Migrationsland Schweiz: 15 Vorschläge für die Zukunft
Von Amina Abdulkadir, Michael Ambühl, Sibylle Zürcher und
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Über dieses E-Book
Das vorliegende Buch versammelt 15 Vorschläge von Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik. Ausgehend von ihrer Kenntnis, Forschung und Erfahrung formulieren die Autoren konstruktive Handlungsmöglichkeiten. Sie benennen das Potenzial, das die Migration für die Entwicklung der Schweiz hat. Und sie präsentieren
konkrete Ansätze, Beispiele und Instrumente, um die Migration in Richtung dieses Potenzials zu steuern.
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Buchvorschau
Migrationsland Schweiz - Amina Abdulkadir
INHALT
Einleitung
CHRISTINE ABBT, JOHAN ROCHEL
VORSCHLAG 1
Demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger ausweiten
WALTER LEIMGRUBER
VORSCHLAG 2
Kein Stimmrecht – trotzdem mitstimmen
JOACHIM BLATTER, CLEMENS HAUSER, SONJA WYRSCH
VORSCHLAG 3
Loyalität erhöhen durch doppelte Staatsbürgerschaft
ANDREA SCHLENKER
VORSCHLAG 4
Eine dynamische Schutzklausel entwickeln
MICHAEL AMBÜHL, SIBYLLE ZÜRCHER
VORSCHLAG 5
Asylrecht und Grenzschutz auf Europa abstimmen
SARAH PROGIN-THEUERKAUF
VORSCHLAG 6
Die rechtliche Stellung der Sans-Papiers verbessern
MARTINA CARONI
VORSCHLAG 7
Das individuelle Potenzial von Asylsuchenden wahrnehmen
CONSTANTIN HRUSCHKA
VORSCHLAG 8
Migrationswege für Flüchtlinge legalisieren
MARGIT OSTERLOH, BRUNO S. FREY
VORSCHLAG 9
Migration mit einer Gebühr schrittweise liberalisieren
STEFAN SCHLEGEL, PHILIPP LUTZ, DAVID KAUFMANN
VORSCHLAG 10
Das Land für Hochqualifizierte attraktiv machen
RETO FÖLLMI, TIMO B. DÄHLER
VORSCHLAG 11
Migration als demografischen Ausgleichsfaktor nutzen
PHILIPPE WANNER
VORSCHLAG 12
Die Anerkennung von Berufsqualifikationen vereinfachen
MARGARITE HELENA ZOETEWEIJ
VORSCHLAG 13
Eine Grundannahme der Migrationsdebatte aufgeben
ANNA GOPPEL
VORSCHLAG 14
Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft verteidigen
KATJA GENTINETTA
VORSCHLAG 15
Trau dich, Schweiz
AMINA ABDULKADIR
Einleitung
CHRISTINE ABBT, JOHAN ROCHEL
Ab Januar 2017, wenn in der Schweiz das neue Markenschutzgesetz in Kraft tritt,¹ wird aus einer italienischen Kuh ohne Probleme, blitzschnell, eine Schweizer Kuh. Bedingung dafür ist, dass die Kuh die Schweizer Grenze ordentlich passiert. Ist dieser Schritt vollzogen, wird aus dem italienischen Tier ein einheimisches, das nach dem Übertritt unmittelbar «Schweizer» Käse produzieren kann. Was in Bezug auf Tiere in naher Zukunft reibungslos funktionieren wird, eben der problemlose Wechsel nationalstaatlicher Zugehörigkeit, vollzieht sich bei Personen offenkundig nicht im selben Mass unproblematisch. Ein- und Auswanderung, Niederlassung und Bürgerrecht, aber teilweise auch schon die Durchreise durch das Land sind in der Schweiz und auch international über anspruchsvolle Verfahren organisiert. Dass Waren, Dienstleistungen, Ideen, Tiere und Pflanzen heute einfacher durch die Welt zirkulieren als Menschen, ist nicht selbstverständlich. Noch bis ins 20. Jahrhundert war es zumindest in Teilen Europas andersherum. Personen konnten sich relativ frei durch unterschiedliche Gebiete bewegen. Die Waren allerdings wurden besteuert und mussten entsprechend verzollt werden. Statt Menschen wurden damals vor allem Warengüter geschmuggelt. Heute wird der jährliche Umsatz von Menschenschmugglern, sogenannten Schleppern, auf Hunderte von Millionen Franken geschätzt.²
Zurück zur heutigen Schweiz, zum Land der Berge, Uhren, Schokolade, der exzellenten Bildung, des starken Frankens, der humanitären Tradition; zur Schweiz als Beispiel für gelebten Föderalismus, direkte Demokratie, innovative Nachhaltigkeit, eines gelingenden Zusammenspiels und Nebeneinanders von technologischem Fortschritt, kultureller Innovation, verankerten Grundrechten und traditionsreichem Heimatschutz. Bei genauerer Betrachtung ist die Schweiz in all den erwähnten Belangen vor allem ein Land des regen Austauschs, ein Land der Zu-, Ein-, Durch- und Auswanderung, ein Migrationsland eben.
Aktuell lässt sich für die Schweiz als Migrationsland ein bemerkenswertes Bild ausmachen. Einerseits ist die öffentliche Diskussion stark geprägt von der Vorstellung der Schweiz als Zuwanderungsland. Insbesondere die Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern prägen die Debatte. Tatsächlich sind laut Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon zwei Drittel im eigenen Land.³ Jeder Einzelne ist ein Individuum mit einer Geschichte, mit familiären Beziehungen, Angst vor Verletzung und Tod, Hoffnung auf ein besseres Leben sowie berechtigtem Anspruch auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Angesichts der vielen Personen, die seit einigen Jahren nun schon fliehen müssen und auf Aufnahme in einem sicheren Land hoffen, steht auch die Schweiz in der Pflicht.
Migration betrifft heute darüber hinaus jedoch sehr viel mehr Menschen. 232 Millionen sind laut der Uno gegenwärtig international als Migrantinnen und Migranten zu registrieren; das sind all jene Menschen, die sich seit mehr als zwölf Monaten ausserhalb der Grenzen jenes Landes befinden, in dem sie geboren worden sind.⁴ Diese Zahl ist gemäss den Statistiken seit 1960 stabil bei drei Prozent der Weltbevölkerung.⁵ Darunter fallen, mit Blick auf die Schweiz, auch jene Personen, die sich dazu entschliessen, die Schweiz zu verlassen, um sich an einem anderen Ort niederzulassen. In den letzten Jahren hat diese Zahl der Auswanderungen aus der Schweiz kontinuierlich zugenommen.⁶ Zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt gegenwärtig im Ausland.⁷ Diese sogenannte Fünfte Schweiz der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer umfasst mehr als 700 000 Bürger. Dass heute sogar ein Mitglied des Nationalrats offiziell seit Jahren in Berlin lebt und von dort jeweils zu den Sessionen anreist und danach wieder nach Deutschland heimkehrt, mag nur ein Indiz für die offene, weltverbundene, in Europa fest verankerte Schweiz sein, aber es ist eines.⁸ Dem unverstellten Blick zeigen sich unschwer viele weitere.
MOBILITÄT ALS FAKTUM UND TREIBENDE KRAFT
Die Grenzen der Schweiz waren stets durchlässig und Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Die Menschen, die sich zwischen den Koordinaten der geografischen oder politischen Schweiz begegneten, bewiesen in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder die Fähigkeit zur Adaption an neue Bedingungen, manchmal taten sie dies sogar fragwürdig wendig. Voraussetzung dazu war und ist die Bereitschaft und Fähigkeit, unvoreingenommen miteinander zu reden und in intensiver Auseinandersetzung gemeinsam nach tragfähigen – und das bedeutet für alle tragbaren – Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu suchen. Das Eigeninteresse ist stets zusammen mit den Interessen anderer Beteiligter zu konzipieren und zu verfolgen. «Wenn wir zusammenspannen, sind wir stärker», könnte das politische Motto der Schweiz lauten. Denn in vielen Fällen haben die Bewohnerinnen und Bewohner Mitteleuropas dies getan und die besten Ideen unabhängig von ihrer jeweiligen Herkunft übernommen und in den Alltag integriert. Bei gewissen Gerichten wie etwa Spätzle, Kebab, Sushi oder Pizza scheint uns die nationale Herkunft noch einigermassen klar bestimmbar zu sein, obwohl es auch hier schnell einmal zu Täuschungen und Fehlzuordnungen kommen kann.⁹ Wer aber brachte in Schweizer Landen zum ersten Mal den Dill zum Lachs? Welcher Gedanke wurde an welcher Stelle der Welt zum ersten Mal gedacht? Wodurch war er inspiriert und wer war mit dabei? Die Frage nach dem Ursprung von Entwicklungen führt in ein schwer durchschaubares Geflecht aus Zusammenhängen. Aus dem permanenten Prozess von Austausch, Verständigung und Vernetzung unterschiedlicher Interessen ergeben sich immer wieder modifiziert konkrete, gerechte und effiziente Entscheidungen. Auf den Schultern von Riesen fragen wir schelmisch: «Wer hats erfunden?».
Die Schweizer! Natürlich. Bleibt die Frage, wer damit gemeint ist. Wer gehört dazu, wer nicht, wer bringt was ein, wer gestaltet wie mit, wer belastet, wer beglückt, ab wann und für wie lange? Hannah Arendt macht in «Wir Flüchtlinge» darauf aufmerksam, dass es bei Migrationsbewegungen keine klaren Grenzen gibt zwischen denen, die schon da sind, und denen die kommen, um zu bleiben; zwischen denen, die weggehen, und denen, die nur kurz zu Besuch sind.¹⁰ Es ist eine Fiktion, davon auszugehen, dass neue Umstände nur die einen betreffen und die anderen nicht. Vielmehr sind alle schon längst mittendrin und mit dabei, sich umzustellen, anzupassen, einzurichten und zu verändern, wenn noch darüber verhandelt oder lamentiert wird, dass die Bereitschaft zur Veränderung fehle. Dass sich die Dinge fortlaufend wandeln, können wir nicht verhindern. Es bleibt nicht alles beim Alten, ob wir das erfreulich finden oder nicht. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet, welche Veränderung wünschbar und wie das Gewünschte umzusetzen ist. Übertragen auf Migration bedeutet es, dass wir die nationale, regionale und internationale Mobilität gleichzeitig als Faktum unserer Welt und als treibende Kraft von tiefgreifenden Umwandlungen anerkennen und uns der Frage zuwenden müssen, wie wir diese Prozesse intelligent und fair gestalten können.
MUT ZUM UMDENKEN
Das vorliegende Buch fragt nach konkreten Vorschlägen für eine offene, wohlwollende und prosperierende Schweiz. Es mischt sich damit ein in einen Diskurs über Migration, der heute ebenso von Ängsten und Befürchtungen geprägt ist wie von Idealisierung. Der Diskurs über Zuwanderung ist in vieler Hinsicht blockiert. Die Meinungen sind gemacht. Für sachliche Argumente, objektive Informationen oder neue Ideen gibt es wenig Spielraum. Um aus dieser diskursiven Sackgasse herauszukommen, braucht es einen Schritt zurück oder einen zur Seite, vermutlich sogar einen Sprung über den eigenen Schatten. Wir müssen uns zuerst von den vielen «Frames» lösen, die unsere Denkweise prägen. Wie der Linguist George Lakoff aufzeigte, wirken solche überwiegend unbewusst vermittelten Basisvorstellungen auf unsere Wahrnehmung der Realität, indem sie gewisse Eigenschaften stärker in den Fokus nehmen und andere verschwinden lassen.¹¹ Ob wir es wollen oder nicht, wir setzen uns bestimmte Brillen auf, um die Realität überhaupt wahrnehmen zu können. Der Prozess des «Framing» bringt oft eine Metapher hervor, die allein einen grossen Teil der Realität zu erklären vermag. Die Schweiz sei ein «Boot», die Mobilität eine «Welle», das Land ein «Zu-Hause». Diese sprachlichen Bilder sind mächtig, sie prägen unsere Realität und wie wir sie wahrnehmen.
«Frames» gehören zur Sprache, zur Kommunikation. Sie bilden unser Vokabular, um Herausforderungen zu identifizieren und Ansätze zu formulieren. Um den Möglichkeiten des Migrationslands Schweiz gerecht zu werden, sollten wir den Sprachgebrauch kritisch hinterfragen. Wie wäre es, wenn wir jegliche wasserbasierten Analogien in der Migrationspolitik wie Fluss, Welle, Überschwemmung oder Tsunami konsequent in Frage stellten? Würden wir langsam anfangen, anders, und vermutlich angemessener, über Mobilität zu diskutieren?
Voraussetzung für dieses Umdenken ist Mut. Es braucht politischen Mut, um auf zu einfache Muster zu verzichten und konstruktiv an Lösungen zu arbeiten. Es braucht den Mut aus der Wissenschaft, sich dem öffentlichen Diskurs zu widmen. Erkenntnisse sind erst dann gesellschaftlich nützlich, wenn sie von einer Vielfalt engagierter Akteurinnen und Akteure weitergetragen werden. Und es braucht vor allem Mut von uns allen, die wir am Projekt Schweiz und am Projekt Weltgemeinschaft teilnehmen. Alle sind aufgefordert, aus ihrer Komfortzone rauszugehen, sich zu erklären und auf andere Meinungen einzugehen.
ANGEMESSENE, TRAGFÄHIGE UND TRAGBARE LÖSUNGSANSÄTZE
Dieses Buch leistet einen Beitrag zu dieser Debattenkultur. Es versammelt Stimmen, die möglichst unaufgeregt, eigenständig und zuversichtlich Antworten entwickeln. Wie lässt sich die Schweiz im Hinblick auf Migration zukunftsfähig gestalten? Was ist zu tun, um die humanitäre Tradition und das Interesse an Prosperität wirksam zu verbinden und die Schweiz weiterhin als solidarische und starke zu verwirklichen? In diesem Buch machen Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik Vorschläge. Ausgehend von ihrer Kenntnis, ihrer Forschung und Erfahrung formulieren sie in ihren Essays konstruktive Standpunkte und konkret umsetzbare Handlungsmöglichkeiten. Dabei sind sich die Autorinnen und Autoren nicht in jedem Fall einig. Manche Vorschläge stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, einzelne widersprechen sich sogar. Was die hier versammelten Texte verbindet, ist der Versuch, auf aktuell drängende Probleme angemessene, tragfähige und möglichst für alle tragbare Lösungen zu finden.
Das ist der gemeinsame Nenner der am Buch Mitwirkenden: der Wille, zusammen möglichst frei von Dogmen, Programmen und Vorurteilen nach Lösungen zu suchen, die Grausamkeit und Leid reduzieren und Freiheit, Zuverlässigkeit, Wachstum und Solidarität stärken. Diese minimale und hier nur allgemein skizzierte gemeinsame Grundlage legen wir den Leserinnen und Lesern mit diesem Band zur kritischen Prüfung vor, in 15, teils divergierenden Konkretisierungen. Wir möchten an dieser Stelle einen 16., im Titel nicht genannten, aber für eine zukunftsfähige und offene Schweiz in unseren Augen unverzichtbaren Vorschlag ergänzen: Jeder ernsthaft vorgebrachte Beitrag zur Lösung sollte wohlwollend geprüft und in die Lösungsfindung miteinbezogen werden.
Vor wenigen Jahren noch schien es zum Beispiel wenig realistisch, für Sans-Papiers eine deutliche Verbesserung ihres rechtlichen Status zu erreichen. Wie kann jemand, der sich nicht legal an einem Ort aufhält, trotzdem seine Grundrechte geltend machen? Wie lässt sich der Widerspruch zwischen international verankertem Menschenrecht und nationalstaatlich organisierter Durchsetzung von Recht und Gesetz in Einklang bringen? Wie kann verhindert werden, dass sich Schweizer Staatsbürger auf Kosten anderer ungeschoren bereichern, diese ausnehmen, vergewaltigen, erpressen? Immer wieder suchten Engagierte weltweit nach juristischen und politischen Lösungen für den für die Betroffenen und die gesamte Gesellschaft unhaltbaren Zustand. Seit 2015 gibt es nun in New York das Pilotprojekt «Urban Citizenship».¹² Die Stadtbehörde stellt den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Art Identitätskarte aus, die einen juristischen Status gewährleistet. Für viele Menschen in New York verbessern sich damit die Sicherheit und Lebensqualität massgebend.¹³ Für die gesamte Stadtbevölkerung ist es zudem gut, wenn sich niemand folgenlos auf Kosten anderer bereichern kann, indem Rechtsgleichheit durchgesetzt wird. Ein zukunftsweisendes Projekt – und eine politische Inspiration, die bis in die Schweizer Städte ausstrahlt.¹⁴ Um vergleichbare Ansätze geht es in den nachfolgenden Essays, die sich bei aller sonstigen Verschiedenheit in Bezug auf das Vertrauen in die Überzeugungskraft guter Gründe und die Plausibilität allgemein nachweisbarer Fakten ähnlich sind.
In manchen Teilen der Gesellschaft wird im Zusammenhang mit Migration öffentlich vorwiegend im Modus des Imperativs gesprochen. «Ausländer raus!», «Grenzen zu!», «Haut ab!». Diese Art des Sprechens verweigert sich offensichtlich einer Kommunikation zwischen Personen auf Augenhöhe. Der Andere ist in dieser Form bereits erledigt. Das Gespräch, öffentlich oder privat, wird als überflüssig denunziert. Aber auch dort, wo der Dialog oder die Debatte über Migrationsfragen zustande kommt, wird auffallend oft im Modus des Negativen gesprochen. Auf der einen Seite heisst es: «Sie dürfen nicht kommen!», «Sie integrieren sich nicht!», «Sie sprechen kein Deutsch!», «Sie dürfen uns die Arbeitsplätze und Wohnungen nicht wegnehmen!». Auf der anderen Seite ist zu vernehmen: «Wir dürfen keine Mauern bauen!», «Wir respektieren sie zu wenig!», «Wir bieten den Ankommenden keine Unterstützung!», «Wir behandeln Flüchtlinge nicht wie Menschen!». Dieser negativen Sprechweise setzt der vorliegende Band eine möglichst positive entgegen. Von Interesse ist weniger, was nicht getan werden darf oder was unmöglich ist. Von Interesse ist das Mögliche und Machbare. Es geht um Sichtweisen und Ideen, die aufzeigen, was unvoreingenommen betrachtet getan werden kann und soll, zum Wohle möglichst aller.
DEN SINN FÜR DAS POLITISCH MÖGLICHE SCHÄRFEN
Was sollen wir tun? Diese Frage stellen sich Politiker häufig. Auch als Bürgerinnen und Bürger sind wir damit konfrontiert. Forschende haben sich mit dieser Frage ebenfalls auseinandergesetzt. Sie sind ständig auf der Suche nach besseren Erklärungen, Hypothesen, Modellen, um der Realität gerecht zu werden. Ihre Forschung liefert auch Antworten auf die Frage, was getan werden soll. Nur werden diese Antworten selten direkt ins Politische übersetzt. Einerseits sind die Forscherinnen und Forscher ihrerseits an diesem Dialog nicht immer interessiert und sehen häufig keinen Anreiz, daran teilzunehmen. Auf der anderen Seite neigen die politischen Entscheidungsträger oft dazu, solide Erkenntnisse der Wissenschaft ausser Acht zu lassen. Dieser verpasste Dialog äussert sich in vieler Hinsicht nachteilig und verursacht nicht zuletzt Kosten für die Gesamtgesellschaft. Wenn Ökonomen beispielsweise darlegen können, dass die einzelnen Stücke des gemeinsamen Kuchens nicht zwingend kleiner werden, wenn mehr Leute am Tisch sitzen und mitessen, weil nämlich der ganze Kuchen auch grösser wird, wenn mehr Leute mitbacken, dann liefern diese ökonomischen Ergebnisse durchaus Anhaltspunkte für eine Politik der Öffnung.¹⁵ Oder wenn Philosophen überzeugend nachweisen können, dass die Argumentation für eine restriktive Zuwanderung systematische Parallelen aufweist zur Argumentation der feudalen Oberschicht gegenüber Forderungen nach politischer Partizipation im 18. Jahrhundert, dann hat das durchaus aktuelle Implikationen.¹⁶ Oder wenn ein Team von Politikwissenschaftlern empirisch belegt, dass ein erfolgreiches Einbürgerungsverfahren die Bereitschaft, sich zu engagieren, massiv erhöht, dann könnten daraus konkrete politische Schlüsse gezogen werden.¹⁷ Diese fundierte Kenntnis kann ebenso öffentliche Relevanz beanspruchen wie etwa die Ergebnisse einer soziologischen Erhebung, die ergibt, dass der Grad an Selbstdiskriminierung ausländischer Jugendlicher und junger Erwachsener stark mit deren beruflichen Chancen korreliert.¹⁸ Der Sinn für das politisch Mögliche wird geschärft, wenn ein Historiker zeigen kann, dass die sympathischen Nachbarn von heute die unerwünschten Zuwanderer von damals sind,¹⁹ oder wenn ein Künstler mit seiner Installation einen Raum so zu verwandeln vermag, dass aus einem gefährlichen Spielplatz im Problemquartier ein belebter Ort der Begegnung und des Zusammenseins resultiert.²⁰ Der Einbezug von Erfahrung, Wissen, Reflexion, Kreativität, Sprachvermögen und Risikobereitschaft ist zentral für Forschung und Innovation. Er ist unverzichtbar und orientierend auch für die Politik und für die Debattenkultur eines Landes.
Die Autorinnen und Autoren dieses Buches tragen zu dieser Debattenkultur bei. Sie analysieren Problemfelder und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf. Sie formulieren 15 Vorschläge für die Zukunft und richten sich damit fragend und zum Gespräch einladend an alle.
Christine Abbt ist SNF-Förderprofessorin für Philosophie an der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind