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Das Schweigen der Aare: Kriminalroman
Das Schweigen der Aare: Kriminalroman
Das Schweigen der Aare: Kriminalroman
eBook353 Seiten4 Stunden

Das Schweigen der Aare: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Als die mittlere der drei Manaresi Töchter tot am Aareufer gefunden wird, droht das bisher beschauliche Leben der Familie von einem Tag auf den anderen aus den Fugen zu geraten. Ein dunkles und lange gehütetes Geheimnis aus der Vergangenheit entwickelt sich zu einer tödlichen Gefahr. Lisa, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern und älteste der Manaresi Töchter, stemmt sich als einzige, zusammen mit ihrem Kollegen Thomas Zigerli, gegen die bevorstehende Katastrophe. Kann sie das Geheimnis lüften, bevor sie selbst zum Opfer wird?
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum7. Apr. 2021
ISBN9783839267103
Das Schweigen der Aare: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Das Schweigen der Aare - André Schmutz

    Zum Buch

    Vergessenes Geheimnis Unterhalb der Berner Kirchenfeldbrücke wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Es handelt sich um Siri, die jüngste Tochter der Familie Manaresi. Ein Abschiedsbrief lässt keine Zweifel an ihrem Suizid offen. Die Berner Kriminalpolizei schließt die Ermittlungen deshalb rasch ab. Lisa, die älteste der Manaresi Schwestern und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern, glaubt nicht an die Selbstmordthese und beginnt, gemeinsam mit ihrem Arbeitskollegen Thomas Zigerli, auf eigene Faust zu ermitteln. Als kurz darauf Alva, ihre andere Schwester, entführt wird, entdeckt Lisa durch Zufall ein dunkles Familiengeheimnis. Doch bevor sie sich der drohenden Gefahr bewusst werden können, geraten Lisa und Thomas in einen Strudel blutiger Verbrechen. Bald befinden sich beide selbst in Lebensgefahr.

    André Schmutz, Jahrgang 1966, ist in Ueberstorf, einem idyllischen Ort im Umfeld der beiden Zähringerstädte Bern und Freiburg, aufgewachsen. Nach seinem Pharmaziestudium und anschließender Promotion hat er sich viele Jahre in der Pharmaindustrie mit Impfstoffen beschäftigt. Seine Liebe zum Schreiben entdeckte er bereits in seiner Kindheit. Erst viele Jahre später verwirklichte er einen Lebenstraum und begann mit dem Schreiben eines Kriminalromans. In seinem Debüt ermitteln die beiden ungleichen Hauptfiguren Lisa Manaresi und Thomas Zigerli in einer Serie perfider Verbrechen gegen Lisas eigene Familie.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

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    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © ramius / stock.adobe.com

    ISBN 978-3-8392-6710-3

    Widmung

    Für meine Tochter Anaïs

    Prolog

    An meine Lieben

    Nie hätte ich gedacht, dass ich mich auf diese Art von euch verabschieden werde. Es geht nicht auf eine andere Weise – ihr würdet mich nicht verstehen. Seit vielen Monaten ruft mich eine Stimme aus einer wunderschönen Welt. Eine Welt ohne Krieg, Verbrechen und Tod. Ewiges Leben und ewiger Friede erwarten mich dort. Ich will nicht länger warten. Das Leben hier auf der Erde – auch in der kleinen heilen Schweiz – ist voller Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Leid. Egoismus regiert. Dies ist nicht der Ort wo ich sein will. Die schöne, andere Welt ist keine Illusion. Es gibt sie. Deshalb trauert nicht um mich. Ich werde dort glücklich sein.

    Lebt wohl!

    Siri

    Kapitel 1

    Bern, 15. November 2019, 07:10

    Das Wasser der Aare schimmerte grün und klar in der eisigen Morgenluft. Wäre nicht der bösartige, bitterkalte Novemberwind gewesen, wären bei Peter Siegenthaler auf seinem allmorgendlichen Spaziergang im Berner Mattequartier romantische Herbstgefühle aufgekommen. Der Rentner war wieder besonders früh unterwegs, es war erst kurz nach 7 Uhr. Bis vor wenigen Minuten hatte es geregnet. Die Feuchtigkeit beherrschte das Aareufer in Form von dichten, düsteren Nebelschwaden. In Gedanken war Siegenthaler bereits bei seinem Espresso in der warmen Stube.

    »Noch zehn Minuten«, murmelte er zu sich selbst. Er steuerte vom Schwellenmätteli direkt auf die Dalmazibrücke zu. Direkt unterhalb der Kirchenfeldbrücke wurde er jäh aus seinen Träumereien gerissen.

    »Was zum Teufel …« Die weiteren Worte blieben dem alten Mann im Halse stecken. Keine drei Meter vor ihm lag die schrecklich entstellte Leiche einer jungen Frau. Das Gesicht war nicht mehr als solches zu erkennen. Der linke Arm und das rechte Bein sahen aus, als ob man ihr diese ausgerissen und anschließend wieder an den Körper gelegt hätte. Siegenthaler merkte, dass seine Knie weich wurden. Alles um ihn herum begann sich zu drehen – der gute Mann stand unter Schock. Es dauerte fast zwei Minuten, bis der Rentner wieder einen einigermaßen klaren Gedanken fassen konnte.

    »Von der Kirchenfeldbrücke muss die gesprungen sein«, nuschelte er zu sich selbst.« Dabei sind doch vor einiger Zeit diese neumodischen Fangnetze montiert worden.« Und trotzdem. Die wollte sich um jeden Preis umbringen, wenn sogar die Fangnetze sie nicht aufhalten konnten, dachte sich der morgendliche Spaziergänger.

    Statt zu seinem ersten Espresso machte sich Siegenthaler zur Wache der Kantonspolizei am Waisenhausplatz auf.

    Ich hätte dieses neue kleine Telefon mitnehmen sollen. Dann könnte ich direkt von hier die Polizei oder zumindest meine Frau anrufen, ärgerte sich der alte Mann.

    Auf der anderen Seite würde ich damit eingestehen, dass diese Mobiltelefone doch eine feine Sache sind … Siegen­thaler hatte sich in der Vergangenheit standhaft geweigert, ein Handy zu benutzen.

    »Teufelszeug mit gefährlicher Strahlung, Krebsbeschleuniger«, waren seine Argumente bei Erika, seiner Frau. Der ganzen Familie hatte er erklärt, dass er deshalb nie in seinem Leben ein Mobiltelefon benützen und erst recht keines anschaffen werde. Der wahre Grund – Siegenthaler war ja kein Hinterwäldler – hatte mit seinem täglichen Frühschoppen-Ritual zu tun. Durch die ständige Erreichbarkeit, welche mit einem Mobiltelefon einherging, hätte sich der Rentner des Öfteren von Erika nach Hause pfeifen lassen müssen. Speziell dann, wenn der vormittägliche Umtrunk mit seinen Kollegen ein bisschen länger dauerte.

    Man kann sich die kleinen Freuden im Leben auch selbst nehmen, hatte er sich immer wieder eingestanden.

    »Wo liegt diese Leiche nun ganz genau»? Es war der dritte Versuch von Kommissar Werner Trachsel, seines Zeichens Chef des Dezernats Leib und Leben der Berner Kriminalpolizei, von Siegenthaler eine brauchbare Antwort zu erhalten.

    »An der Aare unten ist etwas Schreckliches passiert«, hatte ihm Siegenthaler berichtet.

    Gefühlte zwei Stunden später – in Realität waren es weniger als vier Minuten – hatte Trachsel in Erfahrung gebracht, dass beim Schwellenmätteli eine junge Frau mutmaßlich von der Kirchenfeldbrücke gesprungen war und zerschmettert am Rande des Dalmaziquais lag.

    Es war kurz vor 8 Uhr, als Trachsel an der Aare bei der Frauenleiche eintraf.

    Ein Wunder, dass hier nicht bereits der Teufel los ist, ging es dem Kommissar durch den Kopf. Er hatte erwartet, auf eine Horde Gaffer und Schaulustige zu treffen. Erfahrungsgemäß hätte er dann eine halbe Stunde gebraucht, um das sensationsgierige Pack aus dem ermittlungstechnisch gesperrten Bereich zu schaffen. Er wäre mit den Nerven bereits am Ende gewesen, bevor die Ermittlungen überhaupt losgingen.

    Zwar waren keine Sensationshungrigen hier, dafür aber Siegenthaler. Dieser trotzköpfige Rentner hatte Trachsel auf der Wache so lange drangsaliert, bis dieser einwilligte, dass Siegenthaler mit zur Spurensicherung kommen durfte.

    »Schließlich habe ich die Leiche entdeckt, und nur ich weiß, wo sich diese ganz genau befindet«, meinte Siegenthaler.

    Möglicherweise wird der Tag doch nicht so toll werden, ging es Trachsel durch den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er nicht, dass er diesen Novembertag nie mehr vergessen würde.

    Trachsel hatte schon viele Selbstmörder unterhalb einer der schönen Brücken Berns einsammeln müssen. Der Anblick der meistens schrecklich entstellten Körper machte ihm schon lange nichts mehr aus. Er war es gewohnt. Routine.

    Etwas an dieser Frauenleiche war anders als bei all den anderen zerschmetterten Körpern. Trachsel konnte aber nicht sagen, was dies war. Tief in seinem Inneren war eine Stimme, die ihm einen Hinweis geben wollte. Er konnte sie nicht verstehen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass dieser unmögliche Siegenthaler wie eine Musikspieldose unaufhörlich neben ihm quasselte. Am liebsten hätte er ihm den Hals umgedreht.

    »Hallo, Werner, ich hätte nicht gedacht, dass du im November schon morgens um 8 Uhr an der Aare bist. Aus dir wird noch ein richtiger Morgenjogger.« Abrupt wurde Trachsel aus seinen Tagträumen gerissen. Max Mäusezahl war Mitarbeiter im Dezernat Leib und Leben und dort zuständig für Spurensicherungen. Er liebte es, seinen als argen Morgenmuffel bekannten Chef zur Weißglut zu bringen.

    »Dir würde ein bisschen Bewegung auch guttun. Wenn du weiter so zulegst, werden wir auf der Wache schon bald breitere Türen einbauen müssen«, konterte Trachsel.

    »Ein Wärmepolster für den kommenden Winter hat noch nie geschadet.«

    »Die eigenen Fitness- und Essgewohnheiten scheinen die Herren mehr zu interessieren als die hier am Boden liegende Leiche«, meldete sich Siegenthaler.

    Mäusezahl und Trachsel blickten sich kurz an, beide schwiegen. Keine Viertelstunde später war die Identität der Leiche geklärt. Die junge Frau hiess Siri Manaresi. Sie war 21 Jahre alt, eingebürgerte Italo-Schwedin und lebte zusammen mit ihrer um zwei Jahre jüngeren Schwester Alva bei ihren Eltern im Altenbergquartier. Siri hatte an der Universität Bern Französische Literatur und Sportwissenschaften studiert. Ihre ältere Schwester Lisa war bereits ausgezogen und lebte alleine in einer Studiowohnung im Länggassquartier.

    Trachsel beschloss, direkt zu Fuß zum Altenbergrain zu gehen, um den Eltern von Siri die Todesbotschaft zu überbringen. Viel schlimmer als der Anblick von entstellten Leichen war das Überbringen einer Todesnachricht. Die Reaktion der Betroffenen war unberechenbar. Die schlimmste Erfahrung, welche Trachsel dabei gemacht hatte, lag knapp drei Jahre zurück. Er musste einem jung verheirateten Paar den Tod ihrer vierjährigen Tochter mitteilen, welche am Aargauerstalden mit dem Fahrrad gestürzt und von einem Touristenbus aus der Slowakei überrollt worden war. Die jungen Eltern waren komplett ausgeflippt. Sie hatten Trachsel, den Überbringer der schlechten Nachricht, in einem Hagel von Honig-, Senf- und Essiggurkengläsern aus der Wohnung geprügelt. Trachsel verbrachte im Anschluss zwei Tage im Universitätsspital Bern, wo ihm die Ärzte mehrere Schädelprellungen, eine gebrochene Nase und ein verletztes Auge behandeln mussten.

    Deshalb war es nicht verwunderlich, dass der Daumen ein bisschen zitterte, als Trachsel die Klingel bei Familie Manaresi betätigte. »Elin und Luca Manaresi« stand auf dem hübschen Schildchen neben dem Klingelknopf. Als sich kurz darauf die Tür öffnete, blickte Trachsel in das Gesicht einer attraktiven lächelnden Frau. Elin Manaresi hatte sich längst daran gewöhnt, dass Männer bei ihrem Anblick zuweilen komisch reagierten. Trotz ihrer mittlerweile 52 Jahre war Elin immer noch eine umwerfende nordische Schönheit. Ihre naturblonden schulterlangen Haare, die tiefblauen Augen, die feingeschnittene Nase und die kleinen Wangengrübchen, welche sie oft mit einem freundlichen Lächeln zur Schau stellte, machten sie auf Anhieb sympathisch. Ursprünglich stammte sie aus einer reichen Familie der schwedischen Oberschicht. Sie hatte in Stockholm Betriebswissenschaft studiert und arbeitete heute in Bern als Marketingverantwortliche für ein internationales Unternehmen.

    »Guten Tag, Frau Mana…resi«, stammelte Trachsel. »Entschuldigen Sie die frühe Störung. Darf ich kurz hereinkommen? Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.«

    »Ich weiß«, antwortete Elin. »Sie kommen wegen Siri, nicht wahr?«

    Für einen Moment war Trachsel konsterniert, hatte sich aber rasch wieder gefangen.

    »Ja, ich komme wegen Ihrer Tochter Siri. Man hat ihren Körper heute Morgen am Dalmaziquai unterhalb der Kirchenfeldbrücke gefunden. Tot.«

    Elin Manaresi nahm die Worte völlig gefasst auf. Schweigen. Nach ein paar endlosen Momenten konnte Trachsel ein leises Nicken feststellen und sah, wie sich Elins Augen langsam mit Tränen füllten.

    »Siri hat sich das Leben genommen. Hat sie sich von der Kirchenfeldbrücke gestürzt?«, fragte Elin.

    »Alle Indizien deuten darauf hin«, entgegnete Trachsel.

    »Dann war es doch nicht nur ein schlechter Scherz …«, murmelte Elin abwesend und blickte an Trachsel vorbei direkt in die giftgrüne Aare.

    Kapitel 2

    Bern, Länggassquartier, 15. November 2019, 07:20

    Das Schrillen des Weckers traf Lisa in tiefstem Schlaf. Üblicherweise war der Wecker bloß Dekoration. Lisa Manaresi erwachte regelmäßig kurz vor 7.15 Uhr und stellte den verhassten Wecker aus, bevor ihr dieser mit seinem zornigen Läuten den Tag vermiesen konnte. Es war ohnehin eine unruhige Nacht gewesen. Lisa war gegen Morgen zweimal kurz hintereinander aus dem Schlaf aufgeschreckt, unmittelbar danach aber wieder eingeschlafen. Sie konnte sich weder an einen Traum und schon gar nicht an einen Albtraum erinnern. Am Vorabend hatte sie weder zu viel getrunken noch etwas Schweres gegessen. Seltsam. Lisa war für ihren Murmeltierschlaf bekannt.

    Es war gegen 8.30 Uhr als sich Lisa nach einem starken Espresso auf ihr Fahrrad schwang und Richtung Innenstadt auf den Weg zur Arbeit machte. Die nächtliche Episode war bereits wieder vergessen.

    Lisa war die älteste Tochter der Familie Manaresi. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Deshalb konnte sie richtig hartnäckig, manchmal auch stur sein. Daneben besaß sie einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einen trockenen Humor. Lisa hatte viel vom Aussehen ihrer Mutter geerbt. Einzig die Haare waren nicht blond, sondern dunkelbraun, fast schwarz. Diese Erbschaft kam zweifellos aus Italien. Ihre große Schwäche – vermutlich auch ein Erbe ihres Vaters – war italienisches Essen. Etwa seit ihrem 20. Geburtstag machten sich die Genüsse aus Bella Italia bemerkbar. Lisa brachte ein paar Pfunde zu viel auf die Waage. Für viele ihrer Freunde machte sie dies nur umso sympathischer und attraktiver.

    An der Universität Freiburg hatte Lisa Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert und vor einem halben Jahr mit dem Master abgeschlossen. Sie arbeitete seit etwas mehr als vier Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern. Lisa untersuchte zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten den Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelmissbrauch und dem Begehen von Straftaten.

    Als Lisa gegen 8.45 Uhr auf der Wache am Waisenhausplatz eintraf, spürte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie in ihr Büro trat. Thomas Zigerli, ihr Teamkollege, mit welchem sie auch ihr Büro teilte, wartete bereits ungeduldig auf sie.

    »Lisa, Lisa, du sollst dich sofort bei Trachsel melden. Er war vor ein paar Minuten hier und zeigte sich total aufgeregt.«

    »Ich muss zuerst rasch eine E-Mail schreiben. Ich werde im Anschluss zu ihm gehen.«

    »Er hat aber so ausgesehen, als ob es echt dringend wäre.«

    »So dringend, dass es nicht zehn Minuten warten könnte, wird es kaum sein.«

    »Das musst du wissen, ich habe dich jedenfalls infor…« Weiter kam Zigerli nicht.

    »Frau Manaresi, hat man Ihnen nicht ausgerichtet, sich unverzüglich bei mir zu melden?«, platzte Trachsel urplötzlich in die Unterhaltung der beiden. »Kommen Sie mit, ich habe eine ultradringende Information für Sie.«

    »Okay, okay, ich komme,« maulte Lisa. Widerwillig folgte sie Trachsel in sein Chefbüro.

    »Wollen Sie sich setzen? Leider habe ich eine schlimme Nachricht für Sie.«

    »Nein danke, ich stehe lieber.«

    »Wie Sie wollen. Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir heute Morgen Ihre Schwester Siri tot aufgefunden haben.« Trachsel berichtete in knappen Sätzen von der ursprünglichen Meldung des Spaziergängers, vom Leichenfund an der Aare und vom Besuch bei ihrer Mutter Elin.

    »Es deutet alles auf einen Suizid hin«, meinte Trachsel. »War Ihnen bekannt, dass Ihre Schwester psychische Probleme hatte? Gab es andere Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?«

    »Was soll der Unsinn? Siri sprühte vor Lebensfreude. Sie war überall beliebt, gesund und stand mit beiden Füßen fest im Leben. Nie würde sich meine Schwester umbringen.«

    »Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem scheint aktuell ein Suizid aufgrund des Sturzes von der Kirchenfeldbrücke die wahrscheinlichste Todesursache. Selbstverständlich werden wir auch alle anderen Möglichkeiten prüfen«, fügte Trachsel hinzu. Seine Haltung verriet Lisa, dass er den Fall schon mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Tatsächlich gingen Trachsel genau diese Gedanken durch den Kopf.

    »Es ist immer dasselbe bei diesen Suiziden. Ich bekomme stets dieselben Antworten zu hören«, entgegnete Trachsel. »Unsere Tochter, nein, nie würde sie sich das Leben nehmen. Sie ist glücklich und eine starke Persönlichkeit. Immer das Gleiche.« Zum wiederholten Mal erklärte Trachsel, was sich beim Erhalt einer schlechten Nachricht beim Empfänger abspielte. Der überhebliche, vor Selbstvertrauen strotzende Trachsel hatte keine Ahnung, dass sich dieser vermeintliche Suizid schon bald zu einem wahren Albtraum entwickeln würde.

    Kapitel 3

    Bern, Altenberg, 15. November 2019, 09:30

    Elin hatte gerade telefonisch ihren Mann Luca über den Besuch von Trachsel und ihren Fund im Zimmer von Siri informiert. Kurz bevor Trachsel bei Elin aufgetaucht war, hatte sie auf dem Pult im Zimmer von Siri einen Brief mit der Aufschrift »Für meine Lieben« gefunden. Ein Abschiedsbrief. Elin konnte nicht glauben, dass Siri ein Problem mit dieser Welt hatte. Nie hatte sie gehört, dass Siri die Welt grausam fand oder die Menschen egoistisch. Siri war von Grund auf positiv und sah immer das Gute in den Menschen und in allen Lebenssituationen. Der Inhalt des Briefes passte so ganz und gar nicht zu ihrer Tochter. Und dennoch – es war zweifelsfrei Siris Schrift.

    Sollte sie ihre Tochter dermaßen verkannt haben, ging es Elin durch den Kopf. Konnte es sein, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Siri von Problemen erdrückt wurde? Immer wieder liest man von solchen Fällen.

    Dennoch war Elin froh, Trachsel vorerst nichts über diesen Brief verraten zu haben. Ihr Ehemann Luca war da allerdings anderer Meinung.

    »Wir müssen transparent mit der Polizei kommunizieren und sie in ihren Ermittlungen so gut wie möglich unterstützen«, meinte Luca, als sie mit ihm telefoniert hatte.

    Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Aber vorhin konnte sie diesem arroganten Polizisten den Brief nicht aushändigen. Sie würde es nachholen.

    Es war kurz vor Mittag, als Elin im Büro von Chefkommissar Trachsel stand. Der konnte sein Glück kaum fassen. Mit dem Abschiedsbrief war der Fall so gut wie abgeschlossen. Zur Routine gehörte noch die endgültige Identifizierung der Leiche durch die Angehörigen und die finale Bestätigung der Echtheit des Briefes. Wenn alles gut lief, wäre dies bis morgen Abend über die Bühne. Kaum hatte Elin Manaresi die Wache wieder verlassen, tippte Trachsel seine neun Lieblingsziffern ins Mobiltelefon. Heute würde er sich in seinem Lieblingsrestaurant in der Berner Altstadt eine Emmentaler Kabiswurst mit Kartoffelsalat gönnen – zur Feier des Tages. Einen schwierigen Fall hatte er einmal mehr in kürzester Zeit souverän gelöst.

    Kapitel 4

    Bern, Schwellenmätteli, 15. November 2019, 17:30

    Lisa saß hinter der Glasfront im Restaurant Schwellenmätteli und wartete auf ihren Kollegen Thomas Zigerli. Vom eindrücklichen Rauschen der Aare, die sich weiter unten über die gewaltige Mattenschwelle wälzte, war nichts zu hören. Es schien, als wäre der Fluss verstummt.

    Thomas Zigerli war in Schwarzenburg, einer Kleinstadt im Kanton Bern, aufgewachsen. Seine Eltern führten dort seit Jahrzehnten ein kleines Kleidergeschäft. Zigerli war ursprünglich ausgebildeter Bankkaufmann. Mittlerweile arbeitete er seit einigen Jahren bei der Kriminalpolizei. Bereits kurz nach Lisas Stellenantritt wurde er zu ihrem besten Arbeitskollegen. Thomas und Lisa waren ziemliche Gegensätze. Gemeinsam war ihre Schwäche für gutes Essen. Lisa war zwar nicht die geborene Sportskanone – aber man traf sie einmal in der Woche beim Indoor-Klettern. Zigerli hingegen war der Inbegriff eines Antisportlers. »Sport ist Mord«, lautete seine Devise. Er war jemand, der alle Dinge hinterfragte. Entsprechend war er häufig am Grübeln und hatte manchmal Mühe, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren.

    Erst gegen 18 Uhr setzte sich der völlig durchnässte Zigerli an den Tisch von Lisa. Draußen hatte es im Verlauf des Nachmittags begonnen, wieder wie aus Kübeln zu schütten. Ganz so, als ob der liebe Gott die Spuren des Sturzes von Siri so rasch und so endgültig wie möglich aus der Welt schaffen wollte. In wenigen Sätzen schilderte Lisa Thomas, was sie bis anhin über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester wusste. Sie schloss mit der Bemerkung, dass sie nicht an einen Suizid glaubte.

    »Und du bist dir absolut sicher, dass Siri nicht doch ein schwerwiegendes, belastendes Problem hatte?«, entgegnete Thomas.

    »Ja, ich kenne Siri. Sie war nicht jemand, der Probleme mit sich herumtrug. Wenn sie etwas derart tief beschäftigt hätte, hätte sie dies mit mir geteilt. Da bin ich mir zu 100 Prozent sicher.«

    »Jeder Mensch hat Geheimnisse. Vielleicht wollte Siri der eigenen Familie einfach nicht zur Last fallen, gerade weil die Probleme sehr ernst waren. Sie wusste, dass so etwas die anderen Familienmitglieder stark belasten würde.«

    »Du tönst, als ob du bei der Polizei arbeiten würdest. Es gibt einen vermeintlich einfachen Lösungsweg. Dieser wird von ein paar Indizien gestützt, und schon ist der Fall ohne großen Aufwand gelöst.« Lisa redete sich allmählich in Rage.

    »Jetzt beruhige dich doch«, versuchte Zigerli, sie zu beschwichtigen. »Es deutet einfach alles auf einen Suizid hin. Ich verstehe ja auch, dass dies schwer zu akzeptieren ist. Und überhaupt – ja ich arbeite bei der Polizei – du übrigens auch …«

    Es war diese letzte Bemerkung, welche Lisa zur Explosion brachte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sie in weniger als zehn Sekunden das Lokal verlassen. Die Zeit hatte allerdings gereicht, um dem verdutzten Zigerli den kalt gewordenen Latte Macchiato über seine beginnende Glatze zu kippen.

    Auch der kalte Novemberregen konnte Lisa vorerst nicht beruhigen. Ihr italienisches Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, brachte sie des Öfteren in Schwierigkeiten. In der Regel waren diese Emotionen aber positiv. Sie halfen Lisa, Geschehenes zu verarbeiten. Und sie machten Lisa auch zu einer Person, welche bei allen Leuten sehr beliebt war, da sie ihre Gefühle wie ein offenes Buch mit sich herumtrug.

    »Ich werde den Fall alleine aufklären«, murmelte Lisa gedankenverloren zu sich selbst. Sie beschloss, trotz des immer stärker werdenden Regens und der Dunkelheit, sich nochmals den nahen Fundort der Leiche unter der Kirchenfeldbrücke anzuschauen. Mittlerweile waren bereits alle Absperrbänder entfernt. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor ein paar Stunden eine junge Frau zu Tode gekommen war. Wie jede Nacht verwandelte die majestätische Aare die sich spiegelnden Lichter der Stadt in glitzernde Sterne.

    War Siri überhaupt durch den Sturz von der Brücke gestorben? War sie vielleicht schon vorher tot und erst danach von der Brücke geworfen worden?, ging es Lisa plötzlich durch den Kopf. Sie überlegte sich, dass es nicht schaden könnte, auf die Kirchenfeldbrücke zu steigen und sich die vermeintliche Absprungstelle genauer anzusehen. Gedacht, getan. 15 Minuten später inspizierte die bereits bis auf die Unterwäsche durchnässte Lisa den Abschnitt auf der Brücke, welcher für einen Absprung hätte infrage kommen können. Sie war erstaunt, wie breit das Fangnetz an jeder Stelle gespannt war. Es war unmöglich, direkt vom Brückengeländer über das Fangnetz in die Tiefe zu springen. Das heißt, man musste zuerst auf das Fangnetz springen, anschließend bis zu dessen Ende kraxeln und sich im Anschluss in die Tiefe stürzen. Nicht gerade die Selbstmordvariante »kurz und schmerzlos«. Da gab es in der Umgebung von Bern passendere Brücken.

    Lisa leuchtete nochmals das Fangnetz mit ihrer kleinen Taschenlampe ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, dass hier kürzlich jemand über das Netz gerobbt war. Nichts. Lisa beschloss, das Bad im Regen zu beenden und in ihre kleine warme Studiowohnung zurückzukehren. Grübelnd machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.

    Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ein dunkles Augenpaar interessiert ihre Nachforschungen beim Fangnetz beobachtet hatte. Die Gestalt, zu welcher das Augenpaar gehörte, folgte Lisa in ungefähr 50 Metern Abstand. Ahnungslos erreichte Lisa ihre Wohnung in der Länggasse. Der Unbekannte war ihr bis kurz vor die Wohnungstür gefolgt. Dann verschwand er zufrieden in der Dunkelheit.

    Kapitel 5

    Bern, Altenberg, 16. November 2019, 03:15

    Luca Manaresi war gerade wieder aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt. Seit ungefähr drei Jahren war es aus mit seinem ansonsten sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Sein ganzes Leben hatte der Vater von Lisa nie Schlafprobleme gehabt; weder in seiner Kindheit in Bologna noch während seiner Ausbildung in Schweden und schon gar nicht im beschaulichen Bern. Seit über 30 Jahren arbeitete Luca als Lastwagenchauffeur bei einer in Bern beheimateten Import-Export-Firma. Früher war er mindestens einmal pro Woche in seiner Heimat, der Emilia Romagna. Es ging um die Einfuhr von Parmesankäse, Rohschinken, italienischen Wurstwaren, Balsamico-Essig und Wein. Fiel der Transport einmal aus, gab es postwendend Katzenjammer in der Berner Gastroszene. Mittlerweile war Luca in erster Linie innerhalb der Schweiz unterwegs. Er kümmerte sich um die Belieferung von Restaurants und Spezereiläden.

    Zu Beginn kamen die Albträume einmal im Monat. Mittlerweile plagten ihn diese zwei- bis dreimal pro Woche. Das Perfide daran war, dass sich Luca nicht an den Inhalt der Träume erinnern konnte. Deshalb war es sehr schwierig, die Ursache für die bösen Träume zu finden. Niemand hatte ihm bisher helfen können. Sein Hausarzt hatte es nicht geschafft, die Neurologie am Inselspital auch nicht, ebenso wenig die bekannten Schlafforscher am Universitätsspital in Zürich. Man hatte zwar herausgefunden, dass bei Albträumen bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind: die Inselrinde und der Gyrus cinguli. Luca waren Rinde und Gyrus einerlei. Er wollte lediglich, dass ihn die schlimmen Träume nicht jede zweite oder dritte Nacht quälten. Von den Ärzten stammte einzig die Hypothese, welche besagte, dass es womöglich ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit gab, welches Luca noch nicht richtig mit sich selbst verarbeitet hatte. Luca wollte davon nichts wissen.

    »Es gab kein Trauma. Basta!«

    Er beschloss aufzustehen und ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde lesen half oft. Danach fand er meistens wieder seinen Schlaf. Deshalb schnappte er sich die Berner Zeitung vom Vortag, welche noch ungelesen auf dem Küchentisch lag.

    Morgen wird darin wahrscheinlich über den Suizid meiner Tochter berichtet, ging es ihm durch den Kopf.

    Der Gedanke verdarb Luca die Lust aufs Zeitunglesen. Dennoch blätterte er gelangweilt von Seite zu

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