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Die Spezereienhändlerin
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eBook325 Seiten4 Stunden

Die Spezereienhändlerin

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Über dieses E-Book

Halle an der Saale in den Jahren 1700/1701.
Alles läuft auf Ostern hinaus. In nur wenigen Wochen muss Magdalene ihr Leben ordnen: das Ultimatum der Krämer-Innung erfüllen, den verschwundenen Studenten Caspar finden und entscheiden, was sie von den Experimenten ihres Gesellen halten soll. Könnte das unerwartete Treffen mit ihrer jüdischen Freundin Esther der rettende Neuanfang sein?
SpracheDeutsch
HerausgeberOeverbos Verlag
Erscheinungsdatum26. Okt. 2021
ISBN9783947141418
Die Spezereienhändlerin
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswalds Lebensstationen führen von einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt über Halle/Saale bis an den Rhein. In Halle studierte sie Volkswirtschaft an der Martin-Luther-Universität. Als Schriftstellerin ist sie seit vielen Jahren tätig. Ihre Begeisterung für Geschichte begann mit ihrem Studium an der Martin-Luther-Universität von Halle. Christina Auerswald ist verwitwet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in Remagen.

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    Buchvorschau

    Die Spezereienhändlerin - Christina Auerswald

    1. KAPITEL

    Magdalene Rehnikel strich sich eine kastanienbraune Locke aus der Stirn. Immer wieder wollte dieses widerspenstige Ding aus der Haube rutschen! Sie seufzte und sortierte die Schalen auf ihrem Tisch neu: Canariwurz, Spanische Kreide, Gummi arabica, die Päckchen mit der Seife. Waren das nicht viel zu wenige Spezereien? Die Gewürze hatte sie nicht mitnehmen können, die brauchten eine Feinwaage. Vielleicht sahen die Leute nur nicht richtig, was sie anzubieten hatte? Hätte sie den Tisch vielleicht ein Stück weiter vorn aufbauen sollen? Aber der Marktmeister hatte sie hierher, zu den Gemüsehändlern, geschickt. Sie gehöre nicht zu den Krämern mit irdenen Waren, auch nicht zu den Wollkrämern und den Lederhändlern.

    Und überhaupt, was sie sich einbilde – Spezereien auf einem Marktplatz! Wo habe man so etwas schon gehört!

    Magdalene achtete nicht auf sein Schimpfen und tat, was sie sich ausgedacht hatte. Es musste doch zu schaffen sein, dass ein bisschen Geld in die Kasse kam!

    Der Himmel versprach einen sonnigen Tag, das Blau vertiefte sich von Stunde zu Stunde. Dieser Juni im Jahr des Herrn 1700 war ein freundlicher, er ließ das Getreide auf den Feldern mit Regen und Sonne im Wechsel gut wachsen, und für den Markttag hatte er angenehme Wärme mitgebracht. Seit dem morgendlichen Ruf der Betglocke stand Magdalene hier, nachdem der missmutige Jakob ihr die Warentaschen und den Tisch hinterhergetragen hatte und wieder gegangen war. Ihr Geselle hielt ebenso wenig von ihrem Plan wie der alte Marktmeister. Natürlich hatte noch nie jemand auf dem Halleschen Marktplatz Spezereien verkauft. Warum auch? Es gab ja den Laden, das Geschäft ihres seligen Georg. Dorthin gingen die Leute, wenn sie etwas brauchten, was die Apotheken nicht boten und die Mode oder das Geschäft dennoch verlangte. Nur, dass immer weniger Leute kamen, seit Georg nicht mehr lebte.

    Sie atmete auf, als eine Bäuerin aus Seeben auf ihren Stand zuschlenderte. Es war eine runzlige Alte, die nicht nach viel Geld aussah. Aber man wusste nie, manchmal wollten gerade die Alten sich etwas leisten und legten dafür ihre Ersparnisse auf den Tisch.

    »Rehnikelin«, krächzte die, »habt Ihr Löcher im Dach, dass Ihr neuerdings nicht mehr in Eurem Laden verkaufen könnt?«

    Magdalene lächelte. »Aber nicht doch! So ein Laden ist wunderbar, man hat ein Dach über dem Kopf, wenn es regnet und die Waren liegen trocken und sicher. Bloß ist es ein bisschen einsam da. Ich wollte gern dort sein, wo etwas los ist.«

    Die Alte entblößte ihren einzigen Schneidezahn. »Kommt wohl keiner mehr zu Euch?«

    Ihr Erröten verbarg Magdalene, indem sie die Kopf senkte. »Doch, doch! Aber als Händlerin muss ich mich zeigen, damit die Leute sehen, was für schöne Sachen ich zu verkaufen habe. Sehr doch hier: die Indische Seife! Jeder in Halle will sie haben. Sie kann alles viel weißer waschen als ihr je gesehen habt.«

    »Jeder? Ich sehe keinen. Und meine Seife mach ich selbst. Das Weiße ist was für Stadtleute, nicht für solche wie uns. Wie kommt es denn, dass Ihr Zeit habt, Euch auf den Markt zu stellen? Man hört, Ihr könnt Euch keine Magd mehr leisten. Wer macht Euch den Haushalt, und wer kümmert sich um die Kinder?«

    »Macht Euch keine Sorgen um mich, das schaffe ich schon.«

    Die Alte lächelte gütig, als ob sie Mitleid hätte. »Wollt auch nichts gesagt haben. Steht mir ja nicht zu, einer Bürgerin zu sagen, wie sie ihre Pflichten erfüllt. Wünsch Euch einen schönen Tag, Rehnikelin!«

    Magdalene biss sich auf die Lippen, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Das boshafte Weib würde ihr ja doch nichts abkaufen, es nützte nichts, ihr einen guten Preis für die Seife hinterherzurufen.

    Neben ihr an den Ständen der Bauern aus den Vororten wurde das Gedränge größer. Es ging auf Mittag zu, die Mägde kauften Zwiebeln, Kohl, Rapünzchen. »Indische Seife!«, rief Magdalene laut. »Hier gibt es die beste Seife vom Hof des Kurfürsten! Indische Seife!«

    Eine Seilersfrau trat näher. »Ein Stück von Eurer Seife, was kostet das?«

    »Einen Groschen, gute Frau.«

    »Einen Groschen! Da mache ich mir doch lieber meine Seife selbst.«

    »Es ist eine ganz besondere Seife. Ihr werdet staunen, wie weiß Eure Wäsche werden kann!« Magdalene hob ihre weiße Schürze an, die sie extra für den Markt aus der Truhe geholt hatte.

    »Aber einen Groschen, nein, das ist zu viel.«

    »Acht Pfennige, nur für Euch.«

    »Vier.«

    »Um Gottes Willen, wollt Ihr mich an den Bettelstab bringen? Sieben.«

    »Vier, oder ich gehe wieder. Es herrscht ja wohl kein Andrang, dass Eure Seife so etwas Besonderes sein kann.«

    »O doch, die Leute haben sie nur alle schon gekauft.«

    »Vier.«

    »Sechs, aber weiter herunter kann ich nicht gehen.«

    »Vier.«

    »Gut. Fünf, das ist mein letztes Wort.«

    Die Seilerin zog ihre Börse hervor und zählte ihr fünf Pfennige in die Hand, nahm das Päckchen Seife entgegen und verschwand grußlos. Fünf Pfennige für etwas, das schon allein an Zutaten und Verpackung vier kostete. Jakob hatte ihr eingeschärft, die Seife niemals unter acht Pfennige zu verkaufen. Aber es war ein Anfang. So war es auf den Märkten immer: Zuerst musste ein gewisser Andrang entstehen, dann kamen noch mehr Menschen.

    Aber Andrang gab es nur woanders. Manche Leute schlenderten vorüber, warfen neugierige Blicke auf ihre Auslagen, niemand blieb stehen. Magdalenes Rufe, am Morgen noch voller Zuversicht, verklangen am Nachmittag müde. Der Himmel zog sich zu, Wolken bedeckten ihn, es sah aus, als könnte es noch regnen. Bei Regen sofort alles einpacken, hatte ihr Jakob eingeschärft. Spezereien vertragen keine Feuchtigkeit, die Wurzeln ziehen Wasser und verderben, das Pulver klumpt und die Seife löst sich auf.

    Magdalene schaute nach oben. Noch war Zeit. Vielleicht kamen jetzt ein paar Leute und kauften. Aber gerade das Gegenteil geschah, der Marktplatz leerte sich, die abendliche Betglocke bimmelte, nicht einmal mehr Neugierige näherten sich. Die Bäuerin am Nebentisch räumte ihre Sachen zusammen. »Nehmt’s nicht so schwer, Rehnikelin«, brummte sie. »Manchen Tag ist das eben so.«

    Magdalene dankte und schluckte. Jakob hatte es vorhergesagt, aber sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Spezereien passen nicht auf einen Marktplatz, sie brauchen Geduld und Ruhe und vor allem ein Dach. Warum musste dieser alte Rechthaber auch immer vorhersehen, was geschah! Sie sah zu, wie die Bäuerinnen einpackten, aber sie konnte das noch nicht. Sie würde als letzte gehen, um sich nicht die kleinste Möglichkeit entgehen zu lassen.

    Von fern sah sie eine füllige kleine Frau näherkommen, deren dunkles Habit die Jüdin verriet. Esther? War das Esther Wolf?

    Esther hielt auf sie zu und lächelte. Ihre buschigen, dunklen Brauen hüpften. In ihrer mit jiddischem Klang versetzten Sprache sagte sie: »Ich grüße Euch, Witwe Rehnikel. Wie geht es Euch, habt Ihr gut verkauft?«

    Magdalene schüttelte den Kopf. Esther musste sie nichts vormachen. »Fünf Pfennige. Das war alles. Für einen ganzen Tag von morgens an.«

    Esther schüttelte den Kopf, ihr Doppelkinn wackelte. »Fünf Pfennige! Wie furchtbar! Das tut mir leid. Aber für Spezereien ist ein Marktplatz nicht das Richtige. Ihr erweckt sonst den Eindruck des Gewöhnlichen, dabei sind Spezereien doch etwas Besonderes.« Esthers Sprache merkte man an, dass sie kaum einmal Deutsch redete. Sonst benutzten die Frauen und Mädchen der Juden untereinander ihre eigene Sprache, und Magdalene war froh, dass Esther sich die Erlaubnis zum Deutschlernen von ihrem Mann ertrotzt hatte. Kleinlaut antwortete sie: »Ja, genau das hat mein Geselle auch gesagt. Aber was soll ich machen? Die Leute kommen nicht in den Laden.«

    »Nun …«, Esther zögerte, »es könnte sein, ihnen fehlt das Vertrauen, seit Euer Mann nicht mehr unter uns ist.«

    »Aber ich … mir gehört jetzt der Spezereienhandel. Ich führe ihn weiter.«

    Esther blieb ernst, ihr Doppelkinn stand still. »Ihr seid nicht Mitglied der Innung. Mein Mann sagt, dass sie sich dort beinahe überworfen haben nach Eurem Antrag.«

    »Ich habe den Bescheid mit der Ablehnung bekommen, aber ich werde widersprechen. Heute, spätestens morgen schreibe ich den Brief an die Innung. Mein Onkel ist Jurist, der hat mir versichert, dass dies aufschiebende Wirkung hat. Solange sie darauf nicht antworten, darf ich den Handel weiterführen.«

    »Sie werden wieder ablehnen. Dann gibt es keinen Aufschub mehr.«

    »Nein! Das dürfen sie nicht! Wovon soll ich sonst leben? Und meine Kinder?«

    »Ihr vermietet doch Kammern. Das bringt sicher ein paar Taler.«

    »Ja, zwei Studenten habe ich im Logis.« Magdalene wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Davon leben wir jetzt. Der Handel bringt kaum noch etwas ein.«

    »Na also. Ihr werdet immer einen Weg finden, so habe ich Euch kennen gelernt.«

    Magdalene atmete tief ein. »Meine Situation hat sich also schon bis zu Euch herumgesprochen?«

    Die Jüdin legte ihr die Hand auf den Arm. »Das ist doch kein Wunder. Halle ist klein und mein Mann muss immer wissen, mit wem er sich einlässt.«

    »Aber er kann es nicht verstehen, und auch die Innungsmeister nicht. Es sind Männer. Wäre ich auch einer, hätten sie mich längst in die Innung aufgenommen. All das Elend nur, weil ich eine Frau bin!«

    »Grämt Euch nicht. Auch Frauen können erfolgreich handeln. Meine Tante Glikl zum Beispiel ist eine großartige Händlerin. Sie hat es geschafft.«

    Magdalene sah sich um. Rings um sie waren jetzt alle Tische fort, kaum noch Menschen spazierten über den Markt. Dunkle Wolken hingen über der Marktkirche.

    »Würdet Ihr mich begleiten? In meiner Küche kann ich Euch mehr erzählen.«

    Esthers Blick wanderte unruhig. »Ich weiß nicht … aber andererseits … man hat uns sowieso zusammen gesehen. Ihr wisst doch, bei uns hat man es nicht gern, wenn wir mit den Einheimischen Umgang pflegen.«

    »Ich denke, Euer Mann muss im Bilde sein, was in der Stadt passiert?« Magdalene zwinkerte Esther zu.

    So kam es, dass eine halbe Stunde später in Rehnikels Küche eine Fremde am Tisch saß, von den Kindern neugierig beäugt. Jakob ließ sich nicht blicken. Vor Esther stand ein Kamillensud. »Lange kann ich nicht bleiben, es ist Zeit für das Abendgebet, aber die Geschichte meiner Tante soll Euch trösten. Sie ist die berühmteste Edelsteinhändlerin von Hamburg. Also hört.«

    Esther sprach, ihre dunklen Brauen hüpften, und Magdalene hörte zu.

    Glikl – Magdalene musste sich erst an den seltsamen Namen gewöhnen – war eine Base von Esthers Mutter, und unter den Juden hielt man enge Verbindung selbst über große Entfernung hinweg. So hatte sich Glikls Schicksal auch nach Halle herumgesprochen. »Tante Glikl hat eine gute Ehe geführt mit Chaim, ihrem Mann. Er hat sich bei ihr in seinen Geschäften Rat geholt. Er war Edelsteinhändler und musste oft nach Amsterdam reisen, und Tante Glikl hat viele Kinder bekommen. Trotzdem hatte sie immer ein offenes Ohr für seine Angelegenheiten. Als Chaim starb – das war vor elf Jahren – sah sie zum ersten Mal die Bücher, und sie erkannte, dass sie über und über verschuldet waren, denn Chaim hatte viele Außenstände, und die Leute glaubten, seine Witwe um die ihr zustehenden Zahlungen betrügen zu können. Es geht die Rede von 20.000 Talern, und das ist so viel, dass andere sich deshalb einen Strick genommen hätten. Freunde waren auf einmal keine mehr, sie meinten, die Familie sei verarmt. Tante Glikl hat sich davon nicht abschrecken lassen. Sie hat eine Auktion bekanntgegeben und all ihren Besitz verkauft, und das brachte ihr genug Bargeld, dass sie sämtliche Schulden tilgen und davon einen neuen Handel anfangen konnte. Mit ihrem Söhnen zusammen hat sie eine Strumpfwirkerei gegründet und den Edelsteinhandel weitergeführt, den Onkel Chaim begründet hat. Sie reist zu Messen, handelt erfolgreich und führt ein wohlhabendes Haus.«

    »Eure Tante könnte wahrhaftig ein gutes Vorbild für mich sein, besonders, nachdem sie bewiesen hat, dass sie gut alleine leben und einen Handel führen kann.«

    Esther lächelte nachsichtig. »Tante Glikl ist jetzt Mitte fünfzig. Sie schreibt, das Reisen falle ihr schwerer als früher und die dauernde Gefahr von Rückschlägen zermürbe sie. Es kann sein, dass sie eines Tages auch Ruhe sucht und sich wieder einen Mann nimmt.«

    »Das kann ich verstehen. Aber heiraten möchte ich nicht, bloß um meine Ruhe zu haben. Ich möchte aus Liebe heiraten, wenn ich es noch einmal tue.«

    Esther lächelte. »Liebe? Ich würde nicht darauf bestehen. Gefühle wandeln sich. Jedoch mit Weisheit geschlossen, kann eine Ehe Euch weiterbringen.«

    2. KAPITEL

    Gottfried Gutenbrunner räusperte sich und schlug die Augen nieder. Er faltete die Hände, machte eine kunstvolle Pause wie jedes Mal und sagte: »Vater, segne diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise.«

    »Amen«, murmelte Magdalene Rehnikel. Jakob, die Kinder und Caspar Ostenhöfer begannen sofort zu löffeln, aber Gottfried schien das Gebet im Stillen zu verlängern. Er nahm die Hände erst auseinander, als alle anderen schon die halbe Schüssel geleert hatten, griff nach dem Löffel und aß gemessen den ersten Happen.

    »Gutenbrunner, aus dir werde ich nicht schlau«, sagte Caspar.

    »Wieso?« Gottfried hielt inne.

    »Hast du keinen Hunger?«

    »Doch, ich habe großen Hunger, aber ich kann das Essen erst genießen, wenn ich dem Herrn ausreichend gedankt habe.«

    Caspar verdrehte die Augen. Er strich sich mit der Linken das dunkelbraune Haar aus der Stirn, das schon wieder zu lang gewachsen war. Magdalene beobachtete, wie er der kleinen Grete zuzwinkerte, bevor er in einem gespielt naiven Tonfall zu Gottfried sagte: »Ist es nützlich für den Glauben, wenn man ein bisschen länger hungert?«

    Er sprach mit dem anziehenden Dialekt Königsbergs, wo sein Vater Professor der Philosophie, Konsistorialrat, Doktor der Theologie und Pfarr-Adjunkt war. Dort sprachen sie »ein bisschen« aus wie »ejn bäsjen«. Magdalene erinnerte sich an seinen Vater, der seine Sätze oft begann mit: »Mein Sohn Caspar«, aber in seiner Sprache hieß das: »Mejn Sohn, wos de Caspar is«, und Grete kicherte dazu. Caspars Stimme klang dunkel und ruhig, und seinem Reden nach hätte man ihn für Mitte Zwanzig halten können. Dabei war er nicht älter als achtzehn.

    »Ihr sollt Gottfried nicht provozieren.« Magdalene war gezwungen einzugreifen, wenn Caspar es zu arg trieb. Als Quartierherrin musste sie auf Moral und Anstand ihrer Studenten achten, also auch darauf, dass sie sich untereinander vertrugen. »Gottfried versteht vom Gotteslob mehr als wir alle zusammen. Also lasst ihn tun, was er für richtig hält.«

    Caspar hob den Kopf und grinste. »Aber ja doch, Witwe Rehnikel. Mach ich. Ich werde doch keinen Theologiestudenten belehren, wie er zu beten hat.«

    Gottfried spitzte die Lippen. »Du könntest stattdessen ein paar Lehren von mir annehmen. Einem Jurastudenten steht es auch gut zu Gesicht, wenn er Gottes Wort kennt. Meinst du nicht, du könntest es für dein künftiges Leben gut gebrauchen?«

    Magdalene atmete tief ein und wieder aus. Es gab keinen größeren Gegensatz als den zwischen diesen beiden, die sie ins Logis zu sich genommen hatte. Gottfried war blass und zart, hatte blonde, zerfranste Haare und ein kleines Bärtchen über der Oberlippe. Bärte waren unmodern, aber erstens scherte ihn die Mode nicht und zweitens hatte er Angst vorm Rasieren, bei dem er sich schrecklich ungeschickt anstellte. Er besaß die schrille, abgehackte Stimme eines Sperlings, seine dünnen Glieder schlackerten in jeder Kleidung. Er verweigerte das Waschen am Brunnen, aber er würde auch zu keiner Zeit ins Schwitzen kommen. Er putzte sich nicht auf wie Caspar, suchte keinerlei Zerstreuung und trank niemals Bier. Essen konnte er wie ein Bauer, und Magdalene war es ein Rätsel, wohin er die Mengen schaufelte. Auf seinen Rippen saß kein Gramm Speck.

    Caspar dagegen war kräftig und trug die geckenhaftesten Kleider, die Magdalene kannte: eine vor der Brust gebundene Schleife, Jabot genannt, aus feinem weißen Stoff mit Spitzen, dazu lange Rüschen an den Ärmeln des Hemdes. Caspar konnte laut und grölend singen, während Gottfried seine Stimme kaum über ein mahnendes Zischen hinaus erhob. Beider Zukunft lag klar vor ihnen: Gottfried würde Pfarrer in irgendeiner Landgemeinde werden, Caspar strebte einen Posten bei Hof an, wo sein Vater an der Karriere seines Sohnes arbeitete, seit der Junge geboren war.

    Das tägliche Geplänkel der beiden war eine Prüfung für die Geduld eines jeden Christenmenschen, aber manchmal, wie an diesem Tag, war es kaum zu ertragen. Seit Gottfried und Caspar an Ostern des vergangenen Jahres zu ihr ins Logis gekommen waren, saßen am Tisch zwei Personen mehr beim Essen, aber es waren zwei, die Aufregung für zehn machten. Von der ersten Stunde an war offensichtlich gewesen, dass sie einander nicht mochten. Caspar Ostenhöfer, im zweiten Semester der Juristerei, blieb von morgens bis abends dem Frohsinn aufgeschlossen, während Gottfried der ernsthafteste Mensch war, den Magdalene kannte.

    Studenten brachten ein willkommenes Zubrot für jeden, der ein Haus mit Zimmern zur Vermietung besaß, seit die Universität wuchs und wuchs. Jeder wollte einen oder zwei Studenten unterbringen und bekochen, weil das die Haushaltskassen füllte. Magdalene brauchte das Geld dringend, und sie brauchte die gutsituierten Studenten, die am meisten zahlten. Deshalb musste es bei ihnen feiner zugehen als anderswo. Sie hielt die Tischgebete ein, putzte täglich das Geschirr und benutzte sogar Gabeln beim Essen. Magdalene hoffte, das genügte den Ansprüchen der feinen Herrschaften.

    Sie hob den kleinen Albrecht von ihrem Schoß. Albrecht war ihr jüngstes Kind, konnte schon flink laufen und schlief tagsüber kaum noch ein halbes Stündchen. Der Kleine stellte sich auf seine Füße und hangelte sich an der Bank entlang zu seiner Schwester Grete. Grete legte den Löffel weg und griff nach Albrechts Hand. Mochten die beiden spielen gehen. Mit ihren sechs Jahren sollte Grete nicht die Schüsseln abräumen müssen, sondern ein bisschen Zeit für sich haben, noch dazu, wo sie ein schönes Mädchen zu werden versprach. Ihr kastanienbraunes Haar lockte sich bis über ihre Schultern, wenn sie sich kämmte, und ihre großen grauen Augen leuchteten. Hans, der Älteste von Magdalenes drei Kindern, war zehn. Sein dunkler Blick flog meist verträumt aus dem Fenster, aus dem er sich fortwünschte, wohin, das mochte der Himmel wissen.

    Es war ein heller Abend. Bis zum Sonnenuntergang blieb mehr als eine Stunde, und Hans würde hoffen, nach dem Essen noch einmal hinausgehen zu können, aber daraus würde nichts werden. Zu viel war unerledigt geblieben. Der Junge würde sich um den Destillierapparat kümmern müssen, was er nach der Schule versäumt hatte. Der wichtigste Apparat in ihrem Labor musste jeden Tag geputzt werden, und Hans als künftiger Lehrling sollte diese Arbeit so gut beherrschen wie kein anderer. Jakob hatte im Laden so viel zu tun, dass jede Hilfe gebraucht wurde, also auch die des künftigen Spezereienhändlers Hans Rehnikel, selbst wenn es noch Jahre dauerte, bis er den Handel übernahm.

    Caspar stand auf. »Ich geh dann mal, Witwe Rehnikel«, sagte er und grinste. Er grinste stets. Magdalene fiel es schwer, ein ernstes Wort mit ihm zu reden. Sie raffte sich auf und rief: »Aber kommt nicht wieder betrunken heim. Das nächste Mal schleppe ich Euch nicht die Treppe hinauf, dann schlaft Ihr in der Küche auf der Bank.« Caspar lachte, riss sein Jabot von der Stuhllehne und band es sich um. Im Gehen antwortete er: »Wie werd’ ich denn«, und schon klappte die Tür hinter ihm.

    Gottfried schüttelte den Kopf. Magdalene konnte sich nicht erklären, warum sie dem blassen Kerl dafür am liebsten eine Ohrfeige versetzt hätte, weil er eigentlich recht hatte. Als er dann noch sagte: »Caspar ist ein schwerer Sünder«, platzte ihr der Kragen. »Meint Ihr nicht, lieber Gottfried, dass es Hochmut ist, wenn man sich selbst für sündenfrei hält?«

    Gottfried senkte den Blick. »Nein, in meinem Fall nicht. Ich werde niemals der Trunkenheit verfallen.« Da wünschte sich Magdalene fast, Caspar könnte dem Kerl das Gegenteil beweisen.

    Hans stand auf und fragte: »Darf ich …?« Aber Magdalene hatte keine Lust, irgendein Zugeständnis zu machen. »Nein!«, sagte sie scharf. »Du darfst nicht. Du gehst ins Labor und putzt den Destillierapparat.« Hans ließ den Kopf hängen und verschwand in Richtung Laden, hinter dem das Labor lag.

    »Ich hätte das auch machen können, Frau Magdalene«, sagte Jakob leise. Er hielt den haarlosen Kopf gesenkt, und seine Ohren hingen herab. Der Geselle war fünfundfünfzig, doppelt so alt wie seine Herrin und der Einzige, der noch im Spezereienhandel arbeitete, seit sie Witwe geworden war. »Frau Magdalene« nannte er sie, distanziert genug, aber persönlicher als es einem Dienstmann zustand. »Lasst doch den Jungen spielen, er ist noch ein Kind.«

    Sie senkte die Stimme und näherte sich ihm bis auf eine Elle, damit sie ruhig sprechen konnte. »Dieses Urteil steht Euch nicht zu, Jakob. Er ist mein ältester Sohn und wird eines Tages mit Euch zusammen im Laden stehen. Also überlegt Euch gut, ob Ihr den Jungen davon abhalten wollt, die Spezereien kennenzulernen.«

    3. KAPITEL

    Caspar Ostenhöfer lachte. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Das ist …«, er japste nach Luft, »das ist der beste Witz, den ich seit langem gehört habe.«

    Sein Kommilitone schlug ihm auf die Schulter und schob den Humpen quer über den Tisch auf Caspar zu. »Nein, ehrlich, das ist kein Witz. Gottfried hat behauptet, niemand könne ihn dazu bringen, Bier zu trinken.«

    »Der dumme Kerl will sich doch nicht etwa mit mir anlegen?«

    »Das hat er nicht deinetwegen gesagt. Ich habe gehört, wie er es einem Theologen sagte, den er beim Biertrinken erwischt hat. Dem hat er die Leviten gelesen, dann fragte der andere, ob er denn nie Bier trinkt, und Gottfried hat gesagt, nein, nie.«

    Caspar lachte noch einmal. »Ich weiß warum. Der hat Angst! Der verträgt kein Bier und will sich nicht blamieren. Der fällt ja schon von einem lauten Wort um, geschweige denn von einem starken Getränk.«

    Von der anderen Seite rief einer: »Du willst doch nicht sagen, das Bier hier wäre stark?«

    »Das nicht.« Caspar grinste. »Aber zu stark für Gottfried allemal. Da braucht es nicht viel mehr als Wasser, und schon fällt dieser Angsthase in Ohnmacht. Wetten, dass ich ihn betrunken machen kann?«

    Der andere winkte ab. »Das ist eine blöde Wette. Du kennst Gottfried besser als wir, du bist mit ihm im Quartier. Da ist es keine Kunst.«

    »Aber ein schöner Spaß wäre es. Was meint ihr, wenn unsere Quartierwirtin den Gottfried betrunken sieht? Was wird sie sagen? Gottfried, ausgerechnet von dir hätte ich das nicht gedacht! Böser Gottfried!«

    »Bist du nicht bei Witwe Rehnikel im Quartier? Die ist nicht so, die hilft dem Gottfried noch die Treppe rauf statt zu schimpfen.«

    Caspar grinste und nickte. »Spaß würde es trotzdem machen, Gottfried auf allen vieren zu sehen.« Er hob den Humpen und leerte ihn auf einen Zug, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und ergänzte: »Morgen Abend bringe ich ihn mit. Ihr werdet schon sehen, wie ich das mache. Brigitta!« Er drehte sich um und hob den Humpen hoch. »Brigitta, machst du mir noch eins?«

    Brigitta ließ vom Wirt hinter dem Tresen ein Bier zapfen und brachte es zum Tisch. Sie stellte den schweren Krug ab und strich ihre blonden Haare zurück unter die Haube. Caspar schlang seinen Arm um die Taille des Mädchens. »Gib mir einen Kuss, Brigittchen.«

    Brigitta schlug nach seinem Arm, aber das brachte Caspar nur dazu, fester anzupacken. »Lass mich los«, rief sie ärgerlich. Sie war eine der Töchter des Wirts und noch keine zwanzig. Ihre rosigen Wangen, ihre leuchtend blauen Augen und ihre glatte weiße Haut hatten dem Wirt schon eine Menge Umsatz gebracht. Er wusste genau, welche seiner Töchter er die Gäste bedienen ließ und welche nicht, denn es gab noch genug Arbeit in der Küche und auf dem Hof.

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