen.

    Auch wenn wir bis 1968 nur das erste Programm empfangen konnten, so war ich doch ein Fernsehkind. Samstags nach dem Wochenbad, wenn ich im Wohnzimmer eingecremt wurde, auf daß diese scheußliche Waschhaut verschwinde, lenkte ich mich von eben dieser mit Mahalia Jackson ab. Da gab es auch keine Vorurteile, im Gegensatz zu den Gastarbeitern; Hundertfünfundsiebziger und Messerstecher.

    Am Karfreitag mußte man traurig sein. Meist kroch ich zu meiner Mutter ins Bett, die gleichermaßen Martin Luther und Martin Luther King verehrte. Die Schwarzen hätten den armen Jesus ganz gewiß nicht ans Kreuz geschlagen, die priesen ihn doch mit Leib und Seele wie eben Mahalia Jackson. Fräulein Hertz, meine Klassen- und Sportlehrerin, beklagte schon lange vor '68, daß es stets eine Weiße sei, die zur schönsten Frau der Welt gekürt, wo eigentlich jeder doch wissen müßte, daß tief im afrikanischen Busch noch eine viel Schönere leben könne; sie erzählte uns auch die Schöpfungslegende der, wie man noch sagte, Zigeuner; die ersten zu dunkel, die zweiten zu hell, und die dritten genau mit der richtigen Bräune – im Gegensatz zur inneren Bräune der Mehrzahl ihrer Lehramtskollegen, ja, letztlich des halben Landes noch.

    Ins Bett ging es während der Woche um neun, freitags, wenn auch nicht jeden Freitag, erst nach dem 9-Uhr-Serienkrimi; der lief bis Viertel vor zehn. – Wiederhole ich mich hier? Egal; wie gesagt, ein Fernsehkind.

    Die Zeit der weißen Perlonhemden; '67 eins mit Rüschenleiste. Netzunterhosen mochte ich damals so wenig wie heute Boxershorts; da lob ich mir Feinripp von C & A. Scheußlich die lange Unterhose aus der DDR, allen Ernstes mit Eingriff hinten. Die trug ich aber ganz selten nur, und den Eingriff benutzte ich nie. Ein Mitschüler stieg schon '69 wieder auf Baumwollhemden um, kein Freund, eher freundlich-distanziert, was damals gewiß nicht das schlechteste war.

    Meine Schwester sah sich im Fernsehen eine Sendung über Marilyn Monroe an. Ein warmer, heller Sommerabend, die Eltern noch im Garten. Aus diesem heiteren Sommerhimmel überkam mich nun die Zwangsvorstellung, auch ich hätte mich jetzt umzubringen, auf dem düsteren Dachboden aufzuhängen, und gleich, womit ich mich ablenken wollte, es ging und ging und ging nicht weg, und dann kamen sie auch schon nach Hause, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte und heulte statt dessen nur rum. Die mir freilich genehmste Lösung, nämlich wie üblich meiner Schwester nun die Schuld in die (ohnehin sehr moderaten) Stöckelschuhe zu schieben, war in diesem Fall ja kaum möglich, und überhaupt, wie sollte ich, zumal in diesem Alter, mit Worten nun diesen meinen Zustand erklären, und so drückte ich lieber mit aller Gewalt ein paar Tropfen in die graue Grobripp-Unterhose, wo Flecken gleich viel größer wirkten, obgleich sie das schon etwas stutzig machte, nahm mich doch normalerweise eine eingenäßte Unterhose längst nicht so mit wie an diesem Abend, einfach, weil das zu häufig war, zum Beispiel fast immer, wenn ich lachen mußte, und sicher war der ganze Spuk schon am nächsten Tag vergessen.

    Heideurlaub 1966, nicht weit von unserem Ferienhaus. Eine unserer Steinpilzstellen. Meine Mutter findet zwei ausgesprochen schöne Exemplare, ich hingegen keinen einzigen. Scheiß Gott, fährt es mir durch den Kinderkopf. Es wird rhythmischer, viersilbig, setzt sich fest, und abgesehen von der Vier bei Musik, bei Geburtstagen oder bei Straßenbahnlinien ist mir die Vier noch heute suspekt.

    Ich verbot es mir, auf die Fugen zwischen den Gehwegplatten zu treten; tat ich's dennoch, bewirkte der Fehltritt eine Spannung bis hin zur Atemnot. Da sollte doch mal besser der Kinderarzt schaun. – Der schaute sich lieber was anderes an. Nachdem ich dann minutenlang auf seiner Pritsche gelegen hatte, schickte er mich ins Wartezimmer und mußte ja sonstwas gefunden haben, so lang, wie auch das Gespräch dann ging. Was mag er meiner Mutter erzählt haben? Banales Zeug, weil er mit den Gedanken noch freilich ganz woanders war? Ich kann's – und wie sollt ich's? – nicht sagen; es sei ihm folglich vergönnt. Und so blieb ich ausnahmsweise mal still, als meine Mutter meinem Vater das Spektakel erzählte, und was dieser Kerl sich dabei bloß gedacht, so lange an mir da herumzufummeln.

    Räumte mein Vater im Dachbodenvorraum die Regale unter der Dachschräge auf, bestaunte ich stets den Holzhammer dort; ein Werkzeug, das ich sonst nur aus Stummfilmen kannte. Die Fabrik auf der alten Stonsdorfer-Flasche: das wolkenverhangene Stadtpanorama beim Blick aus unserem Küchenfenster; der große Hof mit den Gartenparzellen, die Hinterhofbalkone aus der Gründerzeit, zur Rechten das weitläufige Areal einer ehemaligen Lederfabrik. Am Horizont die katholische Kirche, später dann das Neckermann-Hochhaus und die Kugel des Observatoriums, ich glaube, eines Max-Planck-Instituts. Ein Stilleben, das sich nur dann belebte, zog von der Stadt her ein Wetter auf. Ich mochte es nicht, wenn rund um den Schornstein auf dem Flachdach eines Werkstattschuppens am Rande besagter Lederfabrik der Schnee schon nach Stunden geschmolzen war; keine richtigen Winter, keine richtigen Sommer, im katholischen Ruhrstadt nieselte es, und schon kurz hinter Hamm kam die Sonne hervor. Alles nur Folgen der Schwerindustrie, und überhaupt, das ganze Ruhrgebiet nur Ausdruck der Geldgier der Schwarzen: CDU = katholisch = reich; SPD = protestantisch = sagen wir, nichtreich; so einfach war das damals im Ruhrgebiet.

    - Hideaway von Dave Dee und Dozy und den anderen mit den komischen Namen: meine erste eigene Single; meine Schwester gab zwei oder drei Mark dazu.

    Das frühe Interesse an Politik: Als der Mauerbau noch in den Nachrichten war, fragte ich meine Mutter, warum die Amerikaner nicht einfach Bomben auf diese Mauer werfen, die ich groß und dunkel wie die Giebelseite unserer grauen Mietshäuser wähnte und dünn wie meine wackeligen Legomauern. Vernünftige Frage, vernünftige Antwort: Gefahr eines neuen Weltkriegs.

    Im Oktober '63 im Interzonenzug nach Guben. Bis Berlin im Liegewagen; dort stiegen wir um in die S-Bahn nach Erkner, und ich hoffte, die Schwangere Auster zu sehen, was schwanger auch immer bedeuten mochte.

    Die Deutsche Reichsbahn war eine Enttäuschung; statt der erhofften Doppelstockwagen Großraumwaggons ohne Übergang, ausgeweidete Vorkriegs-Coupés, im Nichtraucher gar ein Zigarrenraucher; meine Mutter verbot's, ihn zurechtzuweisen.

    Mein Großvater stellte Abend für Abend eine Mausefalle in der Speisekammer auf; ich freute mich über jeden Fang wie über ein gelegtes Ei im Hühnerstall meiner Tante bei Oldenburg. In Ruhrstadt rannte ich schon heulend aus dem Zimmer, als im Fernsehen ein Bericht über Tierversuche nur angekündigt wurde.

    - Liebesknochen, so ein Windbeutelteil, für meinen Geschmack viel zu fett, doch der klare Beweis, daß Hunger und Not im Osten nur Propaganda war, Propaganda der CDU, Propaganda der Katholiken, Katholiken, die in dunklen katholischen Kirchen auf blutigen Knien zu Heiligen riefen und als Päpste oder als Gastarbeiter vorzugsweise Singvögel fraßen, so daß schon mal wenigstens letzteres nicht das katholische Ehepaar Kraft betraf, bei dem ich fast schon den Eindruck hatte, daß es nicht zuletzt dieses Katholische war, was die beiden mir so sympathisch machte.

    Mit dem Liebesknochen in der Hand so weit wie möglich ans Neißeufer, auf jeden Fall bis hinter den Schlagbaum gleich am Anfang der Neißebrücke; konnte ich dann doch immerhin sagen, daß ich fast schon im Ausland war, auch wenn das Land, das hinter der Schranke, noch kein so ganz richtiges Ausland war, und das Land davor, nun, ja auch schon fast. Meine Mutter hatte mir eingeschärft, im Osten nur ja keine Scherze zu machen über Ulbrichts Zickenbart; als ob das denn je meine Absicht war.

    Meine Großmutter, illegitime Tochter eines Berliner Dirigenten, war Mitglied im Biochemischen Verein und nahm nach dem Krieg sogar mal das Flugzeug, als sie ihre Töchter im Westen besuchte; in Guben nahm sie mich zum Metzgerladen mit, und ich staunte über die Aufschnittmaschine, die nach getaner Arbeit ausging wie von selbst. So was Modernes haben wir nicht im Westen, sagte ich im Metzgerladen, und der ganze Laden lachte. Erst recht aber war der Silberschmuck meiner Tante, alles 835er-Silber, der glänzende Beweis, daß es den Menschen im Sozialismus fraglos besser als denen im Westen ging. – Der große, gemütliche Kachelofen in ihrer geräumigen Neubauwohnung. Der Badezimmerboiler mit Holzfeuerung war das einzige, wo ich mir nicht so ganz sicher, ob jetzt auch das ein Fortschritt war gegenüber unserem elektrischen.

    Beim Pilze suchen war ich inzwischen meinem Großvater fast schon ebenbürtig. Grünlinge waren mir vom Wochenmarkt vertraut, der war vor dem klobigen, dunklen Rathaus, wo auch das alte Finanzamt war. Und so erntete ich im Herbst '63 neben Grünlingen und auch Pfifferlingen vor allem den Respekt meines Großvaters, überzeugter Sozialdemokrat, der, wie mir meine Mutter erzählte, vor 1933 sogar ein Taxi für die Familie bestellte, um an einer Gedenkfeier für

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