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Das Wasser der Saale
Das Wasser der Saale
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eBook310 Seiten4 Stunden

Das Wasser der Saale

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Über dieses E-Book

Halle, August 1698
Ein Augenblick genügt, um Magdalene in die Vergangenheit zu versetzen, an den Tag vor dreizehn Jahren, als ihr Bruder Christoph ermordet wurde. Christophs bester Freund Rudger steht auf dem halleschen Marktplatz, nachdem er jahrelang wie vom Erdboden verschwunden war. Was weiß er? Er war Zeuge des Mordes. Warum hat er sich nicht bei Ihr gemeldet? Als sie ihn endlich aufstöbert, findet sie ihn zwar in Armut, aber höflich und zuvorkommend. Kann sie ihm trauen?
SpracheDeutsch
HerausgeberOeverbos Verlag
Erscheinungsdatum4. Jan. 2021
ISBN9783947141357
Das Wasser der Saale
Autor

Christina Auerswald

Christina Auerswalds Lebensstationen führen von einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt über Halle/Saale bis an den Rhein. In Halle studierte sie Volkswirtschaft an der Martin-Luther-Universität. Als Schriftstellerin ist sie seit vielen Jahren tätig. Ihre Begeisterung für Geschichte begann mit ihrem Studium an der Martin-Luther-Universität von Halle. Christina Auerswald ist verwitwet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in Remagen.

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    Buchvorschau

    Das Wasser der Saale - Christina Auerswald

    gelingen.

    1. KAPITEL

    Ein einziger Blick auf einen blonden Schopf brachte alles durcheinander.

    Wenn man Magdalene Rehnikel gefragt hätte, ob sie es für möglich hielt, dass ein einziger Anblick einen Aufruhr in ihrem Leben verursachen könnte, dann hätte sie noch tags zuvor energisch den Kopf geschüttelt und ungerührt weiter die Wäsche auf dem Waschbrett gebürstet. Ein einziger Anblick! Sie hätte gelächelt und ihre roten, rissigen Hände aus dem Wasser genommen, um sich mit dem Oberarm die kastanienbraune Locke aus der Stirn zu streichen.

    Einen Tag später, als die Hemden auf der Bleiche beinahe trocken waren, als ihre Hände die allzu rote Farbe verloren hatten, als die Pflicht sie für die nötigen Einkäufe aus dem Haus lockte und ihr damit Gelegenheit verschaffte, sich ein paar Strahlen Sonne auf der Nasenspitze zu gönnen, geschah das, was sie tags zuvor noch ausgeschlossen hätte.

    Zwar war das Wetter trüb und kühl, viel zu kalt für diese Jahreszeit, und auch das Geschäft auf dem Marktplatz blieb hinter ihren Erwartungen zurück, aber sie genoss die Abwechslung. Das tat sie bereits auf dem Weg über die Straße vom Klaustor, den Korb am Arm, mit der einen oder anderen Nachbarin in ein paar Worte Geschwätz verhakt. Mit wenigen Schritten war sie am ersten Gemüsestand. Sie kaufte ein paar Rüben und den neuen Gürtel, den der achtjährige Hans für seine Hose brauchte, beschloss, sich nach vernünftigen Schuhen für den Jungen umzusehen, und ging über den Platz zu den Händlern vor dem Roten Turm.

    Die Wolken lagen wie bleierne Matten über dem Marktplatz, hockten auf der Spitze des Roten Turms und streckten ihre Arme nach den vier Türmen der Marktkirche aus. Ein feuchter Wind strich aus dem Grau. Dienstags, donnerstags und samstags fand der gewöhnliche Markt statt. Magdalene erreichte die Händler am Roten Turm, wo auch das Corps du Garde angebaut war, das Haus, in dem die Gens d’armes ihren Platz hatten. Sie fühlte mit der Hand nach ihrem Beutel. Er war noch da, innen am Gürtel, und genauso schmal wie immer. Geld war in ihrem Haushalt Mangelware. Das hielt sie nicht davon ab, umherzuschlendern, sich umzusehen und zu träumen. Magdalene liebte den Trubel, die bunten Waren, das Stimmengewirr. Sie war neugierig, was es Besonderes gab, denn irgendetwas Neues war jedes Mal dabei, Akrobaten, Schauspieler oder vornehme Leute in prächtigen Kleidern. Manchmal gab es reisende Händler, die Bänder und Spitzen aus Frankreich oder Delikatessen aus Holland anboten, oder Künstler stellten Missgeburten und Zwerge aus. Außerdem war es eine Zeit, in der sie sich keinen Pflichten unterwarf. Es war wohliges Nichtstun.

    Magdalene spazierte langsam, um den Müßiggang auszukosten. Sie knöpfte den Mantel ein Stück weiter zu und band die Haube fest, weil der Wind um die Bänke pfiff und ganze Hände voll Staub zwischen die Menschen warf. Sie hoffte, jemanden zu treffen, den sie kannte, aber ihre beste Freundin Sybille war in der Woche zuvor nach Dessau gezogen, wo ihr Base Elisabeth, die dort lebte, eine Stellung im Schloss vermittelt hatte. Tatsächlich vermisste Magdalene Sybilles Geplapper zu den Neuigkeiten aus der Stadt, über das sie sich früher lustig gemacht hatte. Nicht einmal eine Nachbarin war zu sehen, darum blieb Magdalene nichts anderes übrig, als sich allein zu vergnügen. Am nächsten Stand blieb sie stehen und sah sich die angebotenen Waren an. An dieser Ecke des Marktes regierten die Töpfer, in der Auslage standen Krüge und Schüsseln. Sofort, als sie ihren Blick über die Auslagen schweifen ließ, setzte der Lobgesang der Handwerkerfrauen ein. Jede pries ihr Geschirr, streckte die Hände vor und wies auf ihre besten Töpfe. Magdalene griff nach einem blauen Krug mit weißen Tupfen und betrachtete ihn, und sofort rief die Händlerin ihr einen Preis zu. Sie wollte einen ganzen Silbergroschen dafür haben. Der Krug erinnerte Magdalene an ihre Kindheit. Sie wusste noch, dass ihre Mutter genauso einen in der Fensterbank stehen gehabt hatte.

    Einen Silbergroschen für einen Krug auszugeben, war nicht drin. Die Versuchung führte dazu, dass sie trotzdem handelte, bis auf einen halben Silbergroschen sogar, aber es war nutzlos, auch den halben hatte sie nicht übrig. Sie stellte den Krug ab und schlenderte zu dem alten Schuster, der an der Ecke zum Steinweg einige Paar Stiefel aufgebaut hatte. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm, prüfte jedes seiner Angebote und dachte darüber nach, wie dringend ihr Sohn neue Schuhe brauchte. Schließlich verwarf sie die Sache. Ein, zwei Wochen konnte es noch warten, bis dahin würden vielleicht gute Geschäfte das Einkommen der Familie verbessern. Ein paar Schritte weiter kam ihr ein buckliger Hausierer mit einer Warentasche vor dem Bauch entgegen, der Schnüre und Schnallen feilbot.

    Die Wolken sanken tiefer, sie gingen mit einem Nieselregen schwanger. Der Wind grub seine Schneisen durch die Menschentrauben. Die Leute beeilten sich mit ihren Einkäufen. Die Händlerinnen mit den empfindlichsten Waren, Tuch, Leinen und Weißwäsche, verschränkten die Arme und schwenkten die Blicke gen Himmel. Auch Magdalene legte die Hand an die Stirn und sah prüfend nach oben. Hinter der Spitze des Roten Turmes zog eine schwarze Wolke auf, die aussah, als könnte sie sich gerade über dem Markt erleichtern. Dann passierte es.

    Als sie den Blick senkte, sah sie einen Mann mit dem Rücken zu ihr vor einem Stand mit Ledergürteln stehen. Er strich sorgsam mit der Hand über eines der teuren Stücke, so wie sie eben über den Krug, als würde er gern etwas kaufen und spürte dem Griff des Leders nach. Der Mann war jung und trug einen blauen Mantel, neu und von guter Wolle, der seinem blonden Haar schmeichelte. Es war feines Haar, das im Wind flog, etwas länger und gerade geschnitten. Vom ersten Augenblick an wusste sie, dass sie ihn kannte. Er drehte sich um und zeigte ihr damit sein Gesicht.

    Magdalene begann zu zittern. Sie erkannte den Mann. Ihn zu erkennen, bedeutete, dass sie an etwas denken musste, an das sie sonst nie dachte, und dafür hatte sie Gründe. Magdalene war eine Hausfrau von sechsundzwanzig Jahren, die tagaus, tagein ihre Pflicht tat. Wenn eine Frau für eine Familie sorgen muss, gibt es ungezählte Aufgaben; für das Grübeln bleibt keine Zeit. Sie hatte den Haushalt im Haus »Zu den Drei Rössern« zu versorgen, nahe beim Klaustor, mit zwei Stockwerken und einem Dachgeschoss, einem Hof, einem kleinen Garten und einem Stallanbau. Sie hatte sich mit Hilfe einer Magd um die Kinder zu kümmern und für ihren Mann da zu sein, den Spezereienhändler Georg Rehnikel, dreiundfünfzig Jahre alt, Innungsmeister der Krämerinnung und Vater von drei Kindern. Sie führte ein glückliches Leben, war seit acht Jahren verheiratet und lebte zufrieden mit ihrer Familie, vom Gesinde geachtet, von ihrem Mann geliebt. Für diese Auszeichnung dankte sie Gott jeden Abend im Gebet. Alles war gut. Warum hätte sie sich mit schrecklichen Erinnerungen das Leben schwermachen sollen?

    Aber nun stand sie auf dem Marktplatz, und ihr zitterten die Knie. Sie hielt sich mit einer Hand am Tisch eines Töpfers fest, um nicht zu stürzen. Nicht einmal den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie gebraucht, um den Mann wiederzuerkennen, obwohl es dreizehn Jahre her war, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sie wusste sofort, wo das gewesen war, und damals war sein Rücken der letzte Anblick, den sie von ihm zu sehen bekam. Er hatte sich verändert, war an den Schultern breiter und um die Mitte dicker geworden. Das Haar war noch dasselbe, er trug es genau wie früher. Es erinnerte sie an eine schreckliche Zeit in ihrem Leben. Wieso war dieser Mann am Leben?

    Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte sie geglaubt, er sei genauso tot wie ihr Bruder Christoph, sein bester Freund. Nie gab es Anlass, am gemeinsamen Tod der beiden zu zweifeln. Aber der Mann lebte. Innerhalb eines Augenblicks war eine dreizehn Jahre andauernde Gewissheit zu Staub zerfallen. Er stand drei Schritte von ihr entfernt, als wäre nie etwas Schlimmes passiert. Seine Gesichtszüge waren dieselben wie damals, hell und weich wie Weizenbrot. Seine Nase war dicker geworden, die Wangen hingen schlaff herab, ein Doppelkinn war ihm gewachsen. Mit seinen wasserblauen Augen sah er an ihr vorbei.

    Sie konnte sich nicht erklären, warum sie nicht die Hand hob und winkte. Es mochte daran liegen, dass er ungewohnt erwachsen wirkte, anders als sie ihn zuletzt gesehen hatte, als ungestümen, pausbäckigen Jüngling mit frechem Grinsen. Er schaute ernst, die Miene beinahe versteinert. Sie begriff, dass ihr Zögern noch eine andere Ursache hatte. Er ängstigte sie, weil er eine grimmige Miene zog, als wollte er die Zähne fletschen.

    Sie drehte sich zur Seite, aber ihre Vorsicht war unnötig. Er sah mit so reglosem Blick an ihr vorbei, dass er sie nicht erkannt haben konnte. Entschlossen hob er das Kinn und ging mit festen Schritten in Richtung Neunhäuser. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und rieb fröstelnd die Hände über die Ärmel.

    Als er ein paar Schritte entfernt war, gelang es ihr, sich zu fassen. Sie folgte ihm und versuchte, dabei unbemerkt zu bleiben. Er ging schnell und sie musste sich beeilen, um ihn zwischen all den Marktbesuchern nicht aus den Augen zu verlieren. Als er geradeaus über die Steinstraße hinweg in die Barfüßerstraße strebte, fiel ihr sein Name ein, nur der Vorname, denn mehr hatte sie nie gekannt: Rudger.

    Christoph wäre jetzt zweiunddreißig Jahre alt, wenn er nicht vor dreizehn Jahren erschlagen worden wäre. Magdalenes Herz klopfte heftig. Seit dreizehn Jahren hielt Christoph unter der Erde seinen allerletzten großen Schlaf. Rudger und Christoph. Christoph und Rudger. Als ihr Bruder noch lebte, hatte es nie einen Zweifel gegeben, dass die beiden eins waren. Jetzt war nur noch Rudger da, Rudger allein, und das machte den Schmerz um Christophs Verlust mit einem Mal wieder so stark, dass sie ihn kaum ertragen konnte.

    Rudgers Schritte führten zielstrebig fort, die Sporen an seinen Stiefeln klickten auf der steinernen Rinne in der Straßenmitte. Ohne sich umzusehen, verschwand er in einem der vorderen Häuser der Barfüßerstraße. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit einer Handelsstube im Erdgeschoss, morschen Balken im Fachwerk, das Mauerwerk mit hellgelber Farbe übertüncht. Sie kannte das Haus, weil jeder in Halle es kannte. Hier wohnte der Jude Wolff. Wenn ein Hallenser hier eintrat, hatte er Geschäfte zu erledigen, so sagte man dazu, ein wenig verschämt, aber mit diesen Worten, die jeder verstand. Es waren Geschäfte, in denen Münzen, Schuldscheine oder Wechsel über den Tisch gingen. Man betrat das Haus nur aus diesem einen Grund, sonst hatte man nichts mit den Juden zu schaffen, den Ketzern, die für nichts anderes taugten als für Geldgeschäfte.

    Magdalene blieb stehen und musterte die Tür, in deren Schatten der blonde Mann eingetaucht war. Fremde Leute passierten sie, Wagen rollten, eine Katze strich Magdalene um den Rock. Sie wartete eine Weile, aber Rudger blieb im Haus des Juden verschwunden, darum wandte sie sich ab und ging zurück in Richtung Markt.

    Ihre Glieder zitterten, die Handflächen waren feucht. Dreizehn Jahre lang hatte sie ihren Bruder pflichtgemäß ins Gebet eingeschlossen, ohne etwas anderes vor sich zu sehen als den lebendigen, fröhlichen Christoph. Den Toten nicht, niemals. Dreizehn Jahre lang war der Anblick seines blutigen Leichnams aus ihrem Gedächtnis gelöscht gewesen. Das war vorbei. Ein Augenblick hatte genügt, um ihn hervorzuholen. Dieses Kapitel ihres Lebens war nicht so tief begraben, wie sie geglaubt hatte.

    Statt die Klausstraße hinunter nach Hause zu gehen, wandte sich Magdalene die Rathausstraße hinauf. Mochten sie zu Hause glauben, sie hätte eine Freundin getroffen und sich verplaudert. Mochten sie glauben, sie hätte ihren Haushalt ein einziges Mal vergessen. An diesem Vormittag war es wichtiger, eine andere Pflicht nachzuholen. Viel zu lange war sie nicht mehr an Christophs Grab gewesen. Dort, hoffte sie, würde sie ihre Ruhe wiederfinden.

    Die Sonne ließ sich nicht blicken, Wolken bedeckten den Horizont mit dunkelgrauen Kissen. Niesel setzte ein und verwandelte sich bald in einen satten Regen. Magdalene raffte ihren Mantel enger um die Schultern. Langsam ging sie die Straße hinauf, die hinter dem Markt gerade so viel anstieg, dass das Gehen nicht beschwerlich wurde. Ihr Weg führte zum alten Zeughaus, von dort an der Stadtmauer entlang zum Galgtor. Sie verließ die Stadt und bog hinterm Tor nach links. Dort lag der Gottesacker.

    Der Regen hatte sich zu einem beständigen Rauschen entwickelt. Die Haube klebte ihr auf dem Kopf, die Feuchtigkeit zog den Mantel bleiern nach unten. Der aufgeweichte Weg führte durch den Torbogen auf den Friedhof. Der Gottesacker, eine Fläche von über zweihundert Schritten in Länge und Breite, war der schönste Friedhof des ganzen Landes, umgeben von einer Mauer aus vier Schritte tiefen Grabkammern, bekrönt von einem Dach, sodass die aneinandergereihten Grabkammern einen riesigen Hof bildeten.

    Die Kammern zeigten zur Hofseite eine bogenförmige Öffnung. Draußen rumorte der Lärm der Vorstadt, drinnen zwischen den Bögen herrschte Ruhe. Selbst das Glockenläuten klang dumpf. Jede Grabkammer war an die zwölf Schritte breit und hatte ihre Besitzer. Manche Bögen gehörten der Stadt, andere hatten ein, zwei oder mehrere Eigentümer. Es war eine hohe Ehre, einen halben oder gar ganzen Bogen zu besitzen, als Familienbegräbnis oder zusammen mit anderen. Dort gab man sich der Andacht an die Verstorbenen hin, betete vor ihren Särgen, die an den Wänden der tiefen Grüfte gestapelt waren. Die Bögen waren nach dem Geschmack ihrer Besitzer auf das Prächtigste ausgestattet und mit Inschriften in Latein oder Deutsch versehen. Am Eingang mancher Kammern hatten die Besitzer kunstgeschmiedete Gitter oder Geländer anbringen lassen, um sie vor dem Zutritt durch Fremde zu schützen. An allen vier Seiten durchbrachen Tore die Reihe der Grabkammern, zur Stadt mit einem Durchgang samt Torhaus, zu den drei Landseiten hin mit Portalen. Eine Betsäule stand im Inneren des Gottesackers, Bäume ragten aus dem Grün, Efeu schlängelte sich des Wegs und umarmte den Stein. Farne gediehen im Halbdunkel.

    Wind und Regen vieler Jahre hatten den Sandstein der Bögen grün und grau gefärbt, die Inschriften zerfließen lassen. Wenn die Sonne seitlich auf einen Stein schien, zeichnete sie im Schattenriss für ein paar Momente klare Buchstaben. Ein Brunnen spendete Wasser. Wenige Menschen hielten sich hier auf; schritten gemächlich und redeten gedämpft miteinander.

    Magdalene ging über den aufgeweichten Weg zu Christophs Sarg. Er stand im vorletzten Bogen in der hinteren linken Gruft, Wand an Wand mit den Särgen anderer geachteter Hallescher Familien. Sie erinnerte sich an Christophs Beerdigung. Es war ein strahlend schöner Sommertag gewesen, Lerchen sangen am Himmel, als wäre das Schicksal nicht grausam und hätte sie allein zurückgelassen. Sie sah die große Zahl an Trauergästen, in den Gesichtern der meisten eine Fassungslosigkeit, die ihre eigenen Empfindungen nicht traf. Magdalene war zu diesem Zeitpunkt unfähig gewesen, irgendetwas zu empfinden. Sie war starr und stumm und weigerte sich zu glauben, was alle anderen rings um sie hinnahmen: dass ihr Bruder nie mehr wiederkommen würde, dass er sich in den steifen Toten verwandelt hatte, der drei Tage lang im Erdgeschoss ihres Zuhauses aufgebahrt gelegen hatte. Zwar hatte sie sich von dessen Existenz überzeugt, indem sie einen Blick auf den Leichnam warf, aber der Unterschied zwischen diesem und dem lebendigen, warmen Körper von Christoph, den sie noch kurz zuvor berührt hatte, machte dieses Unglück unglaubwürdig. Ihr Bruder hatte einen mattglänzenden Sarg aus dunkler Eiche bekommen, ein teures Stück, seinem Stand angemessen. Die Beschläge sahen aus wie Blütenranken, in poliertem Metall erstarrt.

    Magdalene kniete vor der Gruft nieder. Der Sarg stand in dunkler Tiefe. Es war der zweite von oben, inzwischen war der Sarg eines fremden Menschen daraufgestellt worden. Magdalene konnte das Relief der Metallbeschläge erkennen, wenn Licht hinfiel. Vor den Bögen bestand der Boden aus weichem Kies. Schon viele hatten hier gekniet, aber seit Jahren waren es eher die Verwandten der anderen Toten. Seit Jahren betete kaum noch jemand an Christophs Sarg.

    In den ersten Jahren nach dem Tod ihres Bruders war sie noch ein Kind gewesen und konnte sich in dieser Sache auf Anna verlassen, ihre Amme. Anna verbrachte jeden Sonntag einige Stunden hier, betete und weinte um den Jungen. Sie redete oft von ihm, so oft, dass es Magdalene zu viel wurde. Aber seit Anna tot war, hatte Magdalene mit niemandem mehr über Christoph gesprochen. Sie war seit Monaten nicht ein einziges Mal hier gewesen.

    In den ersten Jahren nach seinem Tod hatte sie jeden Abend auf eine kindlich-anhängliche Weise für ihn gebetet, aber das hatte sie nun schon lange nicht mehr getan. Andere Aufgaben beherrschten ihr Leben, und die Sorge um die Lebenden minderte die Kräfte, die sie für Gedanken an den Toten verwenden konnte. Sein Gesicht verblasste, und immer öfter fiel es ihr schwer, sich an Einzelheiten seines Aussehens zu erinnern.

    Sie stand auf und verharrte erstaunt vor dem Bogen. Während ihres Gebets, als sie den Blick schweifen ließ, war ihr etwas ins Auge gefallen. An Christophs Sarg, an der Ranke des Metallbeschlags, hing ein frisches Blumengebinde. Zartviolette Veilchen und Knabenkräuter leuchteten hervor. Sie blinzelte, sah ein zweites Mal hin. Nichts hatte sich geändert. Es hing eindeutig an Christophs Sarg und das Gebinde war frisch.

    Für den Sarg hatte ihr Onkel Conrad eine Menge Geld ausgegeben; er war aus dem teuersten Holz, das man bekommen konnte. In eine Platte war Christophs Name graviert. Darunter stand sein Geburtsdatum, der 17. Februar 1666, und am Ende in lateinischen Worten: gestorben von fremder Hand am 23. Juni im Jahr des Herrn 1685. Eine Efeuranke war von der Wand des Bogens bis in die Gruft hineingewachsen und hatte sich um den Griff des Sarges geschlungen, als wäre das Holz zum Leben erwacht.

    Ein Freund musste es sein, der das Blumengebinde zum Sarg gebracht hatte, der die Stufe hinabgestiegen war und die Blumen an den Kringel des Beschlags gesteckt hatte, wohin auch Anna früher Blumen gesteckt hatte. Das frische Gebinde konnte nur von Rudger stammen. Wer sonst sollte so viele Jahre nach dem Begräbnis noch Blumen zu einem Sarg bringen, in dem die Gebeine längst vermodert waren? Wer außer Rudger? Er war Christophs Herzensfreund gewesen. Außer Magdalene und Rudger gab es niemanden, der sich noch an Christoph erinnerte. Onkel und Tante waren strikte, sachliche Menschen und würden so etwas nicht tun. Weitere Verwandte hatten sie nicht, Anna war gestorben und die Pflicht zur Höflichkeit für Nachbarn oder Bekannte vorbei. Magdalene stand mitten im Rauschen des Regens vor dem steinernen Bogen und hielt die Hände gefaltet, und das Gebet wollte ihr auch jetzt nicht gelingen. Es war nicht der Sarg, es waren nicht die Blumen, die sie am meisten bekümmerten. Es war ihre eigene Schuld. Wie hatte sie Christoph so vergessen können? Seinen grausamen, ungesühnten Tod? Während sie daheim längst die Suppenschüsseln abräumten, lehnte Magdalene am Steinbogen der Gruft und hoffte auf die Rückkehr eines guten Gefühls, auf irgendeine Ausrede oder Ablenkung, etwas, das sie mit ihrem Versäumnis aussöhnte. Nichts davon wollte sich einstellen.

    Sie hielt die Augen geschlossen. Allmählich kehrten die alten Bilder wieder. Sie sah Christoph, wie er zur Zeit der größten Schrecken in ihrem Leben ausgesehen hatte: ein hoch gewachsener, schlanker Junge von sechzehn Jahren mit dichtem rotbraunem Haar, buschigen Brauen und wilden Augen. Christophs Augen, von blassem Grau wie ihre. Das blaue Halstuch, das er stets trug. Seine dunkle Stimme. Seine Hände waren größer als die aller anderen Menschen, die sie kannte, wie Schaufeln hoben sie alles mit Leichtigkeit an. Wenn er eine Hand auf ihre schmale Schulter legte, war ihr, als müssten ihre Knochen brechen. Seine Hand war ein Schutzwall um Magdalene, den es sonst nirgends gab. Es war sogar ein Schutzwall gegen die Pest.

    2. KAPITEL

    Das Grauen lag siebzehn Jahre zurück. Magdalene war ein kleines Mädchen gewesen, und kleine Mädchen vergessen eigentlich schnell. Aber die Schrecken dieser Zeit hatten sich so in ihr eingebrannt, dass sie sich an jeden einzelnen Tag genau erinnerte, an jedes gesprochene Wort, jede Geste. Die Pest erreichte die Stadt, und rings um die Familie Bertram starben immer mehr Menschen. Caspar Bertram, Magdalenes Vater, wohnte mit seiner Familie am Trödel, unweit des Alten Marktes. Er besaß eines der schmalen Bürgerhäuser, das mit der Traufseite zur Straße stand und zu dessen Eingangstür zwei Stufen hinaufführten. Wenn Anna zur Wasserkunst ging, brachte sie jedes Mal neue Nachrichten mit, wer gestorben war. Anfangs kroch mit jedem Namen das Entsetzen in die Kehlen: Der auch? Und die?

    Frau Elisabeth, Magdalenes Mutter, saß mit den beiden Kindern schreckensstarr in der Küche und wagte sich nicht hinaus, denn was man hörte, gab jeden Tag mehr Anlass zur Sorge. Erwachsene, gesunde und starke Menschen starben an der furchtbaren Krankheit, nicht nur kleine Kinder und Alte. Auch Anna ging bald nicht mehr hinaus, weil sie vor lauter Angst schweißnasse Hände bekam, sobald sie an der Tür stand. Sie holte das Wasser nachts, heimlich, um niemanden zu treffen. Sie mochte keine neuen Namen hören, sie mochte nicht wissen, wen sie nie mehr grüßen würde.

    Caspar Bertram ging seinen Geschäften nach, solange er konnte, aber er vermied Gänge in Menschenansammlungen. Sie besaßen nur noch wenige Vorräte zum Essenkochen; selten brachte Anna über sich, einem Händler die Tür zu öffnen. Ohnehin waren die Preise unerhört gestiegen. Die Leute horteten, was sie bekommen konnten. Das Gerücht kursierte, es gäbe bald kein Mehl mehr, und daraufhin gab es tatsächlich kein Mehl zu kaufen, weil jeder zu Hause die Säcke versteckte. Niemand fand mehr Eier zu kaufen, als hätten die Hühner plötzlich das Eierlegen eingestellt. Die Händler labten sich, schimpfte der Vater, an der Knappheit. Man behauptete, jede Wirtschaft sei zum Erliegen gekommen. Das war nicht ganz die Wahrheit, denn nach wie vor gab es Wagemutige, die kauften und verkauften, aber die bestimmten die Preise.

    Monatelang saß die Familie in der Küche, betete dieselben Psalmen und hoffte, dass Gott ein Einsehen hatte und die Seuche zu Ende brachte. Im Herbst des Jahres 1681 blieb die Zahl der Toten noch überschaubar und nährte die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Seuche. Der Glaube an das Bestehen der schweren Prüfung wuchs, weil es sich bei den Verstorbenen vorwiegend um Leute aus den Häusern an der Saale handelte, wo das Bettelvolk wohnte. Die Hoffnung trog. Es war lediglich der Kälteeinbruch des Winters, der die Zahl der Toten in Grenzen hielt. Der Beginn des Frühlings im darauffolgenden Jahr 1682 entfachte die Krankheit mit aller Macht, als würde sie mit dem Grün aus der Erde wachsen.

    Magdalene war in diesem Frühling neuneinhalb Jahre alt. Sie hörte ihren Vater in einem leisen, aber bestimmten Tonfall sagen, dass sie aufs Land gehen sollten, in das Dorf Beesen, wo der Bruder ihrer Mutter einen Hof bewirtschaftete. Magdalene war erleichtert. Hinaus! Fort von der düsteren Stimmung in der Stadt, sich endlich bewegen! Das Herumspringen vermisste sie am meisten, weil der Vater sie seit Wochen nicht aus dem Haus ließ. Seit Wochen hatte sie keines der Nachbarskinder gesehen, nicht ein einziges Mal Verstecken oder Hüpfen gespielt. Zu dritt verließen sie ihr Zuhause am frühen Morgen eines Sonntags im April und wanderten durch die leeren Straßen, jeder ein dicht gewickeltes Bündel

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