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Almas Rom: Eine Puschlaver Familiensaga
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Almas Rom: Eine Puschlaver Familiensaga
eBook501 Seiten5 Stunden

Almas Rom: Eine Puschlaver Familiensaga

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Über dieses E-Book

Eine Puschlaver Familiensaga
Rom, 1911. Die 17-jährige Alma, Tochter von Puschlaver Auswanderern, fühlt sich als Römerin und ist untröstlich, als der Arzt ihrem ernsthaft erkrankten Vater die Rückkehr in dessen Heimat nahelegt. Denn nicht nur will sie die Stadt und ihre Freundinnen nicht verlassen, auch Antonio, der Zeitungsverkäufer, ist ihr ans Herz gewachsen.
«Almas Rom» ist eine Geschichte über Emigration und Rückkehr und die bleibende Sehnsucht nach der Ewigen Stadt, eine Familiensaga zwischen Überlieferung und Fiktion, die für manches Frauenschicksal jener und wohl auch der heutigen Zeit steht.
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum24. Sept. 2018
ISBN9783858302410
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    Buchvorschau

    Almas Rom - Patrizia Parolini

    ROMA

    I

    Alma brach die Schale auseinander. Ihre Finger brannten. Sie roch den rauchigen Duft der gerösteten Kastanie und hörte die ciociari – die Bauersleute aus der Ciociaria –, wie sie unter den Arkaden entlang der Piazza weiter riefen: «Calde e arroste, calde e arroste! – Heisse Marroni, heisse Marroni!»

    Es war ein kalter Januartag im Jahr 1901. Die Verkäufer sassen eingehüllt in abgetragene Jacken und dicke Decken hinter ihren Röstöfen, neben Körben voller Edelkastanien und aufgeschichteten Holzscheiten für das Feuer. Alma trug ihren rostroten Wollmantel und die weisse Strickmütze, unter der ein zartes, blasses Gesicht mit schmalen Augen und dunkelbraune, gewellte Haare hervorschauten. Während sie auf die Kastanie in ihrer Hand pustete, schaute sie zu, wie der ciociaro vor ihr seinen Atem in die Hände hauchte, um sich zu wärmen. Es waren grosse, abgearbeitete Hände mit russigen Fingern.

    Anna, die Mutter, hatte Alma vom Institut an der Via Buonarroti und Romeo von der Sonderschule an der Piazza Pepe abgeholt. Sie hatte die centesimi abgezählt, die Tüte entgegengenommen und die caldarroste an ihre Kinder verteilt, an Alma, Romeo und die kleine Amelia. Neben ihr stand der Kinderwagen, in dem Attilio schlief, das fünf Monate alte Brüderchen. Alma kratzte das haften gebliebene Stück dünne, haarige Haut von der Frucht und steckte diese in den Mund. Mehlig zerfiel das Fruchtfleisch auf ihrer Zunge.

    «Meine grosse Schwester hatte gestern Geburtstag!», platzte Romeo voller Stolz heraus.

    «Wie alt bist du denn geworden?», brummte der Mann mit dem gegerbten Gesicht, musterte Romeo und fuhr mit der Kelle durch die Kastanien in der Röstpfanne.

    «Sieben!», antwortete Alma schüchtern.

    Die kleine Amelia stellte sich selbstbewusst vor den Verkäufer hin und streckte ihm drei Finger entgegen: «Tre!»

    «Hmm! Kommt her!» Mit seiner Kelle legte er jedem der Kinder eine zusätzliche Kastanie in die Hand. «Ihr müsst blasen, sie sind sehr heiss!»

    «Danke!», freute sich Alma und liess die Kastanie von einer Hand in die andere rollen, bis sie nicht mehr brannte auf der Haut.

    Langsam gingen sie die Via Leopardi hinunter. An der Mündung in die Via Merulana warteten sie, bis die carrozze – die Kutschen – und die von Pferden gezogene Tramway vorbeigerattert waren. Dann überquerten sie die breite Strasse und standen vor der Bar von Vater und zio Edgardo.

    II

    Kaffeeduft steigt mir in die Nase. Spirituosen stehen auf dem beleuchteten Glasregal an der Wand. Campari, Fernet-Branca, Ramazotti. Mein Blick schweift zur Kasse, zur Vitrine mit den gefüllten cornetti und hinaus zu den Tischen auf dem Gehsteig unter dem dichten Blätterdach der ahornblättrigen Platanen. Italienische Popmusik ertönt aus dem Hintergrund. Die Serviererin stellt mir die Tasse hin. Unter dem röstbraunen Schaum ist der Kaffee nachtschwarz. Mit der Hand streiche ich über die grünlich gläserne Theke. Das ist sie also, die Kaffeebar, die einst Cristoforo und Edgardo, meinem Urgrossvater und dessen Bruder gehört hatte. Der Ort in Rom, wo das Leben von Alma, meiner Grossmutter, eine erste dramatische Kehrtwende erfuhr.

    Ich sehe mich, das sechsjährige Mädchen mit den Stirnfransen, an Almas Beerdigung – nicht in Rom, sondern im Puschlav. Wie ich auf dem engen Vorplatz stehe, rund um mich herum schwarz gekleidete Menschen, die sich begrüssen, flüstern, sich die Nasen schnäuzen. Und mittendrin stand der Sarg. Ich wusste, etwas Wichtiges war passiert, und ich wollte dabei sein. Doch so sehr ich mich auch gewehrt hatte, ich weiss noch genau, ich hatte nicht mitgehen dürfen.

    Vage erinnere ich mich, dass auch die zie aus Rom da gewesen waren, die Nichten von Alma. Sie kamen beinahe jeden Sommer hinauf in das Bergtal und schwärmten immer von der aria genuina – der gesunden Bergluft. Sie waren klein, elegant gekleidet und voller Temperament. Meine Schwestern und ich freuten uns, die drei Tanten zu sehen, denn sie gingen jedes Mal mit uns in das Café an der Piazza. Wir Kinder waren wild auf die gelati, die es dort gab, weil man sie so, frisch in der Waffel, nicht bekam an unserem Wohnort in der Deutschschweiz.

    Auch wir verbrachten die Sommerferien im Puschlav und nicht etwa am Meer wie meine Schulkameraden. Deshalb war mir Italien kein Begriff, bis ich zum ersten Mal nach Rom reiste und mich in einer verrückten, verkehrsverstopften Stadt wiederfand. Ich war siebzehn und entsetzt darüber, dass abends, wenn wir uns die Nasen putzten, sich die weissen Taschentücher schwarz färbten. Ich weiss auch noch, wie meine Schwestern und ich auf dem Rücksitz des roten Topolino sassen. Am Steuer die zia. Wir brausten über die Piazza Venezia. Ich staunte über das riesige, blendend weisse Monument. Die Tante nannte es spöttisch die «Schreibmaschine». Später raste sie über eine Kreuzung, obwohl die Ampel bereits auf Rot gesprungen war. Sie wollte die andere Tante und unsere Eltern, die vorausfuhren, im Chaos des römischen Stadtverkehrs auf keinen Fall verlieren. Wir Kinder kreischten, vor Schreck und vor Übermut. Und jetzt, zwanzig Jahre später, bin ich zum zweiten Mal in Rom. An der Piazza Venezia habe ich festgestellt, dass die «Schreibmaschine» anders aussieht als in meiner Erinnerung. Auf dem verkehrsberuhigten Platz ist jetzt ein grasbewachsener Kreisel, Sigthseeingbusse und Reisecars fahren heran, Touristen flanieren auf der autofreien Strasse, die zum Kolosseum führt. Meerkiefern spenden Schatten. Das Vittoriano ist eine gigantische Säulenreihe mit Treppen, Balustraden und Ornamenten und der bronzenen Reiterstatue von König Vittorio Emanuele II in der Mitte. Das Weiss des Marmors hebt sich ab vom Rostrot der anliegenden Palazzi. Nach dem Willen der Erbauer sollte das Denkmal zur Ehre des neuen, geeinten Italiens alle bestehenden Wahrzeichen der Stadt überstrahlen. Heute wirkt es fremd und selbstgefällig.

    Mit dem Lift bin ich auf das Dach des Monuments hinaufgefahren, um die Stadt von oben zu sehen. Ein Foto in einem Schaukasten auf der Zwischenterrasse zeigt Szenen der Einweihung: ein schwarzes Meer von gedrängt stehenden Menschen und gehissten Fahnen. Jeder Zwischenraum, jeder Vorsprung und sogar das Dach ist von Feiernden besetzt. Man sieht den klein gewachsenen König Vittorio Emanuele III flankiert von den corazzieri – den gross gewachsenen Soldaten seiner Leibgarde. Ich habe mir vorgestellt, wie die Leute damals, von der Piazza aus, nur den hohen Zylinder sahen, wie er sich hob und senkte mit jeder Stufe, die der König emporstieg, im Takt mit den hin- und herpendelnden Rosshaarschweifen auf den Helmen der Gardisten, und wie deren silbrige Brustpanzer glänzten und die Reitersäbel rasselten. Man hatte die Einweihung des Vittoriano im Jahr 1911 zum Anlass genommen, Cavour, Mazzini und Garibaldi und das fünzigjährige Bestehen des italienischen Nationalstaats zu feiern.

    Rom, Blick vom Vittoriano in Richtung Kolosseum, im Hintergrund die Basilika San Giovanni in Laterano und die Albaner Berge, 2012.

    Das war das Jahr gewesen, in dem Alma Rom hatte verlassen müssen. Mit siebzehn Jahren. Ich denke nicht, dass sie bei der Einweihungsfeier dabei gewesen war. Die Puschlaver Auswanderer hielten, sofern sie denn katholisch waren und nicht reformiert, dem Papst die Treue. Und Kirche und Königreich waren sich spinnefeind. Aber bestimmt war die ganze Familie zur Gelateria Fassi gefahren, die an diesem besonderen Tag des Monats Juni allen Kindern ein Eis frei ausgegeben hatte.

    III

    Nervös strich sich Cristoforo mit der mageren Hand über den Schnurrbart und zwirbelte ihn nach oben. Er eilte voraus, um am Largo Brancaccio nach einer freien Kutsche Ausschau zu halten. Alma und Pietro, der fünfjährige Bruder mit den pechschwarzen Locken, hielten mit ihm Schritt. Der Vater schaute seine Tochter an. Sie war mittlerweile fast so gross wie er. Angst, dass ihm nur noch wenig Zeit verbleiben könnte, regte sich in ihm. Fahrig zeigte er auf die Ankündigung der Einweihungsfeier an der Plakatsäule und erklärte, mit dem Bau des Vittoriano habe man begonnen, kurz nachdem er in Rom angekommen sei. Damals habe er in der Nähe gewohnt, und ja, den Kapitolshügel habe er noch gesehen, bevor man ihn abzutragen begann. Das sei auch die Zeit gewesen, als man die Piazza in ihrem Quartier erstellt habe, die Parkanlage, ebenfalls zu Ehren des verstorbenen Königs.

    «Ah!» Alma nickte.

    Vater sprach von einer Vergangenheit, für die sie keine Bilder hatte. Ihr Quartier, das war die Peripherie Roms. Dort, wo all ihre Freundinnen lebten. Die meisten waren Töchter von Landsleuten ihrer Eltern. Von Zugezogenen. Aber Herkunft hin oder her: Sie war Römerin, und die Stadt war ihr Zuhause. Hier würde sie eine Liebe finden, heiraten und Kinder haben. Keines würde früh sterben müssen, weil es für sie alle nur die beste medizinische Versorgung geben würde. Sie würde ins Kino gehen und in den grandi magazzini Kleider kaufen. In der Stube ihrer Wohnung würde ein Grammophon Musik abspielen, und sie würde Fahrrad fahren. Und wenn sie dann einmal ganz alt sein und sterben würde, sollten ihre Kinder sie auf dem Campo Verano begraben.

    Zia Ludovica, Vaters ältere Schwester, und Anna, die Mutter, hatten sie eingeholt. Die Tante hielt keuchend an und strich sich weisse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Giacomo schmiegte sich an die Mutter. Wie immer. Mammà, dachte Alma, ist das Gegenteil von Vater. Ein kleiner, fülliger Körper und energische Hände, ein schönes rundliches Gesicht. Vater und Mutter kamen aus der Schweiz, aus dem südöstlichsten Zipfel des Landes, der an Italien grenzte. Das winzige Dorf, steile Berge und der ewige Schnee auf den höchsten Gipfeln tauchten in ihrer Erinnerung auf.

    Sie war ein einziges Mal dort gewesen. Im Sommer 1900, als Attilio auf die Welt gekommen war. Sie sah das ärmliche Haus der Grosseltern am Fuss des Berges und die Tiere. Sie hatte sich vor den Kühen gefürchtet, aber sie spürte noch, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie die Schafe hatte streicheln dürfen. Deren Wollkringel waren nicht weich gewesen, sondern rau und fest.

    Sie zuckte zusammen und packte Pietro an der Hand. Vor ihr schrien und winkten Attilio und Irene aufgeregt einem herannahenden Kutscher zu. Pietro riss sich von ihrer Hand los, und Folco, der in der Hocke Kieselsteinchen vom Boden aufgelesen hatte, sprang auf. Vater hob beide in die Kutsche, drückte Anna einen Geldschein in die Hand, sagte: «Ciao, bambini!» und wandte sich hastig ab. Er musste zurück an die Arbeit.

    Zia Ludovica nahm Folco, den Jüngsten, auf ihren Schoss, Mutter Pietro, den Zweitjüngsten. Die anderen Kinder kletterten ebenfalls in die Kutsche. Als Letzter, wie immer, und mit der Hilfe von Alma, Romeo. Der sechzehnjährige Bruder, der versehrte Junge im Kind gebliebenen Körper.

    Sie sassen zusammengepfercht und schwitzten. Zum Glück hatte sich die Sonne hinter weissen Schleierwolken versteckt. Er Ponentino – die frische Brise vom Tyrrhenischen Meer her – wehte wohltuend durch die Strassen. Pietro beugte sich zu Folco hinüber und stupste ihn.

    «Bleibt ruhig, Kinder, sonst wird mir schlecht!» Mutter zog Pietro zurück und warf Folco einen warnenden Blick zu.

    Sie ratterten durch die Via Nazionale, den hohen, stattlichen Palazzi entlang, vorbei an flanierenden Fussgängern und durch das Durcheinander der Kutschen hindurch, die in alle Richtungen fuhren. Kurz vor der Piazza delle Terme liess der Kutscher die Pferde nach links in die Via Torino abbiegen. Das Gewicht der Familie hinauf zur Via XX Settembre zu ziehen, machte den Tieren zu schaffen. Vom Fontanone dell’Acqua Felice her streifte sie ein kühler Lufthauch. Dann bogen sie nochmals links ab und stiegen in der Via di Porta Salaria aus. Die Grande Gelateria Elettrica Siciliana di Giovanni Fassi war die modernste Konditorei und die beste Eisdiele der Stadt. Sie erreichten die grosse, laute Menschenmenge, die drängelnd vor dem Eingang stand. Missmutig stellte sich Alma mit den anderen zuhinterst an.

    «Mammà, ich will Eis!» Auch dem dreieinhalbjährigen Folco war die Warterei verleidet.

    «Es wird dir schmecken.» Mutter lächelte und strich Folco über die Wange.

    «Du hast ja keine Ahnung, was es gibt!», spöttelte Irene, die vier Jahre ältere Schwester.

    «Do-och! Fata bianca

    «Und was ist das?»

    «Eis!»

    «Macché! Die fata bianca ist eine Fee. Die rutscht in deinen Bauch hinunter und verzaubert dich.» Sie bohrte den Zeigefinger in Folcos Bauch.

    Dieser schaute mit grossen Augen an sich hinunter. «Aber ich will Eis!» Er packte ihren Finger.

    «Und wenn du verzaubert bist, kannst du fliegen.»

    «Ich komme mit ins Zauberland», warf Pietro eifrig ein. «Dann fliegen wir zu Pupi und Drago!» Er ruderte heftig mit den Armen.

    «Jaa!» Folco und Giacomo lachten aufgeregt.

    «So ein Blödsinn», kommentierte Attilio trocken die Begeisterung seiner jüngeren Geschwister.

    «Beh, pass du bloss auf! Wenn du Drago nicht magst, dann holt er dich!» Irene packte Attilio an den Schultern und fauchte ihn an.

    « Hör auf! » Bevor sich Attilio ihrem Griff entwinden konnte, stürzten sich Pietro und Folco auf ihn. Er rannte davon, um sie loszuwerden, die anderen drei hinter ihm her.

    Die Mutter schaute Alma an: «Gehst du?»

    Alma verzog das Gesicht und eilte widerwillig den Geschwistern nach. In Richtung Porta Salaria. Als sie zurückkehrten, stand Mutter mit Giacomo, zia Ludovica und Romeo im halbdunklen Innern des Lokals. Die Kleinen stellten sich vor den Glaskasten, der sie magisch anzog, und starrten mit glänzenden Augen in die aneinandergereihten Kübel mit den bunten Eissorten. Als die Kinder endlich die Waffel mit der schneeweissen, flaumigen Eiscreme in die Hand gedrückt bekamen, machten sie sich gierig über das zauberhafte dolce her. Innert weniger Augenblicke waren Münder und Hände verschmiert und Hosen und Jacken verkleckst.

    Später, nachdem sie die Hände an einem nahegelegenen Brunnen gewaschen hatten, bummelten sie die Hauptstrasse entlang und fuhren dann mit der elektrischen Tramway zur Piazza Santa Maria Maggiore. Auf dem von neu gepflanzten Platanen gesäumten Strassenstück bis zum Häuserblock, in dem sie wohnten, gingen sie zu Fuss.

    Schon bald tauchte Vaters Geschäft auf. Der Eingang befand sich in der Spitze des Winkels, dort, wo die Via Mecenate in die Via Merulana mündete. «Bar e liquoreria» stand darüber in goldgelben Buchstaben auf einem schwarzen Schild. Neben der Tür prangte eine Tafel mit dem weissen schwungvollen Schriftzug «Coca Cola» auf rotem Hintergrund. Ein brandneues kaffeebraunes Getränk, das, so hiess es, aufputsche und Kopfschmerzen lindere. Daneben die Werbung für Fernet-Branca mit dem Bild eines Adlers über einer Erdkugel, das Alma schon als kleines Mädchen fasziniert hatte. Der forno e drogheria – die Bäckerei mit dem Laden – befand sich rechts davon in der Via Mecenate, die Bar und das Eingangsportal zu ihrem Wohnblock links in der Via Merulana.

    Übermütig stiegen sie die Treppen hinauf und traten, durch die mittlere der drei Wohnungstüren, direkt in die Küche ein. Nazzarena, die Gouvernante, stand am Kochherd. Die schwarzen Röcke unter der weissen, spitzenbesetzten Schürze standen von ihren Hüften ab wie eine grosse Glocke. Ihr gutmütiges Gesicht war umrahmt von dichtem, pechschwarzem Haar, das in einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden war. Nazzarena klatschte die Hände zusammen und starrte die Flecken auf den Sonntagskleidern der Kinder an: «Mamma mia!»

    Alma sah, wie sie mit sich rang und nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Bis Folco die Arme nach ihr ausstreckte, Nazzarena ihn auf den Arm nahm und die anderen Kinder, lachend und schimpfend zugleich, ins Badezimmer dirigierte. Derweil erzählten ihr diese schwärmend von den Zauberkünsten der fata bianca und der Fahrt mit der Tramway.

    Alma verschwand unbemerkt in ihr Zimmer.

    IV

    Über die Via Cavour habe ich die Basilika Santa Maria Maggiore erreicht. Dahinter beginnt die Via Merulana. Sie führt schnurgerade zur Basilika San Giovanni in Laterano hinunter. Von dort aus sind, über die Aurelianischen Stadtmauern und die Bogen der antiken Wasserleitungen hinweg, die Albaner Berge sichtbar. Im oberen Teil der Via Merulana steht der Palazzo Brancaccio. Hinter ihm erstrecken sich dessen riesige Gartenanlage und die Reste der Trajansthermen. Weiter unten befindet sich das Goldene Haus von Kaiser Nero im Parco del Colle Oppio mit seinen hohen Palmen und Zypressen, der zu einem meiner Lieblingsorte in Rom wird. Von da aus sieht man das Kolosseum unten am Fuss des Hügels, das seit fast zweitausend Jahren, zwar halb zerfallen, doch immer noch aufrecht dasteht. Im Rücken des Vittoriano.

    Ich hatte den Stadtplan genau studiert. Nach dem Palazzo Brancaccio musste die Kaffeebar sein. An der Ecke zur Via Mecenate. Ich war aufgeregt, neugierig, und ich brauchte einen starken caffè. Den ich jetzt in zwei Schlucken hinunterstürze. Das dazu servierte Wasser ist frisch und gut. Ich behalte das kühle Glas in den Händen, bestelle einen zweiten Kaffee und setze mich draussen an einen Tisch. In meinem Blickfeld der Hauseingang. In den Blättern über mir das Rascheln des Windes.

    Wann hatte ich gemerkt, dass ich nichts wusste von Alma, meiner Grossmutter? Ausser an die Beerdigung habe ich eine einzige ferne Erinnerung an eine zerbrechliche Gestalt, die in der Küche sass, in einem Sessel, eine selbstgestrickte Decke über den Knien, und nie sprach. Wie ein verblasstes Foto, auf dem nur noch die Umrisse erkennbar sind. Wie konnte ich mehr über sie erfahren, über den Ort und die Zeit, in die sie hineingeboren worden war? Solange ihre jüngeren Geschwister noch lebten, hätte ich diese fragen können, doch als Jugendliche interessierte mich das alles nicht. Warum denn jetzt diese Suche nach den Vorfahren? Hatte die Krankheit diese Sehnsucht ausgelöst? Die Erfahrung, physisch und psychisch an Grenzen zu stossen? Das Ringen nach Halt im Zerfleddern des Körpers, im bodenlosen Dahinfallen der Seele? Eine Ahnung der Endlichkeit des irdischen Lebens, die mich aufrüttelte?

    Rom, Stadtplan (Ausschnitt)

    aus Baedeker, Karl: Handbuch für Reisende, Mittelitalien und Rom, Leipzig, 1908.

    Ich bemerkte auch, dass Alma auf keinem meiner Kindheitsfotos abgebildet ist. Nur der weisshaarige Attilio. Warum nur? Hatte sie nicht dabei sein wollen an meiner Erstkommunion? Oder hatte man sie nicht eingeladen? Ich war entrüstet. Sie war halt alt. Aber Grossmütter sind alt! Ich begann, Fragen zu stellen. Meinem Vater, seiner Schwester und seinem Bruder, Almas Kindern.

    Und jetzt bin ich da, um den Ort und die zie erzählen zu lassen.

    Auf einmal fällt mir auf, dass andauernd Leute auf die Klingelknöpfe am Hauseingang drücken und dann das hohe Eingangsportal aufspringt. Wenn auch ich das Haus betreten könnte? Ich fasse mir ein Herz und beschliesse, die Nächsten, die eintreten, anzusprechen. Es sind zwei junge Männer, die zu meiner Überraschung sehr zuvorkommend reagieren und mich, als ich den Grund für mein Hiersein schildere, mit hinauf nehmen. Die Wohnung im ersten Stock habe ein Chinese gekauft und daraus eine Pension gemacht, erzählen sie mir. Und, was für ein Zufall, einer der jungen Männer ist der gerente – der Geschäftsführer. Ich darf einen Blick in jedes der zahlreichen hohen Zimmer werfen, in die Küche, in den engen Innenhof. Ich kann fast nicht fassen, dass ich so unverhofft in Almas Wohnung stehe. In Cristoforos Wohnung. Für andere Enkelkinder mag dies eine Selbstverständlichkeit sein. Ja, im Haus der anderen Grossmutter ging ich auch jahrelang ein und aus. Aber j etzt bin ich sprachlos und emozionata, molto emozionata.

    V

    Die Absätze seiner Schuhe klopften auf das Kopfsteinpflaster. Im gleichen Takt hämmerten sich die Worte in seinen Schädel: «Cristoforo, du bist krank, schwer krank. Du bist krank, …» Er kehrte von der Sprechstunde zurück. Der Hausarzt in seinem weissen Kittel hatte von esaurimento gesprochen, Erschöpfung. «E-sau-ri-men-to, e-sau-ri-men-to, …», dröhnte es in seinem Kopf, und er fürchtete, die ganze Stadt könnte die Diagnose mithören. Sein Magen war flau, seine Schritte schwer und langsam.

    Dottor Venditti hatte ihm noch drei Monate gegeben. «Du musst aufhören, hörst du!»

    Das war gnadenlos. Drei Monate! Dottor Vendittis Hand auf seiner Schulter war ein Hohn gewesen, keine Aufmunterung, wie er es vielleicht gemeint hatte. «Kehr zurück in die Heimat! Die Bergluft wird dir gut tun.»

    Zurück in die Heimat? Cristoforo lachte auf, der Arzt hatte gut reden. Was sollte er dort? Wie sollte er sieben Kinder durchbringen? Seine Existenz in Rom aufgeben? Und wenn er trotz allem nicht genesen würde? Ein kalter Schauer raste über seinen Rücken. Die Härchen seiner Unterarme stellten sich auf. Es protestierte in ihm. Das ist nicht wahr! Das will ich nicht! Er schüttelte sich.

    Die letzten Sonnenstrahlen waren die Hausfassaden hinaufgekrochen und schwanden über der Stadt, als Cristoforo am Haustor anlangte. Er legte seine Hand auf das warme Holz und lehnte seine Stirn daran. Über ihm der Türklopfer, ein grimmig blickender bronzener Teufelskopf. Ihm war schwindlig, und trotz der Hitze fror er am ganzen Körper und zitterte. Mücken sirrten um seine Ohren, ihm fehlte die Kraft, sie fortzuscheuchen. Auf einmal tauchte Anna auf in seiner Erinnerung. Wie sie sich an ihm vorbeidrückte. Ihr noch schlanker Körper an seinem ausgestreckten Arm, mit dem er ihr das Eingangstor aufhielt. Ihr Eau-de-toilette hatte nach Zitronenblüten geduftet. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Cristoforos Lippen. Er sah, wie sie lachte und davoneilte ins dunkle Innere. Am Treppenabsatz hatte er sie eingeholt, ihre Hand gestreift und war dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinaufgestürmt. Auf dem Boden des ersten Stockwerks hatte er sich mit einem beschwingten Hüpfer zu ihr hingedreht.

    Und jetzt schleppte er sich hinauf, von Stufe zu Stufe. Die rechte Hand krampfte sich um den Handlauf des Treppengeländers. Er versuchte, seiner weichen Knie Herr zu werden. Nichts war mehr da von der sprühenden Kraft seiner Jugend. Von der Begeisterung von damals, im Dezember 1892, eine Woche nach seiner Hochzeit mit Anna. Mit ausgebreiteten Armen hatte er auf sie gewartet, während sie, ihre langen Röcke raffend, erwartungsvoll die letzten Stufen hinaufgestiegen war.

    Das Haus war einige Jahre davor erbaut worden, mitten in den goldenen Jahren des römischen Baubooms. Es war sehr modern gewesen. Die Küche war mit einem neuartigen Holzkohleherd mit drei Kochvertiefungen und Grillgitter ausgestattet, es gab fliessendes Wasser in Küche und Bad und überall elektrisches Licht. Anna hatte gegluckst vor Freude. Voller Stolz hatte er ihr die neue Wohnung vorgeführt. Es war ja schon ein bisschen verrückt gewesen. Nach seiner Ankunft in Rom hatte er sich mit dem Einsammeln von Zigarettenstummeln für wenige centesimi über Wasser gehalten, vierzehn Jahre später hatte er sich den Kauf dieser Wohnung leisten können.

    Siebzehn war er gewesen, als er das elterliche Dorf zusammen mit seinem älteren Bruder Edgardo verlassen hatte. Ohne Mittel waren sie, die beiden jüngsten von elf Geschwistern, dem euphorischen Ruf vorausgegangener Landsleute gefolgt. Froh, dass sie nicht nach Übersee hatten auswandern müssen wie die anderen Brüder. Sie waren nach Rom gereist mit der Bereitschaft, für ein besseres Leben auch ganz unten anzufangen, und mit dem unerschütterlichen Willen, es zu etwas zu bringen. Zehn Jahre später hatte das Geschäft im Erdgeschoss des Neubaus ihm und seinem Bruder gehört: Bar e liquoreria, forno e drogheria – Bar, Bäckerei und Gemischtwarenladen.

    Später war die Zweigstelle in der Via Macchiavelli dazugekommen. Eisern hatte er weiter gespart, um auch die Wohnung im ersten Stock zu erwerben und sich dann in der Heimat eine Braut zu holen. Inzwischen war Edgardo mit Rosa, seiner Frau, und den Kindern ins Puschlav zurückgekehrt, und Clemente und Tiziano, die Söhne seiner Schwester Ludovica, waren ins Geschäft eingestiegen. Seit seiner Ankunft in der pulsierenden Stadt waren dreiunddreissig Jahre vergangen. Anna hatte ihm neun Kinder geboren, zwei waren viel zu früh gestorben, was ihn sehr bekümmert hatte. Romeo hatte es knapp geschafft. Die anderen waren gesund und munter. Die Kinderschar war, auch wenn sie zuweilen Nerven kostete, sein Ein und Alles. Gleich würden sich die marmocchi – die Kleinen – schreiend auf ihn stürzen, und Giacomo, Pietro und Folco würden darum ringen, seine ganze Aufmerksamkeit zu bekommen.

    Cristoforo gab sich einen Ruck, als ob er seine Müdigkeit abstreifen wollte, strich über seinen Schnurrbart und trat ein, durch die mittlere Wohnungstür in die Küche. – Und alles blieb still. Ach ja, ein mattes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Wie hatte er es vergessen können! Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Kinder waren noch mit Nazzarena in Gavignano bei deren Familie. Würde er sie wiedersehen? Sein Magen krampfte sich zusammen.

    VI

    Gavignano war ein Kaff. Alma hasste den Ort. Diese Handvoll dicht aneinander, in die Höhe gebauter steinerner Häuser auf dem steil abfallenden felsigen Hügel. Zuoberst stand der stolze Turm des Baronspalastes, der alles überragte, weiter unten der weissgetünchte Turm der Pfarrkirche, noch weiter unten eine weitere Kirche am Fuss einer langen, steilen Freitreppe. Brunnen gab es keine, fliessendes Wasser schon gar nicht, nur sogenannte pozzi – Tonnen aus Blech oder Holz zum Auffangen des Regenwassers. Das Trinkwasser musste unten in der Ebene geholt werden. Die kräftigsten Frauen des Dorfes trugen es in verzinnten Kupferkrügen, die sie auf dem Kopf balancierten, den weiten Weg ins Dorf hinauf. Almas Geschwistern gefiel es in der Ciociaria, diesem ärmlichsten Provinznest südlich von Rom, in das die Eltern sie zur Hochsommerzeit mit Nazzarena, der Gouvernante, schickten. Dann, wenn in der Stadt die canicola – die Hundstage – herrschten, und man sich nur morgens und abends aus den tagsüber abgedunkelten Wohnungen hinauswagte.

    Alma hingegen sehnte vom ersten Tag an den letzten herbei. Da halfen auch die Bücher, die sie hatte mitnehmen dürfen, und die Comics der Kleinen, die sie aus lauter Langeweile bereits mehrmals gelesen hatte, wenig.

    Wenn zumindest sie nicht mehr hätte hierherreisen müssen! Doch mit Vater war nicht zu reden gewesen. Heftig rückte Alma den Stuhl vom Esstisch weg. Sie war aufgeregt, wenn sie daran dachte, dass sie in wenigen Tagen endlich nach Hause fahren würden. Die verstörende Beklemmung der letzten Wochen wich einer leisen Zuversicht, ja beinahe Heiterkeit. Sie wischte die Brotkrümel von ihrer weissen Bluse und dem knöchellangen braunen Arbeitsrock und zwang eine Strähne ihrer dunkelbraunen Haare, die sie zu einem Knoten zusammengebunden trug, in eine Haarspange. Dann packte sie den Stapel leergegessener Teller und stürzte damit aus dem Wohnzimmer in den Flur, als könnte sie, wenn sie sich nur genügend schnell bewegte, die Zeitspanne bis zur Rückfahrt verringern, und prallte unversehens mit Romeo zusammen, der mit der Früchteschale in den Händen aus der Küche kam. Ein schriller Schrei entfuhr ihr. Sie sah den Schreck in Romeos schräg stehenden, dunkelbraunen Augen. Dann klirrte und klapperte es. Teller zerbrachen auf den Steinplatten, Besteck tanzte über Scherben und Boden. Hunde bellten, Stimmen schwollen an im Wohnzimmer.

    «Mannaggia, was ist los?», hörte sie Nazzarenas alten Vater poltern. «Bringt das sofort in Ordnung!»

    Alma sah Irenes dunkelblonden Schopf im Türrahmen, ihr unterdrücktes Grinsen.

    «Holt den Besen!» Nazzarenas Mutter, eine kleine, verbrauchte Frau, stieg unverzagt über die Scherben hinweg. «Raus mit euch, bringt ja nicht eure Flöhe in unser Haus!», verscheuchte sie die neugierigen Nachbarskinder, die von der engen, steilen Gasse her zur offenen Eingangstür hereinguckten.

    Nazzarena eilte mit dem Besen herbei, ihre jüngere Schwester schickte die Kleinen energisch zurück an den Tisch.

    «Ihr seid ja unruhig heute!», schimpfte Nazzarena und schaute Alma vorwurfsvoll an. Diese stand bestürzt da und hielt unbeholfen die wenigen verbliebenen Teller vor sich hin.

    «Geh, Romeo!» Nazzarena schubste den Jungen vorwärts.

    Alma beobachtete, wie Romeo einen Fuss nach dem anderen über die hölzerne Türschwelle hob, die Früchteschale umklammerte, vorsichtig darauf bedacht, nicht zu stolpern. Dieser krumme Körper. Sie waren im selben Jahr auf die Welt gekommen. 1894. Sie im Januar, er im Dezember.

    «Hast du gehört, was ich gesagt habe?» Nazzarenas Stimme schwankte zwischen Ärger und Mitleid.

    Alma löste sich aus ihrer Starre und schüttelte den Kopf.

    «Trag die Teller in die Küche und bring mir den Putzlappen!»

    Alma stotterte leise eine Entschuldigung und verschwand in die Küche. Nazzarenas Schwester klaubte Tellerstück um Tellerstück und Gabeln und Messer vom Boden auf, Nazzarena wischte den Rest zusammen.

    Alma stellte die Teller ab. Sie musste sich setzen. Ihre Beine zitterten. Sie sah sich und Romeo, als sie noch klein waren, wie sie beide, ein Herz und eine Seele, mit ihren Stoffpuppen spielten, auf dem hölzernen Schaukelpferd wild hin- und herwippten oder mit einem Tuch um die Schultern als Verkleidung durch die Wohnung rannten, über die Treppe hinunter in den forno, durch die Bar und den Innenhof. Jemand hatte immer mitgespielt. Der Buchhalter, einer der Bäcker oder der Kellner hatte den Unbeholfenen gemimt und war ihnen hinterhergetapst. Und sie, aufgeregt kichernd, hatten sich auf und davon gemacht. Alma lächelte unwillkürlich.

    Auch auf die Dachterrasse ihres Wohnblocks hatten sie sich geschlichen, in den sechsten Stock hinauf, obwohl es ihnen strengstens verboten war. Und immer noch haute Romeo gern ab. Meistens besuchte er den Pferdefuhrhalter an der Porta San Giovanni, jenseits der Aurelianischen Mauern. Wie strahlte er dann vor Stolz, wenn man ihn mit der Kutsche nach Hause zurückfuhr!

    Nur vage konnte sich Alma an den Tag erinnern, als man Romeo notfallmässig ins Spital gebracht hatte. Mutter, die sonst nicht aus der Ruhe zu bringen war, hatte wie eine Furie reagiert und niemanden ins Zimmer gelassen. Der Bruder hatte mit hohem Fieber im Bett gelegen, unter Halluzinationen und Krämpfen gelitten, geweint und geweint und bei jeder Berührung aufgeschrien. Bis man ihn geholt hatte. Und dann, aus dem Spital, hatten sie die Diagnose bekommen: Meningitis. Alma hatte sich darunter nichts vorstellen können. Aber Romeo war von da an nicht mehr derselbe gewesen. Er war kaum mehr gewachsen und hatte sich nur noch langsam entwickelt. Obwohl beinahe siebzehn Jahre alt, hatte er den Körper eines Kindes und war nicht grösser als der elfjährige Attilio. In der Sonderschule an der Piazza Pepe hatte er ein bisschen Lesen und Schreiben gelernt.

    Wieder Nazzarenas Stimme. Alma tat einen tiefen Seufzer, stand auf, nahm den Putzlappen und brachte ihn Nazzarena. Dann machte sie sich ans Abwaschen. Sie goss das verbliebene Wasser, das im Kessel auf dem Holzherd dampfte, in das Waschbecken. Irene, Nazzarena und ihre Schwester halfen mit, die Küche aufzuräumen. Folco fütterte die Katzen. Später schaute Alma zu, wie die Buben und Nazzarenas Brüder die störrischen Ziegen, die sie vom Feld ins Dorf geholt hatten, die enge, steil abfallende Gasse zwischen ihrem und dem Nachbarshaus hinuntertrieben. Zusammen mit den beiden Eseln wurden sie in den Stall gebracht, der sich ein Stockwerk unter dem Wohnzimmer befand. Nazzarenas Familie lebte kärglich von den Tieren, etwas Getreide- und Gemüseanbau und dem Lohn ihrer Brüder, die in Weinbergen und Olivenhainen arbeiteten. Die Schwestern, die nicht in die Stadt gezogen waren, verrichteten Ammendienste, solange sie konnten, und verarbeiteten, Abend für Abend, Stroh, Seide und Wolle. Nazzarenas Mutter schloss die Gehege der Hühner und Gänse. Darüber breiteten sich die Äste des Wacholderstrauchs aus, der sich gegen den dunkelblau leuchtenden Himmel abhob wie ein klappriges, dorniges Gerippe.

    Auf den umliegenden Hügeln hockten wie Kappen andere kleine Dörfer. Der Klang der Kirchenglocken breitete sich über die Campagna aus. Der Ruf zum Angelus Domini.

    Bevor sie ins Bett geschickt wurden, durften die Kinder im Wohnzimmer noch etwas spielen. Alma und Romeo sassen am Tisch und setzten das abgewetzte Puzzle mit den Pferden zusammen. Am Hauseingang waren die Silhouetten von

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