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Ewig lockt die Ferne: Begegnungen mit Menschen und Tieren in fremden Ländern
Ewig lockt die Ferne: Begegnungen mit Menschen und Tieren in fremden Ländern
Ewig lockt die Ferne: Begegnungen mit Menschen und Tieren in fremden Ländern
eBook1.011 Seiten11 Stunden

Ewig lockt die Ferne: Begegnungen mit Menschen und Tieren in fremden Ländern

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Über dieses E-Book

Das Buch handelt von den Reiseerlebnissen des Ehepaares Szonn. In Alaska ziehen die Szonns mit dem Mountain Man John Luster in die Berge, im Sommer zu Pferd und im Winter mit Hundeschlitten. Sie beobachten Walrosse in der Bristol Bay, Moschusochsen in Grönland, Braunbären in Finnland und Grizzlybären am McNeil River und am Mikfik Creek in Alaska. In Nordkanada entpuppt sich ihr indianischer Bootsführer als Bärenjäger. Sie erleben den Scheinangriff einer Schwarzbärin. An der Hudson Bay kommt der Autor einem Eisbären sehr nahe. Sie begleiten ihre Freunde Syd und Sheila Youthed auf Safaris in die Kalahari und ins Okavango Delta. Sie treffen dabei auf Wilderer, wohnen einem Mokiti der Buschmänner bei, werden nachts von einem Löwen in Atem gehalten und treffen einen Elefantenflüsterer. Ein Ausflug zu den Berggorillas in Uganda bringt die Szonns an ihre physische Leistungsgrenze. In Indien erleben sie, wie eine Tigerin Beute macht. Sie finden den toten »Masti Gudi Tiger«, und sie begleiten den Tigerschützer Fateh Singh Rathore. Ein marodes Schiff bringt sie zur Galàpagos-Insel Floreana, wo sie die letzte Überlebende einer Inseltragödie besuchen. In Brasilien wagen sie sich in die Garimpos. Sie fotografieren Riesenotter im Manu-Nationalpark. In Argentinien werden die Szonns überfallen und ausgeraubt. Auf den Falkland-Inseln beobachten sie einen Seelöwen, der es auf Pinguine abgesehen hat. Im Kakadu National Park begegnen sie einem sehr australischen Ranger. Sie erfahren in der Mongolei die Gastfreundschaft der Nomaden, und sie spüren in der Wüste Gobi Dschiggetais auf. In South Dakota erleben sie ein Bison Round-up. Mit einem Großsegler nehmen sie an einem Törn in Französisch-Polynesien teil ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum10. Sept. 2021
ISBN9783754364130
Ewig lockt die Ferne: Begegnungen mit Menschen und Tieren in fremden Ländern
Autor

Bodo Szonn

Bodo Szonn wurde 1942 in Lübeck geboren. Nach dem Ingenieurstudium war er in Forschung und Entwicklung tätig. Bäuerliche und seemännische Traditionen in seiner Familie haben ihn früh auf Jagd und Pferde geprägt und mit Fernweh infiziert. Die Büchse hat er später gegen die Kamera getauscht. In über vierzig Jahren hat er mit seiner Frau Waltraut viele Wildnisse der Erde bereist. Seine Streifzüge haben ihn in nahezu 50 Länder geführt. Viele seiner Fotos von Tieren aus fernen Wildbahnen wurden in Zeitschriften veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Ewig lockt die Ferne - Bodo Szonn

    Botswana

    Wilddiebe und Springhasen (Sommer 1980)

    Eines Tages erhielten Waltraut und ich einen Anruf aus Botswana. In der Leitung hing unser Freund Syd Youthed, der zusammen mit seiner Frau Sheila in Gaborone ein Safariunternehmen betrieb. Syd war ein Mann, der nicht gern viel Worte machte. Und so kam er ohne lange Vorrede auch gleich zur Sache: »In zwei Wochen gehen Sheila und ich auf eine private Safari in die Kalahari. Wenn ihr mitwollt, müsst ihr euch jetzt entscheiden. Bei den Kosten für Kraftstoff und Verpflegung machen wir fifty-fifty.«

    Da Syd uns quasi die Pistole auf die Brust gesetzt hatte und wir uns ein großes Erlebnis auf keinen Fall entgehen lassen wollten, sagten wir unsere Teilnahme sofort zu, wohl wissend, dass wir uns mit dieser Entscheidung einen zähen Kampf um eine mehrwöchige Befreiung von unseren beruflichen Pflichten aufgebürdet hatten.

    Dank unseres festen Grundsatzes, Chancen und Träume nie der Karriere zu opfern, verfügten wir über die Durchsetzungskraft, mit der wir den Kampf für uns entscheiden konnten. Eineinhalb Wochen nach Syds Anruf befanden wir uns schon in Gaborone. Es vergingen noch ein paar Tage mit dem Herrichten der Fahrzeuge und dem Zusammenstellen der Ausrüstung. Nachdem wir das gemeinsam erledigt hatten, war unsere kleine Kolonne abmarschbereit.

    Die Tete bildete der Landcruiser. Syd hatte hinter dem Lenkrad Platz genommen, Sheila saß auf dem Beifahrersitz. Waltraut und ich hatten es uns im Fond bequem gemacht. Hinter dem Landcruiser hatte sich Georgie mit dem alten Bedford Truck aufgestellt, auf dem die Campausrüstung sowie die Wasser- und Kraftstoffvorräte verstaut waren. Georgie war ein Batawana aus dem Ngamiland im Norden Botswanas. Syd hatte ihn als Fahrer eingestellt und zu seinem Stellvertreter ernannt. Damit war Georgie auch so etwas wie das Mädchen für alles.

    Als die ersten Sonnenstrahlen die erfrischende Kühle des erwachenden Tages durchdrangen, als die erste Gurrtaube in einer Endlosschleife das Ende der Nacht besang, verließen wir Gaborone. Heia Safari! Auf nach Westen, auf in das lockende wilde Land hinter dem Horizont.

    Wir durchquerten den dank staatlich geförderter Land- und Viehwirtschaft prosperierenden Distrikt der Bangwaketse zwischen Kanye und Kokong. Dann fuhren wir durch den ariden südwestlichen Teil der Kalahari, wo die Bakgalagadi mehr schlecht als recht mit ein paar Ziegen oder Rindern und Sorghumhirse ihr Dasein fristeten. Schließlich hielten wir Einzug in das unbewohnte Land westlich der von den Bantu-Gesellschaften genutzten Gebiete.

    Nach ein paar Kilometern trennte sich Georgie von uns. Er bog mit dem Bedford in eine Schneise ein, die direkt zu unserem anvisierten Übernachtungsplatz führte. Wir vier im Landcruiser drangen weiter in die Wildnis vor, um nach Einständen von Wildtieren Ausschau zu halten. Während wir auf Erkundungstour waren, sollte Georgie schon das Camp errichten.

    Kilometer um Kilometer arbeitete sich unser Truck durch den losen Sand der Piste, zu deren beiden Seiten sich eine Welt ausbreitete, auf der noch der Tau der Schöpfung zu liegen schien. Dank der schweren Zugänglichkeit und des Mangels an Oberflächenwasser war dieser Teil Botswanas von menschlichen Eingriffen weitgehend verschont geblieben. Die Vegetation gedieh üppig und zeigte sich in satten Farben. Prächtige Kameldornbäume reckten ihre knorrigen Äste in den blauen Himmel. Dornbüsche posierten als stattliche Einzelpflanzen oder bildeten dichte Remisen, in denen Wildtiere Deckung fanden. Zwischen den Holzgewächsen breiteten sich Teppiche aus goldgelb glänzenden Gräsern aus, deren lange Halme sich in einem milden Lufthauch aus Südosten neigten. Ich musste an den auf Sesotho formulierten Leitspruch denken, den Syd und Sheila für ihr Safariunternehmen gewählt hatten: Naga ke mokgabo, auf Deutsch: Natur ist Schönheit. Bei der Kreation dieses Lobpreises musste wohl ein liebliches Stück Erde wie das Paradies, in das wir eingedrungen waren, Pate gestanden haben.

    Eine Safari durch den entlegenen Südwesten Botswanas war Anfang der 1980er-Jahre noch eine Unternehmung mit Expeditions-Charakter. Ein Abenteuer war sie allemal. Das sollten wir bald erfahren.

    Die einsame Savanne zog wie ein endloser Film an uns vorbei, und der Motor des Landcruisers brummte mit hypnotisierend wirkender Monotonie. Syd hatte sich voll und ganz auf das Fahren konzentriert. Sheila, Waltraut und ich waren in eine träumerische Versunkenheit gefallen, aus der wir erst durch die Geräusche hektischer Bewegungen herausgerissen wurden: Blätter raschelten, Zweige knackten, Äste krachten. Kurz danach vernahmen wir das Trommeln der Schalen von flüchtenden Huftieren. Und einen Moment später brachen sie auch schon aus einer Ansammlung von Dornbüschen hervor: Antilopen – anmutige Geschöpfe mit prallen, makellosen Leibern und seidig glänzenden schwarzen Hörnern. In wilder Flucht jagten sie in die offene Savanne hinaus. Zuerst eine Herde Streifengnus, dann ein Trupp Oryxantilopen, schließlich ein Dutzend Springböcke.

    Was die Tiere in Panik versetzt hatte, konnten wir so schnell nicht feststellen. Vielleicht Löwen, vielleicht ein Leopard. Wir wollten es genau wissen und hielten an. Und während wir mit unseren Augen das Unterholz nach Raubkatzen durchsuchten, peitschte völlig unerwartet ganz in unserer Nähe ein Schuss durch den Garten Eden. Ein gewaltiger Schreck fuhr uns in die Glieder und beraubte uns für einen Moment der Klarheit des Verstandes. Kaum hatten wir uns wieder gefangen, fielen kurz hintereinander zwei weitere Schüsse. Danach herrschte Stille.

    Der Vorfall hatte der Beschaulichkeit ein jähes Ende gesetzt. Zerstörerische Vorboten der Zivilisation hatten diesen entlegenen Ort des Friedens erreicht. Menschen mit Schusswaffen. Für Syd stand außer Zweifel, dass es sich um Wilddiebe handelte. Und Wilddieben hatte er den Kampf angesagt. Sie waren für ihn feige Lumpen, die ihren Finger auf alles krumm machten. Sie töteten Tiere, ohne Rücksicht darauf, ob sie geschützt waren oder nicht. Sie schossen einem Kalb ohne Skrupel das Muttertier weg, und sie scherten sich den Henker um die Nachsuche, wenn sie eine Kreatur krankgeschossen hatten. Syd war voll des Zornes gegen sie, und er schwor, den Schuften das Handwerk zu legen.

    »Poachers, bloody bastards!«, zischte er.

    Syd Youthed liebte keinen anderen Ort auf Erden so sehr wie die Kalahari. Sie war für ihn ein Überbleibsel des Garten Eden – ein Stück ungezähmtes Afrika, so ganz nach seinem Herzen. Syd liebte die endlose Dornbuschsavanne mit ihren zahlreichen Salzpfannen. Er liebte die schwarzmähnigen Löwen, die grazilen Springböcke und die majestätischen Oryxantilopen. Er liebte die buntschillernde Gabelracke und den Schrei des Go-away-Birds, und er liebte die Buschmänner und ihre gelben Grashütten, über die sich der große afrikanische Himmel spannte. Nach all den Jahren in Botswana war Syd selbst schon ein Teil der Kalahari geworden. Wenn jemand seinem Paradies Gewalt antat, dann empfand er es wie einen Angriff auf sich selbst. Und wehe, wenn der alte Dickschädel den Frevler erwischte, dann konnte der sich auf etwas gefasst machen.

    Vielleicht sollte ich an dieser Stelle die Geschichte, die sich im Jahre 1980 zutrug, kurz unterbrechen, um zu berichten, wer Syd und Sheila waren.

    Syd war damals 57 Jahre alt – ein schlanker, sehniger Kerl, fast einen Meter neunzig groß. Er hatte dünne rotblonde Haare, und sein von der Sonne Afrikas gegerbtes Gesicht zierte ein rötlicher Schnurrbart, mit dem er »very british« aussah. Syd war ein Kämpfer und Draufgänger, ein verlässlicher Freund. Jemand, mit dem man Pferde stehlen konnte.

    Sheila war zwei Jahre jünger als Syd. Sie war eine Persönlichkeit, eine allseits geschätzte Lady, gewandt und verlässlich, in ihrem Schaffensdrang nie ermüdend. Wo immer sie sich aufhielt, hob sie sich mit ihren gewellten silbergrauen Haaren fast majestätisch von der Umgebung ab. Und auf den Expeditionen in die Wildnis Botswanas war Sheila die gute Seele des Camps, die es ihren Gästen nie an etwas fehlen ließ.

    Syd und Sheila ergänzten sich in perfekter Weise – er Fieldwork, sie Campwork, mit verschwommenen Grenzen. Aufgewachsen im Pioniergeist der alten Tage, kapitulierten die beiden selten vor Schwierigkeiten. Ihr Blick war stets nach vorn gerichtet. Beide hatten ihre familiären Wurzeln im Vereinigten Königreich. Syd wurde 1923 in der Nähe von London geboren. Sheila kam 1925 im Königreich Zululand an der Ostküste der damaligen Südafrikanischen Union auf die Welt. Ihre Eltern waren wenige Jahre vorher aus Schottland dorthin ausgewandert.

    Abends am Lagerfeuer, wenn nach dem anstrengenden Gamedrive des Tages die Himmelslichter über dem Camp funkelten, ging Syd nichts über ein paar Dosen Lion Lager oder Castle Lager aus der Kühlbox. Sheila genoss ihren geliebten Scotch, gewöhnlich »with club soda«, manchmal auch

    »straight«. Kam es im Verlauf des Schwatzes dazu, dass Syd eine Begebenheit aus seiner Familienchronik zum Besten gab, stiegen in der Vorstellung der Zuhörer Bilder in Sepia auf.

    Sein Vater hatte in jungen Jahren als Ingenieur beim Bau der Eisenbahnlinie von Accra nach Sekondi in der damaligen britischen Kronkolonie Goldküste, heute Ghana, mitgewirkt. Die Gold Coast Colony war wegen des massiven Auftretens von Malaria als »White Man’s Grave« berüchtigt. Die Weißen hielten es dort ohne Unterbrechung meistens nicht länger als ein halbes Jahr aus. Dann mussten sie sich erst einmal genauso lange in England erholen. Anschließend gingen sie wieder zurück in die Kolonie. Syds Mutter war die erste weiße Frau, die damals in Accra lebte. Wenn sie ihr Haus verließ, wurde sie von zwei Afrikanern in einer stuhlförmigen Sänfte getragen, über die wie ein Baldachin ein Sonnensegel gespannt war.

    Und dann war da noch die Geschichte mit dem preußischen Adler. Im Ersten Weltkrieg drangen die Deutschen von Togo, das damals deutsche Kolonie war, mit der Eisenbahn in die Goldküste ein. Die Briten überfielen den Zug und raubten ihn aus. Syds Vater schraubte von mehreren Waggons die Hoheitsschilde mit dem preußischen Adler ab und behielt sie als Trophäen.

    Nach dem Ersten Weltkrieg lebten Syds Eltern einige Jahre in England. In dieser Zeit kam Syd zur Welt. Kurz nach seiner Geburt raffte das Schwarzwasserfieber, eine Komplikation der Malaria tropica, seinen Vater dahin. Syds Mutter fand einen neuen Lebenspartner. Einige Zeit später wanderten die Mutter und ihr Partner zusammen mit dem sich im Kindesalter befindenden Syd nach Südafrika aus, wo sie im Oranjefreistaat an der Grenze zu Basutoland eine Farm kauften und bewirtschafteten. Nachdem Syd zum jungen Erwachsenen herangereift war, machte er die Matura. Einige Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er noch zur South African Air Force einberufen und nach Italien beordert, wo man ihn zum Dienst als Heckschützen in einer Liberator verpflichtete. Nach dem Krieg nahm Syd an der Universität in Johannesburg das Studium der Agraringenieurtechnik auf. In dieser Zeit lernte er Sheila kennen, die sich im Johannesburg General Hospital zur Krankenschwester ausbilden ließ. Nachdem Syd seinen Masterabschluss erlangt hatte, half er zusammen mit Sheila eine Zeit lang auf der elterlichen Farm aus. Syd und Sheila heirateten im Jahre 1949 in Durban. 1952 zogen sie in die damalige britische Kronkolonie Basutoland, das heutige Lesotho. Bis zur Unabhängigkeit des kleinen Staates im Jahre 1966 führte Syd als Agraringenieur im Auftrag der Kolonialverwaltung Feldstudien für Bewässerungsprojekte durch. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Durchführung von mehrwöchigen Expeditionen mit Packpferden in die Malutiberge.

    Nach ihrer Zeit in Basutoland verlegten Syd und Sheila ihren Wohnsitz nach Botswana, dem ehemaligen British Betchuanaland, das ebenfalls 1966 seine Selbstständigkeit erlangt hatte. Dort trat Syd in den Dienst der neuen Regierung und war als Planer und Berater für Belange der Landnutzung und Wasserbewirtschaftung tätig. Danach hatte er ein Zwischenspiel als Professional Hunter bei der traditionsreichen Hunting Company Ker Downey and Selby in Maun. 1972 gründeten Syd und Sheila in Gaborone ein Safariunternehmen, das Safaris mit beweglichem Camp durchführte, und Jahre später waren sie wieder die ersten Pioniere, die im Moremi Wildlife Reserve im Okavango Delta ein festes Camp aus der Taufe hoben. Doch dann zeigte sich das Schicksal von seiner dunklen Seite und riss Syd im Jahre 1986 überraschend aus dem Leben. Sheila konnte das Camp allein nicht weiterführen und verkaufte es an einen befreundeten Interessenten.

    Wir hatten Syd und Sheila im Jahre 1978 in Botswana kennengelernt. Seitdem verband uns eine Freundschaft, wie sie sich wohl kaum ein zweites Mal in unserem Leben wiederholen wird.

    Aber zurück zur Geschichte!

    »Der Teufel soll die Bastarde holen!«, hörten wir Syd fluchen. Dann startete er den Landcruiser und jagte ihn über das holperige Gelände in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren.

    Plötzlich tauchte seitlich aus dem Busch ein weißer Kleinlastwagen auf. Ohne zu zögern, fuhr Syd ihm in die Quere und zwang ihn anzuhalten. Die sechs Insassen, drei Afrikaner und drei Männer indischer Abstammung, waren vor Überraschung wie paralysiert. Rasch nutzte unser Freund den günstigen Augenblick. Er stapfte entschlossen auf die Männer zu und forderte sie in harschem Tonfall auf, ihr Fahrzeug zu verlassen und ihre Jagdlizenz vorzuweisen.

    Syd war eine beeindruckende Erscheinung, und in seinem Kakidress konnte man ihn leicht für einen Beamten der Jagdbehörde halten. Er sprach fließend Sesotho, eine Sotho-Tswana-Sprache, und er war mit der Mentalität der indigenen Bevölkerung von Kindesbeinen an vertraut. Er war sich sicher, dass er die zweifelhaften Gestalten mit seiner Überrumpelungstaktik in die Defensive zwingen würde. Und genauso verhielt es sich auch: Sechs wehrhafte Männer stiegen eingeschüchtert aus ihrem Truck und überreichten dem vermeintlichen Jagdbeamten gehorsam ihre Jagdlizenz oder das, was sie dafür ausgaben.

    Jetzt wurden wir gewahr, dass sich auf der Ladefläche ihres Kleinlasters ein halbes Dutzend frisch erlegte Gnus und Oryxantilopen stapelten. Syd hatte inzwischen festgestellt, dass die vorgezeigte Jagdlizenz schon längst abgelaufen und darin herumgekritzelt worden war. Da sie aber Angaben über die Identität der Männer enthielt, konnte sie als belastendes Beweismittel dienen. So faltete er das Papier kurzerhand zusammen und ließ es unter den feindlichen Blicken der Männer in seiner Tasche verschwinden. Da hier ein klarer Fall von Wilderei vorlag, wollte Syd das Department of Wildlife in Gaborone verständigen.

    Den Wilddieben hatte es inzwischen gedämmert, dass sie einem Bluff aufgesessen waren. Sie begannen sich zu mucksen und verlangten den Zettel zurück. Doch Syd ignorierte sie kaltblütig, und bevor sie den Mut zu handgreiflichem Widerstand fassen konnten, waren wir schon auf und davon. Wir wollten noch vor Einbruch der Dunkelheit in unserem Camp sein, wo Georgie wahrscheinlich schon die Zelte aufgeriggt hatte.

    Wie die Dinge lagen, mussten wir damit rechnen, dass die Wilddiebe uns verfolgen würden. Um sie in die Irre zu führen, steuerte Syd das Camp auf Umwegen quer durch den Busch an. Zufällig stießen wir dabei auf ein verstecktes Lager der Bande, das bis auf einen alten, runzeligen Afrikaner, der in der Glut eines niedergebrannten Feuers herumstocherte, verlassen war. In den Akazien um das Versteck herum waren mehrere aufgebrochene und aus der Decke geschlagene Antilopen zum Trocknen aufgehängt. Der alte Mann, der fast blind zu sein schien, beachtete uns überhaupt nicht und murmelte auf Fragen, die Syd ihm stellte, etwas Unverständliches vor sich hin, ohne dabei auch nur einmal aufzuschauen.

    Wir ließen den Alten allein und machten uns wieder auf den Weg in Richtung Camp. Da wir anscheinend nicht verfolgt wurden, bogen wir schon bald in eine dieser schnurgeraden, die Orientierung erleichternden Feldvermessungsspuren ein, die Cutlines genannt werden. Die Dämmerung begann bereits heraufzuziehen.

    Georgie hatte die Zelte am unteren Saum des sanft abfallenden Randstreifens einer Salzpfanne errichtet. Gerade als wir den Kamm überquerten, huschten zwei Männer aus dem Gebüsch und stellten sich uns mit in der Hüfte angeschlagenem Gewehr in den Weg. Wir sahen sofort, dass es sich um zwei der Wilddiebe handelte. Anscheinend hatten sie doch noch so viel Mut aufgebracht, um das von Syd vereinnahmte Dokument gewaltsam zurückzuerobern. Sie mussten die Lage unseres Camps genau gekannt und sich auf direktem Weg dorthin begeben haben. Die Situation war heikel und durfte sich nicht zuspitzen. Eine Schießerei musste auf jeden Fall vermieden werden. Sowohl Umkehren als auch Anhalten hätten uns in eine nachteilige Lage gebracht. Syd setzte instinktiv wieder auf Einschüchterung und entschied sich daher für die Offensive.

    Die beiden Männer versperrten den Weg wie zwei Straßenkontrollposten einer Partisanenarmee. Syd fuhr bis auf etwa 40 Meter an sie heran. Dann rückte er sich wie ein angreifender Stier in Position und trat aufs Gas. Die Wilderer machten keine Anstalten, dem heranbrausenden Truck auszuweichen. Sie drohten mit dem Gewehr, aber Syd jagte unbeirrt und mit unverminderter Geschwindigkeit direkt auf sie zu. Er zweifelte nicht daran, dass sie Reißaus nehmen würden.

    Seine Rechnung ging tatsächlich auf. Als es den beiden Helden zu brenzlig wurde, machten sie einen Satz in den Busch – der eine nach links, der andere nach rechts. Dann ergriffen sie das Hasenpanier.

    Eine lange Nacht stand uns bevor. Die Vorstellung, im Schlaf überfallen zu werden, erfüllte uns mit einem flauen Gefühl. Wir entschieden uns daher, wach zu bleiben. So setzten wir uns um das Feuer herum, kippten Bier und Whisky in uns hinein und tauschten Erinnerungen aus. Für alle Fälle hatte Syd »Little Adolf« zusammengebaut; so nannte er in Anspielung auf einen bekannten deutschen Feldherrn seine alte Mauser C 96. Er hatte die Selbstladepistole mit dem Kaliber 9 mm Parabellum im Zweiten Weltkrieg bei einem gefangen genommenen deutschen Soldaten gefunden und kassiert. Zur Aufbewahrung von »Little Adolf« diente ein Holzfutteral. Wenn man es an den Pistolengriff montierte, hatte man praktisch einen Anschlagschaft wie bei einem Gewehr.

    Über uns wölbte sich blauschwarz der klare afrikanische Himmel mit Myriaden hell leuchtender Sterne. Aus der Ferne drang das Brüllen eines Kalaharilöwen herüber. Schabrackenschakale klagten mit herzzerreißendem Diskant im Chor. Wir achteten aufmerksam auf jedes Geräusch aus dem Busch. Als uns dann doch die Müdigkeit zu übermannen drohte, kam Syd auf die Idee, Springhasen zu fangen – natürlich sollte den Tieren dabei kein Leid zugefügt werden. Springhasen sind hasengroße, nachtaktive Nagetiere. Mit ihren langen und kräftigen Hinterläufen, den verkümmerten Vorderläufen und dem langen Schwanz sehen sie wie kleine Kängurus aus, mit denen sie als Plazentatiere aber nicht einmal entfernt verwandt sind. Man hat ihnen eine separate Überfamilie in der Ordnung der Nagetiere zugewiesen.

    Wir waren also zur nächtlichen Springhasenjagd aufgebrochen. Georgie fuhr den Landcruiser langsam durch eine Salzpfanne. Syd hatte sich auf die Motorhaube gesetzt. Waltraut und ich standen hinten im Fond mit schussbereiter Kamera. Sheila saß auf dem Beifahrersitz. Die Scheinwerfer strahlten weit über die vegetationslose Ebene. Erfassten sie einen Springhasen, reflektierten dessen Seher das Licht. Zeigte der Kopf des Nagers dabei in unsere Richtung, konnten wir zwei leuchtende Punkte sehen. Zeigte er zur Seite, sahen wir nur einen.

    Hatten wir nun so einen einzelnen oder doppelten Rückstrahler entdeckt, fuhren wir langsam darauf zu. Wechselte er seine Position, folgten wir ihm – und wenn er sich nicht mehr bewegte, ließ Georgie den Landcruiser nur noch dezimeterweise vorwärtskriechen. Immer deutlicher traten dann im Scheinwerferlicht um das reflektierende Auge oder Augenpaar herum die Konturen des Springhasen hervor, bis er schließlich klar zu erkennen war. Das war genau der Augenblick, in dem Georgie das Auto zum Stehen brachte und ich auf den Auslöser meiner Kamera drückte. Soviel ich weiß, gehörten meine Aufnahmen damals zu den wenigen Fotos von Springhasen in freier Wildbahn.

    Syd glitt unterdessen von der Motorhaube und pirschte sich an das wie hypnotisiert verharrende Nagetier heran. Wenn er sich nahe genug glaubte, vollführte er einen Hechtsprung, um es zu packen. Das war jedoch leichter gesagt als getan … Der Springhase wurde zwar von den Scheinwerfern geblendet, war aber sehr wohl in der Lage, das Herannahen des menschlichen Schattens zu registrieren. So passierte es etliche Male, dass Syd sich auf der harten Kruste der Salzpfanne die Ellenbogen aufschlug, während der Springhase fröhlich entwischte. Doch irgenwann hatte Syd den richtigen Dreh heraus. Es gelang ihm, mit einem flachen Satz, einen Springhasen unter seinem Körper zu begraben. Rasch packte er ihn an den Hinterläufen und am Brustkorb. Dann präsentierte er uns seine lebendige Beute, die verständlicherweise nur das Verlangen verspürte, sich aus dem Schwitzkasten zu befreien. Die Chance dafür ergab sich, als Syd für einen Augenblick den Griff um den Brustkorb lockerte. Prompt biss der Springhase zu. Seine scharfen Nagezähne drangen von beiden Seiten in Syds rechten Zeigefinger. Unser Freund stieß einen saftigen Fluch aus und ließ das bissige Kerlchen wie eine Giftschlange fallen. Der Entkommene hüpfte wie ein Känguru mit meterweiten Sätzen in die Nacht.

    Wir beendeten unsere Jagd und kehrten übermüdet ins Camp zurück. Sheila verband Syds Finger. Im Osten dämmerte es bereits, und die Gurrtauben erfüllten den Raum mit ihrem Gesang. Als sich die Sonne über den Horizont erhob, flutete sie die Baumgrassteppe mit goldenen Strahlen, die das Aristida-Gras wie reifen Weizen schimmern und den Rotbauchwürger auf seinem Dornbusch wie einen Rubin funkeln ließen.

    In einer Akazie saß ein Trauerdrongo. Der Sperlingsvogel mit dem glänzend schwarzen Federkleid und dem gegabelten Schwanz beobachtete einen Trupp von sieben schwarz-weiß gefiederten Elsterdrosslingen, wie sie auf dem Boden Grashüpfer jagten. Plötzlich stieß der Drongo einen mehrsilbigen schrillen Laut aus. Die Drosslinge ließen daraufhin augenblicklich von den Insekten ab und suchten Hals über Kopf Deckung in einem Dornbusch. Sie hatten den Laut des Drongos offenbar für den Warnruf eines ihrer Artgenossen gehalten. Und genau darauf schien der schlaue Drongo auch abgezielt zu haben, denn kaum hatten die Drosslinge das Weite gesucht, tat er sich an den angepickten und noch zappelnden Grashüpfern ausgiebig gütlich.

    Wir schürten das Feuer und setzten Wasser für einen starken Kaffee auf. Kein Anzeichen in unserem Umkreis deutete auf die Gegenwart der Wilddiebe. Sie waren in der Weite der Kalahari untergetaucht und warden nicht mehr gesehen.

    Unser Freund Syd Youthed im Jahre 1980.

    Sheila mit dem Fruchtkörper einer Termitomyces-Spezies, eines Pilzes, der in Symbiose mit Termiten lebt. Die schmackhaften Fruchtkörper erscheinen in der feuchten Jahreszeit oft in großer Zahl um Termitenhügel herum. Aufnahme von 1999.

    Syd hat einen Springhasen gefangen.

    Springhase nachts am Rande einer Salzpfanne.

    Einer der faszinierendsten Bewohner der Kalahari ist der scheue Leopard.

    Einer der schönsten ist die Gabelracke.

    Spuren im Sand (Sommer 1981)

    Seit Stunden pflügte sich unser Landcruiser durch den rötlich gelben Sand im trockenen Südwesten der Kalahari. Syd Youthed hatte mit seinen Händen das Lenkrad fest umklammert und seine Augen auf die halb zugewachsene Piste geheftet. Er hatte alle Register seiner Fahrkunst gezogen, damit der Truck nicht im tiefen Kalaharisand stecken blieb oder mit einem Rad in den Eingang eines Erdferkelbaus krachte.

    Wir hatten die westlich des Hurutsedorfes Kokong liegende Kome Pan, auf deren Düne wir die vergangene Nacht im Zelt verbracht hatten, hinter uns gelassen und waren auf dem Weg nach Tshane. Dort wollten wir unsere Wasservorräte auffüllen, denn es war unser Plan, mehrere Tage in der abgeschiedenen, aber traumhaft schönen Wildnis von Mabuasehube zu verbringen. Von dort aus wollten wir anschließend weiter nach Namibia reisen. Die Fahrt zog sich lange hin, da wir immer wieder anhalten mussten, um die Grassamen zu entfernen, die sich in den Rippen des Kühlers festgesetzt hatten.

    In Tshane hatten sich um die Wasserstelle herum knapp zehn Dromedare eingefunden. Sie gehörten zu den letzten Zeugen der kolonialen Vergangenheit Botswanas. Die britische Schutztruppe hatte bis zur Unabhängigkeit des Kalaharistaates im Jahre 1966 das sogenannte Bechuanaland Camel Corps unterhalten. Syd berichtete, dass die botswanische Polizei nach Abzug der Briten die Tradition des Camel Corps weitergeführt habe. Die Dromedarabteilung war in Tshabong stationiert, dem etwa 250 Kilometer südlich von Tshane gelegenen Verwaltungszentrum des Kgalagadi Districts. Inzwischen schrieben wir 1981, natürlich war die Polizei längst mit Geländefahrzeugen ausgerüstet. Nur noch selten führte sie Patrouillenritte auf Reitdromedaren durch. Die arbeitslos gewordenen Tiere zogen seitdem frei in der Kalahari umher. Ein knappes Dutzend von ihnen trieb sich ständig um Tshane herum und erschien regelmäßig an der Pumpstation.

    Das aus einem Brunnen gepumpte Wasser stürzte als flatternder Katarakt aus dem verbeulten Ablauf einer Rohrleitung hervor, sodass nur die Hälfte davon den Weg durch das enge Spundloch in unser Vorratsfass fand. Was daneben plätscherte, wurde von einer langen Blechwanne aufgefangen, an der sich bereits die Kamele drängten. Syd hatte gehört, dass man die Tiere bald schlachten wolle. Anscheinend konnten die Dorfbewohner der Verlockung nicht widerstehen, die aus ihrer Sicht nutzlos herumlaufenden Frischfleischberge einer kulinarischen Verwertung zuzuführen.

    In der Savanne, weit außerhalb des Dorfes, riggten wir unser Camp für die Nacht auf. Nachdem wir das erledigt hatten, war die Zeit reif für den Sundowner. Nach dem ersten Scotch, dem guten alten Dewar’s White Label, zog eine entspannende Schwere in unsere Glieder. Durch unsere Kleidung drang die behagliche Wärme des Lagerfeuers. Unsere Gedanken kreisten um die Erlebnisse, die der Tag uns beschert hatte. Da gab es nichts, was unseren inneren Frieden hätte stören können. So schauten wir in die züngelnden Flammen, erzählten uns Geschichten und lauschten den Bellgeckos, die sich mit silberhellen Klicklauten aus allen Sträuchern meldeten.

    Das metallisch klingende Gegacker mehrerer Helmperlhühner und das simultane, zu einem Crescendo anschwellende und dann ersterbende Keckern zweier Rotaugentokos sowie das sich ständig wiederholende »Gruhgruuugruh, gruhgruuugruh …« der Gurrtauben, das Syd spöttisch mit »Work harder, work harder …« oder »Drink Castle, drink Castle …« übersetzte, scheuchten uns in aller Herrgottsfrühe hoch und spornten uns zum Aufbruch an.

    Die Straße war eigentlich nichts anderes als ein schmaler, langer Streifen Wildnis ohne Pflanzenbewuchs – ein endloses Band aus lockerem rötlichem Sand. Über weite Strecken war sie nur mit Allradantrieb befahrbar. Sie führte durch eine mit Akazien, Dornbüschen und perennierenden Gräsern bewachsene Trockensavanne.

    Als wir in Mabuasehube ankamen, hatte die Sonne ihren Mittagslauf bereits gehalten. Unter Schatten spendenden Akazien am Rand einer Salzpfanne schlugen wir unser Lager auf. In der flachen Senke hatten sich zahlreiche Oryxantilopen und Springböcke eingefunden, um ihren Bedarf an Mineralien zu decken. Sie scharrten mit ihren Schalen die harte Tonschicht zur Seite und leckten die salzige Erde. Derweil geisterte ein gar nicht scheuer Schabrackenschakal in unserem Camp umher, um mal von diesem, mal von jenem ihm seltsam erscheinenden Gegenstand eine Duftprobe zu nehmen. Ein schwarzbrauner Riesentausendfüßler vom Format einer Churchill-Zigarre zog es hingegen vor, auf seinen, wenn auch nicht 1 000, so doch immerhin rund 300 Beinen an ein weniger belebtes Plätzchen zu krabbeln. Und ein Skorpion, den ich beim Sammeln von Feuerholz seines Versteckes beraubt hatte, krümmte mir drohend seinen mit einem Giftstachel bewehrten Hinterleib entgegen und erinnerte mich daran, dass man in der Wildnis unablässig auf der Hut sein muss.

    Am späten Nachmittag gingen wir auf Erkundungsfahrt. Dabei stießen wir auf einen der legendären schwarzmähnigen Kalaharilöwen. Der Tau – so heißt der Löwe auf Tswana – lag am Rand eines Dornbusches, umgeben von einem Kolorit aus gelben Gräsern und dunkelgrünen Akazien. Er fixierte uns mit einem unergründlichen Blick aus bernsteinfarbenen Sehern. Das ihn umschwirrende Fliegenvolk ignorierte er hochmütig. Das Motiv mutete an wie ein Bild von Afrika in alten Tagen. Afrika im Peter-Beard-Format. In der Kalahari auf einen Löwen zu treffen, das war immer ein seltenes Ereignis und deshalb von ungleich höherem Erlebniswert als die meisten der zahlreichen Löwenbegegnungen, die wir in den bekannten Nationalparks im Norden Botswanas und in Ostafrika hatten.

    Wir wollten die Nacht nicht in einem Zelt, sondern unter freiem Himmel verbringen. Um Schlangen und Skorpione fernzuhalten, kämmten wir mit einer Harke auf einer Fläche von gut vier mal fünf Metern die schüttere Vegetation aus dem sandigen Boden und breiteten dort eine große Persenning aus. Darauf stellten wir die Feldbetten. Vor das Kopfende, parallel zur Plane, platzierten wir den Landcruiser, und am Fußende, mehrere Meter von der Plane entfernt, legten wir das Campfeuer an.

    Bei dieser Art des Nachtlagers verrammelte ich sicherheitshalber auch immer die Lücke zwischen dem Fahrzeug und den Feldbetten mit Teilen der Campausrüstung, um Raubtieren das Anschleichen von hinten zu erschweren. Die Maßnahme war hier, wo es keine Tüpfelhyänen gab, allerdings nicht vordringlich. Oben im Norden jedoch, im Okavango Delta, war sie sehr empfehlenswert. Dort hatten wir es häufiger erlebt, dass Tüpfelhyänen nachts bis an unsere Feldbetten kamen. Das Lagerfeuer hatte sie nie abgeschreckt. Beim Campen am Chobe River war ich einmal durch Hechel- und Schnupperlaute neben meinem Kopf wach geworden. Als ich meine Augen öffnete, blickte ich geradewegs in den vom Schein des niedergebrannten Lagerfeuers erhellten Fang einer Tüpfelhyäne. Ich erschrak so sehr, dass ich im Reflex steil in die Höhe schoss. Der Hyäne erging es ähnlich wie mir: Als sich das von ihr halb tot geglaubte Stück Fleisch plötzlich aufrichtete, sprang sie so unkoordiniert zur Seite, dass sie auf die Nase fiel. Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, huschte sie wimmernd davon. Am sichersten war man dort immer im Zelt aufgehoben. Die meisten Tiere der Wildnis scheinen ein Zelt für einen massiven Gegenstand und nicht für ein hohles Gebilde mit fressbarem Inhalt zu halten. Verlassen würde ich mich darauf allerdings nicht, vor allem nicht in Gebieten, in denen Bären vorkommen.

    Nach dem obligaten Scotch legten wir uns zur Ruhe, Schmalfilmkamera und Fotoapparat mit Blitz griffbereit neben uns auf der Persenning. Ich träumte hinauf zu den Sternen, die aus der finsteren Tiefe des Alls wie Diamanten auf schwarzem Samt funkelten. Irgendwo links von uns bellte ein Schakal im hohen Diskant, von rechts antwortete ein Artgenosse.

    Auf einmal begann in beängstigend geringer Entfernung von unserem Lager ein Löwe zu brüllen: »Uuua uuua uuua uuua ua ua ua ua ua ua ...« Er hatte eine tiefe Stimme, und seine Strophe endete mit einem Stakkato aus über 15 nachgestoßenen Silben. So schrie nur ein alter Tau, ein ranghoher Mähnenlöwe, der Herrscher über ein Territorium. Wie Donnerhall dröhnte sein Ruf durch die Nacht und ließ keine Kreatur mit zwei oder vier Beinen im näheren und weiteren Umkreis im Unklaren darüber, wer hier das Sagen hatte. Er schrie wahrlich so laut und schaurig, dass die Luft davon zu vibrieren schien. Über die Gefühlslage, in die mich mein sympathisches Nervensystem dabei versetzt hatte, möchte ich mich lieber in Schweigen hüllen. Stunden vergingen. Der König der Löwen wurde nicht müde, ganze Serien seiner akustischen Insignien in die Nacht zu orgeln. Die Dunkelheit hatte ihn eingehüllt, sodass wir nur ahnen konnten, wo er herumgeisterte.

    Plötzlich verstummte er. Was war geschehen? An Fantasie fehlte es mir zu allem Überfluss nicht: Womöglich hatte er sich an unser Lager herangeschlichen und umkreiste es jetzt. Ich lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Weil mich meine Atemgeräusche störten, hielt ich die Luft an. Jetzt rauschte es zwar nicht mehr in meinen Ohren, dafür hörte ich mein Herz wie eine Riesentrommel schlagen. Eine ganze Weile lag ich da und horchte. Aber ich konnte kein verdächtiges Geräusch vernehmen. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, schaute ich zum Himmel hinauf.

    Ich betrachtete das nebelige Band der Milchstraße, die aus 100 bis 300 Milliarden Sternen bestehen soll. Die Buschmänner erzählen sich die Geschichte, dass vor sehr langer Zeit ein Mädchen glühende Asche in den Himmel geworfen habe, damit auch nachts ein wenig Licht vorhanden sei. Die Asche sei aber nie wieder auf die Erde zurückgefallen, sodass man sie seitdem als Milchstraße am Himmel sehe.

    Nach längerem Suchen fand ich die vier hellen Sterne des Südlichen Kreuzes: Wo die über seinen Stern Acrux hinausragende viereinhalbfache Verlängerung seiner Hauptachse auslief, war der südliche Himmelspol. Mit bloßem Auge erkannte ich den unterhalb seines Beta-Sternes liegenden Dunkelnebel, den die alten Südwester »Kapstädter Kaffeesack« nannten. Den sonnennächsten Fixstern unserer Milchstraße, Proxima Centauri, konnte ich hingegen nur ahnen, da er viel zu schwach leuchtete. Er musste sich irgendwo in der Nähe der beiden dicht nebeneinanderliegenden, hell strahlenden Hauptsterne des Sternbildes Centaurus befinden, das dem Kreuz des Südens benachbart ist.

    Sternschnuppen schnitten mit phosphornem Licht Schneisen in das Dunkel. Je länger das Geglitzer an der Himmelskuppel auf mich einwirkte, desto taumeliger wurde mir. Meine Augenlider wurden schwer, und ich fiel in einen Dämmerzustand, in den alle paar Sekunden der einsilbige Ruf der Zwergohreule drang. Schließlich begannen Bilder und Gedanken aus meinem Unterbewusstsein die Eindrücke aus der Wirklichkeit zu verdrängen.

    Ein lautes Geräusch ließ mich aus dem Schlaf fahren. Ich spähte benommen in die Runde. Der Morgen graute bereits. Ich hörte Syd schnarchen, aber nicht so laut, dass ich davon hätte wach werden können. In diesem Moment dröhnte es plötzlich von der Salzpfanne herüber: »Uuua uuua uuua uuua ua …« Meine Augen überflogen hastig die Peripherie der grauen Senke und blieben an einem starken Mähnenlöwen hängen. Ich war mir sicher, dass es sich um den Macho handelte, der uns die halbe Nacht in Atem gehalten hatte. Und es kam noch aufschlussreicher: Durch das Fernglas erkannte ich in ihm den Schwarzmähnigen wieder, dem wir abends zuvor auf unserer Erkundungsfahrt begegnet waren. Ich befreite mich aus meinem Schlafsack und rüttelte Waltraut und Syd wach.

    »Lion, there is a big lion down the pan! Looks like the guy we saw on our trip last night«, wisperte ich.

    Die beiden sprangen auf, rieben sich den Schlaf aus den Augen und blinzelten zur Salzpfanne hinüber, wo der Löwe schon im Begriff war, sich in die Vegetation zurückzuziehen.

    In der Hoffnung, doch noch einen längeren Blick auf ihn werfen zu können, eilten wir auf die Stelle zu, wo wir ihn zuletzt gesehen hatten. Auf dem Boden der Pfanne saß ein Wollkopfgeier. Als er bemerkte, dass wir ständig näher kamen, erhob er sich sicherheitshalber in die Luft. Ein Streifenliest saß auf einem kahlen Ast einer Akazie und hielt für seine Spezies ausgesprochen früh am Tage Ausschau nach Insekten und kleinen Echsen. Doch von der imposanten Raubkatze sahen wir nicht einmal einen Schatten. Büsche und Gräser hatten sie vollkommen abgeschirmt.

    So schlenderten wir also wieder zum Camp zurück. Dabei stießen wir auf die Spur des Löwen. Als ich mir die einzelnen Prantenabdrücke genauer anschaute, verschlug es mir die Sprache: Der Durchmesser eines Trittsiegels in Laufrichtung betrug exakt einmal die Länge meiner Tabakspfeife; das waren unglaubliche 16 Zentimeter. Ein kapitaler Bursche!

    Wir begannen, die Spur zurückzuverfolgen. Schon bald stellten wir verwundert fest, dass sie offenbar von unserem Camp herkam. Sie führte nicht etwa im Anschluss an einen Bogen, einen Schwenk oder Haken zur Salzpfanne – nein, sie verlief in einer schnurgeraden Linie direkt von unserem Lager dorthin. Doch es sollte noch besser kommen …

    Die Überraschung wurde komplett, als wir entdeckten, dass die Löwenspur haarscharf an der Persenning entlanglief, erschreckende eineinhalb Meter vom Fußende unserer Feldbetten entfernt. Entgeistert starrten wir auf die imposanten Trittsiegel, die sich einer hinter dem anderen klar und deutlich im Sand der Kalahari abzeichneten. Aus dem gleichmäßigen, keine Unregelmäßigkeiten aufweisenden Verlauf der Spur schlossen wir, dass die Raubkatze, als sie an unseren Füßen vorbeischnürte, nicht einmal verhofft oder sich nach uns umgewendet hatte. Wir hatten tief und fest geschlafen und von alledem nichts mitbekommen.

    Teils verstört, teils belustigt malten wir uns aus, wie wir wohl reagiert hätten, wenn wir wach gewesen wären und den Löwen vor unseren Feldbetten erblickt hätten. Ich glaube, ich hätte mir vor lauter Schiss in die Hose gemacht.

    Wir verbrachten noch ein paar Tage in Mabuasehube, bevor wir unsere Reise fortsetzten. Kurz hinter der Boso Bogolo Pan hielt Syd plötzlich an und machte uns auf einen braunen Klumpen aufmerksam, der neben einem struppigen Busch am Straßenrand lag.

    »A snake! It looks like a puff adder.«

    Eine Puffotter! Das Wort ließ mich hellwach werden. Da man nur selten ein Exemplar zu Gesicht bekommt, wallte spontan die Leidenschaft des Bilderjägers in mir auf. Ich ergriff meine Kamera und sprang zum Entsetzen unseres Freundes aus dem Auto.

    »What the hell came over you? Welcher Teufel hat dich geritten?«, rügte mich der aufgebrachte Syd. »A puff adder is a very dangerous animal! Be careful and stay back! Eine Puffotter ist ein sehr gefährliches Tier! Nimm dich in Acht und halte Abstand!«

    Ich bin bestimmt kein Hasardeur, und das wusste Syd auch. Aber oft ist auf der Jagd nach Bildern ein gewisses Maß impulsiven Verhaltens auch der Schlüssel zum Erfolg. Diesmal hatte ich in Syds Augen offenbar zu viel Passion an den Tag gelegt. Heimlich musste ich ihm recht geben.

    Unheildrohend wie eine Tretmine lag das ausgewachsene Reptil wenige Meter vor meinen Füßen. Die Lebolobolo, wie die Puffotter auf Tswana heißt, hatte sich aufgerollt. Ihren Vorderleib hatte sie dabei zu einem Zickzack gefaltet, das jederzeit auseinanderschnellen konnte. Eine Fliege krabbelte über ihre erhabenen Nasenlöcher. Ich wusste, dass eine Puffotter ihren Biss außerordentlich schnell und treffsicher ausführt und ihre langen Giftzähne tief in das Gewebe schlägt. Die meisten Todesfälle durch Schlangenbisse in Afrika sollen auf ihr Konto gehen. Also blieb ich respektvoll außerhalb ihrer Reichweite und fotografierte sie mit einem Teleobjektiv.

    Die Bilder im Kasten, beeilte ich mich, zurück ins Auto zu kommen. Syd saß schon auf heißen Kohlen, denn wir hatten noch den weiten Weg nach Namibia vor uns. Neue Ziele und neue Erlebnisse warteten auf uns. Die Liste für die nächsten Tage war lang: Windhoek, Swakopmund, White Lady, Welwitschia, Kuiseb Canyon, Namibwüste, Etoshapfanne, die Seebären am Cape Cross …

    Ein Kalaharilöwe mit einer prächtigen schwarzen Mähne.

    Puffotter. Sie besitzt lange Giftzähne, mit denen sie ihr hämotoxisch wirkendes Gift tief in eine Bisswunde spritzen kann. In Erregung blasen sich Puffottern drohend auf. Sie gehören zur Familie der Vipern, die es nur in der Alten Welt gibt.

    Ekstase unterm Sternenzelt (Sommer 1982)

    Einmal Afrika, immer Afrika!« las ich vor Kurzem in einer Reisebeschreibung. Mir erscheint diese Aussage zu undifferenziert, denn von den etwa 55 Staaten des Schwarzen Kontinents gibt es nur wenige, die über eine so mannigfaltige Fauna und Flora verfügen und so friedvoll sind, dass ich ihnen für immer verfallen würde. In der Liste der von mir favorisierten afrikanischen Länder steht Botswana ganz oben. Demokratisch, politisch stabil, kein Rassismus, geringe Korruption. Flächenmäßig so groß wie Frankreich, aber nur rund zwei Millionen Einwohner. Im Nordwesten das weltweit einzigartige, rund 20 000 Quadratkilometer große Okavango Delta, im Süden die zauberhafte Halbwüste der Kalahari. Riesige Nationalparks mit Tierarten, die andernorts längst nicht mehr vorkommen. Ein Land fernab vom Massentourismus. Afrika, wie geschaffen für Waltraut und mich. Schon im Jahre 1978, als wir das erste Mal durch dieses Land reisten, fingen wir uns das »Einmal-Botswana-immer-wieder-Botswana«-Virus ein. Und dass wir es nicht wieder loswurden, hatten wir vor allem Syd und Sheila Youthed zu verdanken, mit denen wir damals unterwegs waren und denen wir seitdem in enger Freundschaft verbunden waren. Sie luden uns immer wieder zu Expeditionen in die Wildnis Botswanas ein. Im Jahre 1982 ermöglichten sie uns die Teilnahme an einer Safari zu den Buschmännern der Kalahari. Von diesem einzigartigen Erlebnis handelt die nachfolgende Geschichte.

    An einem sonnendurchfluteten afrikanischen Morgen machte sich unsere kleine Gesellschaft mit zwei Geländefahrzeugen auf den Weg. Alles, was wir auf der Reise brauchten, hatten wir dabei: die Campausrüstung, Verpflegung, Wasser, zwei Jagdgewehre sowie Bier und Whisky für mindestens zwei Wochen. Unser Ziel war das Randgebiet der Zentralkalahari. Dort kannten Syd und Sheila ein noch halbwegs intaktes Dorf der San, das sie uns zeigen wollten.

    San ist ein anderer Name für Buschmänner. Das Wort entstammt der Sprache der Nama und bedeutet so viel wie »Sammler und Jäger«. Die Nama sind halbnomadisierende Viehbauern in Süd- und Südwestafrika. In der Kolonialzeit bezeichnete man sie als Hottentotten. Sie nennen sich selbst Khoikhoi, was »wirkliche Menschen« heißt. Khoikhoi und San werden unter dem Terminus Khoisan zusammengefasst.

    Unterwegs hatten wir ein Streifengnu und eine Oryxantilope erlegt, hatten sie aus der Decke geschlagen, zerwirkt und das Wildbret in Streifen geschnitten. Die Streifen hatten wir mit Salz und Pfeffer eingerieben, einige Stunden pökeln lassen und dann in luftiger Höhe an einem Seil zwischen zwei Kameldornbäumen zum Trocknen aufgehängt. Trockenfleisch wird im südlichen Afrika Biltong genannt. Den Buren diente es auf ihrem großen Treck im Jahre 1835 als eiserne Ration. Auch 150 Jahre danach durfte dieser nahrhafte und hervorragend schmeckende Reiseproviant auf keiner Safari oder Expedition in die Wildnis fehlen.

    Unser Fährtensucher, der Buschmann Abonini, hatte sich über den Aufbruch der beiden erlegten Antilopen hergemacht. Alles, was davon zum Verzehr geeignet war, wie etwa das Geräusch der Tiere und Teile ihrer Gescheide, hatte er in den Pansen der Oryxantilope gestopft. Dann hatte er sich den schweren, wabbeligen Sack über die Schulter geworfen und war damit zu Fuß zu seinem einige Kilometer entfernten Kral aufgebrochen.

    Nach drei Tagen war auch unser Biltong fürs Erste ausreichend getrocknet. Wir packten es in den Fridge, der an die Autoelektrik angeschlossen war. Dann setzten wir unsere Reise fort. Um Abonini wieder an Bord zu nehmen, machten wir in seinem Dorf halt, das auf unserem Weg lag.

    Die kleine Siedlung bestand aus Grashütten und Knüppelverhauen. Sie lag in der Nähe des Camps einer auf Diamantenexploration spezialisierten Tochterfirma des kanadischen Bergbauunternehmens Falconbridge. Für Aboninis Leute war diese Nachbarschaft sehr vorteilhaft, da die regelmäßigen Zuwendungen, die sie von den Diamantenleuten erhielten, eine eklatante Verbesserung ihrer kargen Lebensbedingungen darstellten. Einen Teil ihrer traditionellen Lebensweise hatten sie darüber aufgegeben, was aber nicht bedeutete, dass sie die Fertigkeiten zum Überleben in der Trockensteppe verlernt hatten, sie wendeten sie eben nur seltener an.

    Syd und Sheila waren mit dem Chef-Geologen des Prospektorencamps gut befreundet. Und da wir gerade in seiner Nähe waren, statteten wir ihm einen Besuch ab. Es war brütend heiß, und Roger, so hieß der Freund, dirigierte uns ins vergleichsweise kühle Innere einer Baracke, wo er jedem von uns eine taunasse Dose Lion Lager zuwarf. Vor den Fenstern des spartanisch eingerichteten Raumes hingen Moskitonetze. Und wie das Arrangement für ein milieutypisches Stillleben standen auf einer Fensterbank eine zur Hälfte geleerte Flasche Brandy und zwei angefangene Flaschen Scotch, in denen sich die Sonnenstrahlen golden brachen. Doch was sich vortrefflich als Sundowner geeignet hätte, taugte nicht, um in der mittäglichen Hitze unseren Durst zu löschen. Diesem Zweck konnte nur das kühle Lager gerecht werden. Und damit wir genießen konnten, wie es prickelnd durch die Kehle rann, tranken wir es in langen Zügen … Nach einer Dosenlänge Erquickung und Smalltalk mussten wir weiter.

    Am späten Nachmittag hatten wir unser Ziel erreicht. Während wir unser Camp aufbauten, kamen sie aus dem Busch hervor: einer nach dem anderen – kleine Männer mit ockergelber Haut und schwarzen Haaren, die in pfefferkorngroßen Büscheln wuchsen. Sieben Buschmänner. Sie trugen abgewetzte Jacketts oder Pullover. Einige hatten Strickmützen auf dem Kopf. Wortlos setzten sie sich vor unserem Lager auf die Erde und rauchten ihre Pfeife, die nichts anderes war als ein mit Tabak gestopftes Eisenrohr. Die unaufdringlichen Steppenmenschen beschäftigten sich ganz mit sich selbst und kümmerten sich überhaupt nicht um uns. Syd war hier seit vielen Jahren ein wohlgelittener Besucher. In seiner Begleitung erregten Waltraut und ich daher auch nicht ihren Argwohn.

    Wenn ich mich recht entsinne, bestand die dort lebende Sippe aus etwa 50 Mitgliedern. Wir schrieben das Jahr 1982, und noch lebten sie relativ isoliert in ihrem Grashüttendorf. Sie hatten zwar Kontakte zu Bantustämmen, mit denen sie Tauschgeschäfte machten: Felle, gegerbte Häute, Schmuck, Mörser, Pfeile, Bogen gegen abgetragene Kleidung, Decken, Werkzeug, Eisen, Kupfer, Töpfe. Einige von ihnen arbeiteten zeitweise als Traktorfahrer, Cowboy oder Zaunzieher auf einer der Farmen im Ghanzi District. Aber von den Lebensgewohnheiten ihrer Vorfahren hatten sie sich nie getrennt. Die Männer gingen noch häufig in traditioneller Weise auf die Jagd, und die Frauen sammelten Kräuter, Wurzeln, Gemsbockgurken und Tschammaskürbisse, oder sie legten Saugbrunnen an, auch wenn die Entfernung zu einem Bantudorf, wo es eine permanente Wasserversorgung aus einem Tiefbrunnen gab, leicht zu überbrücken war.

    Wir waren hier zweifellos willkommen, dennoch wollte es der Brauch, dass wir pro forma mit den Buschmännern über eine Erlaubnis zur Errichtung unseres Lagers verhandelten. Nachdem Syd mit einem Sprachgemisch aus Sesotho und Kgalagadi die Angelegenheit geklärt hatte, schenkten wir unseren »Gastgebern« Tabak und Zigaretten. Da alle Buschmänner leidenschaftliche Raucher sind, bereiteten wir ihnen damit eine große Freude.

    Die Buschmänner wollten offensichtlich ein Feuer errichten, denn sie hatten Zweige und Äste von Kameldornbäumen zusammengetragen. Zunächst musste jedoch eine Flamme erzeugt werden – eine der leichtesten Übungen für einen kleinen, aber drahtigen Kerl, der sich seine Strickmütze wie einen Nachttopf über den Kopf gestülpt hatte. Als Feuerzeug benutzte er zwei Stäbe aus dem Holz des Gemeinen Commiphora-Strauches. Er presste die Enden des kürzeren Holzes, in dessen Mitte sich ein Einschnitt befand, mit den Füßen gegen die Erde, damit sie nicht verrutschen konnten. Dann setzte er das längere Holz mit dem gespitzten Ende auf die Kerbe, in die er zuvor ein paar Sandkörnchen gestreut hatte, und quirlte es so heftig zwischen seinen Handflächen, dass an der Berührungsstelle der beiden Hölzer Reibungswärme entstand. Den notwendigen Druck erzeugte er, indem er den Stab während des Quirlens kräftig gegen die Kerbe presste. Dabei glitten seine Hände zwangsläufig an das untere Ende des Quirls. Jedes Mal, wenn er wieder nach oben greifen musste, wurde der Prozess des Reibens und Drückens unterbrochen. Die Kunst schien darin zu bestehen, so kräftig zu reiben und so kurz innezuhalten, dass die Erzeugung von Wärmeenergie schneller vonstattenging als deren Ableitung. Es dauerte kaum zwei Minuten, da stieg bereits Qualm von der Kerbe auf. Noch ein paar Drehungen und aus dem Holzabrieb hatte sich genügend glühender Kohlenstoff entwickelt. Damit war die Keimzelle für das Feuer geschaffen. Geschickt bugsierte sie der Buschmann in einen Ball aus trockenem Gras und blies ihr mit einem sanften Atemstrahl Sauerstoff zu, bis sie wie eine Zigarette, an der man zieht, aufglühte und die Grashalme entzündete. Dann legte er das rauchende Bündel behutsam auf die Erde und überschichtete es mit weiterem trockenem Gras, das sofort Feuer fing. Gegen das Gras lehnte er Zweige, erst kleinere, dann größere und schließlich Äste, und schon bald war ein Feuer entstanden, das nur noch genährt zu werden brauchte.

    Pinkfarben hatte sich inzwischen die Dämmerung über das Land gesenkt. Jetzt gesellten sich nach und nach die Frauen hinzu und setzten sich zum Kreis der Männer um das Feuer herum. Die Mütter trugen ihre Kleinkinder in einer sackartig gefalteten Decke vor der Brust. Die jungen Buschmannfrauen sahen mit ihren leicht schräg stehenden Augen, ihren dezent betonten Wangenknochen und ihrer glatten honiggelben Haut durchaus reizvoll aus. Die alten Weiber hatten sich ein wollenes Tuch oder eine Springbockdecke um die Schultern geschlungen. In den tausend Runzeln ihrer Haut spiegelte sich die Mühsal wider, die sie ständig aufwenden mussten, um dem ausgedorrten Land die Dinge abzuringen, die sie zum Überleben brauchten.

    Eine Frau hatte ein Gefäß bei sich, das aus dem Panzerskelett einer kleinen Schildkröte hergestellt war. Die Aussparungen zwischen den beiden Knochenschilden waren mit einer Dichtungsmasse aus Harz und Gras verschlossen. In der vorderen Abdichtung war eine runde Öffnung gelassen, in der als Stopfen ein Fetzen vom Balg eines Löffelhundes steckte. Der Behälter war offenbar ein Duftspender – eine Art Flakon, in dem sich zerstoßene aromatische Kräuter zu befinden schienen. Die Frau entfernte den Stopfen und ließ ein Glutstückchen in den Behälter fallen. Kurz danach quoll aus der Öffnung ein süßlich riechender Rauch.

    Über kurz oder lang hatte sich ein lebhaftes Geschnatter entwickelt, in das sich fortwährend merkwürdige Laute mischten, von denen einige so stimmlos waren und sich so mechanisch anhörten, dass wir glaubten, sie rührten von gegeneinandergeschlagenen oder aneinandergeriebenen Gegenständen her. Irgendwann fiel uns aber auf, dass sie den Lippen der Buschmänner entsprangen. Mit einem Schlag wurde uns klar, dass es sich um die typischen Schnalz- und Klicklaute handelte, die eine phonologische Besonderheit der Khoisan-Sprachen sind, zu denen die verschiedenen Sprachdialekte der San sowie die Sprachen der Khoikhoi und der Damara gerechnet werden.

    Die 28 Khoisan-Sprachen sind nicht genetisch verwandt. Sie weisen aber typologische Gemeinsamkeiten auf. Daher hat man sie zu einem sogenannten Sprachbund zusammengefasst. Die für sie charakteristischen Phoneme finden sich auch in einigen Bantusprachen. Dazu zählen zum Beispiel Tswana, Zulu und Xhosa. Man schließt daraus, dass zwischen Khoisan und Bantu sprechenden Volksgruppen schon sehr früh Tauschgeschäfte und Heiratsverbindungen stattgefunden haben müssen.

    Nachdem sich alle Frauen um das Feuer versammelt hatten, begann eine aus ihrem Kreis spontan und gänzlich unbeachtet von den anderen, in das Palaver hinein mit geschlossenen Augen und hingebungsvoll verzerrten Gesichtszügen einen lautmalenden Gesang anzustimmen. Dazu klatschte sie rhythmisch mit den Händen. So verzückt, wie sie wirkte, schien sie einem drängenden inneren Verlangen zu folgen. Die ähnlich wie beim Jodeln vom tieferen Brustton zum höheren Kopfton auf- und abschwellende Lautfolge war immer gleich, semantisch inhaltslos, lediglich stimmlicher Ausdruck einer starken Gemütsbewegung. Ich würde die Laute mit den Silben »He« und »Uh« wiedergeben. Und die Lautfolge, also der Gesang, erschien mir wie eine fließende Aneinanderreihung dieser beiden Silben, wobei das »He« mit Bruststimme und das »Uh« mit Kopfstimme erzeugt wurden: »He-uhhe-uh-he-uh …«. So unerwartet, wie die Frau ihr Zwischenspiel begonnen hatte, so abrupt beendete sie es. Und als wäre nichts geschehen, als hätte sie nicht gerade einen leidenschaftlichen Gefühlsausbruch hinter sich gebracht, wandte sie sich sofort wieder dem Palaver mit den anderen Frauen zu.

    Eine Buschmannfrau hatte ein Lamellophon mitgebracht. Es bestand aus einem Holzbrett, auf dem etwa zehn unterschiedlich lange Drähte mit ihrem einen Ende befestigt waren. Das freie Ende eines jeden Drahtes war zu einer Zunge ausgeschmiedet.

    Die Drähte waren so gebogen, dass die Zungen etwa drei Zentimeter über einem rund zehn Zentimeter weiten Loch schwebten, das sich in der Mitte des Brettes befand. Als Resonanzkörper diente eine leere Konservenbüchse, die auf der Rückseite des Brettes befestigt war und mit ihrer Öffnung das Loch überspannte. Durch Zupfen an den Zungen erzeugte die Frau wundersam klingende Töne, die das Gewirr der Stimmen wie akustische Nadelstiche durchbohrten.

    Immer wieder begannen einzelne Frauen aus einer plötzlichen Anwandlung heraus zu singen und mit den Händen zu klatschen. Lautstärke und Rhythmus variierten. Die Ausbrüche fanden von Mal zu Mal in kürzeren Abständen statt, und immer mehr Frauen beteiligten sich, bis schließlich alle in das »He-uh-he-uh-he-uh …« eingestimmt hatten und unisono dazu klatschten.

    Vor unseren Augen und Ohren begann ein Ereignis seinen Lauf zu nehmen, das die afrikanische Nacht zum Sieden brachte. Das Mokiti, das eigentlich nur dem geselligen Beisammensein diente, nahm immer mehr die Züge eines Trancetanzes an.

    Die Flammen des Feuers züngelten. Der aufsteigende Rauch riss Funken mit sich und wirbelte sie in die Höhe, bis sie sich zwischen den unzähligen glitzernden Punkten des Himmelsgewölbes verloren. Nur an wenigen Orten auf der Erde zeigt sich das nächtliche Firmament so klar und prächtig wie über der Kalahari. Selten waren uns die Sterne näher und zahlreicher erschienen. Die Buschmänner hatte das kosmische Lichtermeer schon immer zu verschiedenen Deutungen angeregt. So sahen sie zum Beispiel in einem szintillierenden Stern das flackernde Lagerfeuer eines gen Himmel aufgefahrenen Ahnen.

    Der Chor heller Frauenkehlen und das rhythmische Händeklatschen peitschten die Männer auf. Einige hatten sich bereits von der Gruppe isoliert und tanzten introvertiert vor sich hin. Ihr vornübergebeugter Körper zuckte in grotesken Verrenkungen. Sie stampften mit den Fersen in den Sand der Wüste – erst noch verhalten, das glühende Magma, das in ihnen brodelte, immer noch unter Kontrolle. Doch die Frauen stachelten die Männer aggressiv an. Ausdruckskraft und Leidenschaft ihres Gesanges nahmen zu. Mit nur kurzen Unterbrechungen brandete das »He-uh-he-uh-he-uh …« in mitreißenden Wogen durch die nächtliche Kalahari – aufreizend, leidenschaftlich. Lautstärke und Tempo schwollen an und ab. Die Hände in die Höhe gestreckt, schlugen die Frauen den Takt – heftig und schnell. Das moderate »Tack tack tack tack …« steigerte sich zu einem fetzigen »Tack tack tacktacktacktack, tack tack tacktacktacktack …«. Ein Buschmann nach dem anderen verfiel dem sirenenhaften Spiel des weiblichen Geschlechts und begann zu tanzen.

    Einige hatten sich in die Seele eines Tieres hineingetanzt und schienen sich ganz und gar wie das Tier zu fühlen. Mit ihren Gebärden stellten sie augenfällig Szenen aus der Balz- und Brunstzeit dar. So ernsthaft und leidenschaftlich, wie die Buschmänner ihren Tanz ausführten, schien er für sie viel mehr zu bedeuten als nur ein Ventil für ihre Ausgelassenheit. Ob sie die Fruchtbarkeit und damit die ständige und reichliche Verfügbarkeit ihrer Beutetiere beschwören wollten? Ein Tänzer ahmte perfekt die Gebärden eines balzenden Straußenhahnes nach, wie dieser sich auf die Beine niederlässt, mit seinen entfalteten Flügeln schlägt und den Hals hin- und her bewegt. Ein anderer hatte sich in ein Springbockmännchen verwandelt, das mit vorgestrecktem Hals und in der Luft leckender Zunge ein Weibchen verfolgt. Ein Buschmann fiel uns auf, der offensichtlich einen Gnubullen verkörperte und in der Manier seiner Reinkarnation in die Knie gegangen war, um mit einem imaginären Rivalen zu rangeln. Unmissverständlich war auch die Gestik eines weiteren Tänzers. Er war in einen Oryxantilopenbock geschlüpft, der ein Weibchen umkreist und dessen Flanke mit einem Vorderlauf berührt, um es zur Paarung aufzufordern.

    »He-uh-he-uh-he-uh …« und »Tack tack tacktacktacktack …« fetzte es. Durch den Lichtkreis des Feuers huschten die Schatten der inzwischen auf Touren gekommenen Männer, die sich jetzt hintereinander in einer Reihe, in der jeder seine Hände auf die Hüften des Vordermannes gelegt hatte, mit stampfenden Füßen um den Kreis der Frauen bewegten. Um die Fußknöchel trugen die Tänzer Ketten, die aus getrockneten Samenhülsen oder aus Kokons von Schmetterlingspuppen bestanden und im Takt der Tritte rasselten. Und wenn der Gesang einmal leiser wurde, dann hörte man die Tänzer aus heiserer Kehle leise stöhnen: »Habu habu habu …« So tanzten sie Stunde um Stunde. Und die Frauen wurden nicht müde, sie anzuheizen.

    Wir saßen im warmen Sand der Kalahari und verfolgten das energiegeladene Schauspiel wie elektrisiert. Von der Melange archaischer Geräusche, vom Lichtspiel der Flammen, vom Geruch nach dem Schweiß der Tänzer und dem Rauch des Feuers ging eine primitive Kraft aus, die auch in uns diffuse Emotionen aufrührte. Irgendwo tief in den Abgründen unserer Brust musste wohl noch die Erfahrung aus einer Zeit gespeichert sein, in der auch unsere Vorfahren während nächtlicher Kulthandlungen ihre Seele auf die Reise schickten.

    An den nordwestlichen Himmel hatte sich die Sichel des zunehmenden Mondes geschoben, die sich für Waltraut und mich, die wir von der nördlichen Hemisphäre kamen, zur scheinbar verkehrten Seite öffnete. Bereits vor Stunden war die Sonne hinter dem Horizont versunken. Aber über den Spiegel des Mondes erreichte sie uns auch noch auf der Nachtseite der Erde mit ihrem Licht – abgeschwächt zwar, aber hell genug, um einen silbrigen Hauch über die nächtliche Kalahari zu legen.

    Nach einem alten Märchen der Buschmänner ist der Mond ein Faulpelz, der gern lange im Bett liegt und sich nur schwer bewegen lässt, auf die Jagd zu gehen und Nahrung für seine Familie zu beschaffen. Weil er auch noch sehr verfroren ist, kuschelt er sich nachts in die Haut einer Antilope. Seine Frau, die neben ihm liegt, hat nichts, womit sie sich warm halten kann. Pfiffig, wie sie aber ist, zerrt sie die Antilopenhaut Stück für Stück zu sich herüber, sodass ihr Mann nach zwei Wochen ganz nackt daliegt. Das ist immer dann der Fall, wenn er den Menschen auf der Erde als Vollmond erscheint. Klamm vor Kälte, holt sich der Mond die Antilopenhaut peu à peu wieder zurück. Zwei Wochen braucht er, bis er sie wieder ganz für sich hat: Von der Erde aus betrachtet ist dies die Zeit des Neumonds. Nach dieser langen Zeit sind die Kinder so hungrig, dass sie nolens volens die Haut der Antilope verzehren. Nun ist der arme Mond gezwungen, eine neue Antilope zu erlegen, damit er sich aus ihrer Haut wieder eine Decke herstellen kann. Und seine Familie kann sich freuen, dass sie wieder etwas Vernünftiges zu essen bekommt.

    Die Buschmänner tanzten mit großer Hingabe. Die physische Anstrengung musste immens sein. Ihre Körper badeten in Schweiß, der im Widerschein des Feuers blutrot aussah. Die Zeremonie erreichte ihren Höhepunkt, als einer der Tänzer plötzlich zu Boden stürzte, einen erstickten Schrei ausstieß und dann in Ohnmacht fiel. Blut floss aus seiner Nase. Er hatte offensichtlich die Trancephase durchschritten.

    Bedingungen, unter denen sich der hypnoseartige Dämmerzustand der Trance einstellen kann, sind ein Sauerstoffdefizit im Blut sowie ein erhöhter Blutdruck und Puls. Will ein Tänzer diesen Zustand erreichen, reduziert er seine Atmung, ohne die körperliche Belastung auszusetzen. Die Trance kann bei abnehmender Pumpleistung des Herzens in Ohnmacht übergehen. Im Trancezustand soll die Seele für eine Begegnung mit den spirituellen Kräften der Natur bereit sein.

    Mit welchen guten oder bösen Geistern der Entschwebte Kontakt aufgenommen hatte, blieb uns natürlich verborgen. Nach dem Glauben der Buschmänner werden viele Verrichtungen im täglichen Leben von Geistern beeinflusst. Ein Trip zu den Unsichtbaren gleicht wohl einer Besiegelung oder Erneuerung der Verbundenheit zweier Welten, der natürlichen und der übernatürlichen. Zweifellos spielt das Nützlichkeitsprinzip dabei eine entscheidende Rolle, denn die Geister können Hilfe leisten, Kraft und Heilungsenergie verleihen oder das Jagdglück fördern. Allerdings fallen nur wenige Männer während eines Tanzes in den Trancezustand. Nur wer ihn erreicht, kann die Geister der Welt sehen und mit ihnen kommunizieren.

    Der bewusstlose Tänzer wurde von einigen Frauen aus dem Lichtkreis des Feuers getragen. Was dann mit ihm geschah, entzog sich unseren Blicken.

    Uns brannten die Augen vom angestrengten Hinsehen. Wir zogen uns ins Zelt zurück und legten uns auf unser Feldbett. Die Buschmänner tanzten ununterbrochen weiter. Das Mokiti sollte bis zum Morgengrauen andauern. Der Schein des Feuers projizierte flackernde Schatten von den Tänzern auf die Zeltwand, und die urtümlichen Geräusche drangen ungefiltert in unsere Ohren. Mit dem »Heuh-he-uh-he-uh …«, dem »Tack tack tacktacktacktack …« und dem Stampfen und Rasseln wehten unsere Gedanken in eine Welt voll ursprünglicher Formen und Farben hinüber, die so nahe an den Träumen lag, dass wir schon bald in den Schlaf sanken. Die Geräusche eines Mokititanzes waren wohl das außergewöhnlichste Wiegenlied, das uns je in unserem Leben dargebracht wurde.

    Helmperlhühner, Rotschnabelfrankoline und Rotaugentokos hatten mit ihrem lauten Spektakel die Dunkelheit vergrault. Dann schwang sich die Sonne empor, und ein strahlender afrikanischer Morgen erwachte. Die Luft war erfüllt vom Gurren der Tauben und den Pfeifsequenzen des Halsbandbartvogels. Das prächtige gelbe Gras stand da wie reifes Korn. Aus den weißen Glutresten des Feuers vom Mokiti stieg eine dünne bläuliche Rauchsäule senkrecht in die Luft empor, aus der die Kühle der Nacht langsam entwich und in der ein warmer Hauch die Hitze des Tages bereits zaghaft ankündigte. Drei Buschmänner kauerten etwas abseits im Gras und pafften ihre Eisenrohrpfeife. Syd montierte am Landcruiser herum, und Abonini, dessen Kopf unter einer Mütze aus dem Balg eines Schakals halb verschwunden war, schaffte totes Holz für das kleine Campfeuer herbei, auf dem Georgie Spiegeleier, Speck und Pfannkuchen für das Frühstück briet.

    Georgie war ein etwa 40-jähriger Batawana und hatte auf diesem Trip den Job des Kochs und Truckdrivers. Sein Markenzeichen waren zwei vorstehende Schneidezähne. Wenn Georgie beim Lachen die Oberlippe hochzog, präsentierten sich seine schneeweißen Hauer in ihrer ganzen Pracht und wurden in seinem glänzenden, dunkelbraunen Gesicht zum Blickfang. Da sie an die Stoßzähne eines Elefanten oder die Gewehre eines Warzenschweins erinnerten, neckten wir Georgie immer mit Spitznamen wie »Elephant« oder »Old Warthog«. Meistens lachte er dann herzlich und schob die spöttische Anrede mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite.

    Wir hatten uns zum Frühstück am Feuer versammelt. Auch die drei Buschmänner waren eingeladen. Syd forderte Georgie auf, ihnen Teller, Löffel und etwas zu essen zu geben. Georgie maulte. Für ihn waren Buschmänner niedere, einem Tier gleichkommende Menschen, und mit ihnen zusammen zu essen, empfand er als einen Affront. Nur widerwillig schob er ihnen das Frühstück hin. Er tat es eigentlich nur, weil er nicht noch einmal Syds Zorn zu spüren bekommen wollte. Die Wirkung des groben Rüffels, den Syd ihm einige Tage vorher verpasst hatte, war noch nicht verflogen: Da hatte Georgie, der ein Batawana war, dem Buschmann Abonini wie einem Hund einen Topf mit den Resten des Dinners vorgesetzt und ihm einen Platz zum Essen abseits des Camps angewiesen. Als Syd gewahr wurde, dass Abonini hinter einem Busch hockte und mit den Fingern die Essensreste aus einem Topf kratzte, packte ihn ein solcher Zorn, dass er sich Georgie auf der Stelle vornahm und ihn gnadenlos zusammenstauchte. Und um den Ernst seiner Rüge zu unterstreichen, drohte er ihm mit der Entlassung, wenn er noch einmal so herabwürdigend und respektlos mit Abonini umgehen würde.

    Die Zurechtweisung in Gegenwart eines Buschmannes hatte Georgie schwer getroffen. Für ihn war Syd nicht nur sein Boss, er sah in ihm auch einen Freund. Und von einem Freund hatte er diese Demütigung nicht erwartet. Normalerweise verflog die dicke Luft sofort wieder, wenn Syd ihm nach einem solchen Gewitter mit der Faust in die Seite knuffte und ihn augenzwinkernd »Old Warthog« nannte. Doch das hatte in diesen Fall nichts genutzt, denn Georgie fühlte sich von Syd zutiefst in seinem Stolz verletzt.

    Der Vorfall verriet uns etwas über die Beziehungen zwischen Bantu und San. Die Spannungen sind wohl ein Erbe aus einer zurückliegenden Zeit, in der nach und nach andere Völker den Lebensraum der Buschmänner, der sich ursprünglich bis weit in den Norden Afrikas erstreckte, für sich beanspruchten. Was wann geschah, ist nicht genau bekannt.

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