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Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt
Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt
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eBook292 Seiten4 Stunden

Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt

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Über dieses E-Book

In diesem Buch werden verschiedene Erzählungen kombiniert. Doch eines haben sie alle gemeinsam: sie sind fesselnd und ungewöhnlich. Unabhängig davon, ob es um aufregende Entdeckungsfahrten oder unheimliche Begegnungen mit Eingeborenen geht, der Leser lernt einiges über andere Nationalitäten und Länder kennen. Die Charaktere müssen mit großen Gefahren umgehen können und lernen wie sie in einer für sie völlig fremden Welt überleben können. Diese spannenden Geschichten lassen den Leser das Buch kaum aus der Hand legen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum21. Juni 2018
ISBN9788711968666
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    Buchvorschau

    Der weiße Tiger - Abenteuer aus aller Welt - Franz Braumann

    www.egmont.com

    Pest im Hamun

    Thiemo Hardegg erwachte dadurch, daß das schwarze Zelt knatternd zu flattern begann. Klatschend schlug ihm das schwere, rauhe Tuch ein paarmal ins Gesicht. Noch im Halbschlaf hörte er durch das stoßartige Wehen des Bas-e-sad-u-bist-ruz, des „Windes der hundertzwanzig Tage", das nächtliche Heulen der Schakale.

    „Sahib, verzeihe die Störung. Aber wir haben noch eine lange Reise vor uns!" krächzte von draußen die heiser verrauchte Stimme Narrimans, des Karawanenführers.

    Thiemo erhob sich verschlafen und trat hinaus. Dämmrige Nacht hing noch über der Wüste. Die Sterne zitterten wie flackernde Lichter. Drei hohe Lastwagen standen in der weiten Wanne des flachen Tales. Eben löste sich der bewaffnete Wächter von der Bordwand des ersten Wagens, an dem er stumm gelehnt hatte.

    Die Lastwagen-Karawane, der sich der Arzt Dr. Thiemo Hardegg angeschlossen hatte, verkehrte planmäßig einmal in der Woche von Kirman bis zur persischen Grenze gegen Afghanistan. Diese Straße – oder richtiger Wüstenpiste – war während der Regierungszeit des Schahs Reza Pahlevi bis an die Ostgrenze des Reiches angelegt worden. Seither war Zabulistan nicht mehr nur eine sagenhafte Gegend aus Tausendundeiner Nacht. Für Personenbeförderung war die Wüstenstrecke allerdings nicht eingerichtet; die mitreisende Menschenfracht mußte eben sehen, wie sie sich zwischen hohen Warenstapeln verstaute.

    Inzwischen war in einer kleinen Bodenhöhlung ein niedriges Feuer angefacht worden. Bald wanderte eine Kanne heißen schwarzen Tees reihum, und jeder der zwölf „Fahrgäste" kaute schläfrig am Fladenbrot. Später dröhnten die schweren Dieselmotoren auf, die Scheinwerfer stießen einen scharfen Lichtkegel in die diesige, mit staubfeinem Flugsand erfüllte Dämmerung. Die Wagen rollten langsam an.

    Thiemo hatte einen Vorzugsplatz im Führerhaus des ersten Wagens. Sein Ausweis als staatlich angestellter Arzt in Teheran, der unendlich fernen Hauptstadt, hatte ihm das erwirkt. Seit drei Jahren lebte er nun bereits in Persien. Noch zwei Jahre Dienst, dann lief der Kontrakt wieder ab, und er konnte heimkehren nach Europa.

    Narriman, der zwischen Thiemo und dem Wagenlenker saß, blickte suchend in die Nacht. Kleine, spitze Erdhügel oder aufrecht gestellte Steinplatten markierten die „Straße". Die Wagenspur der letzten Fahrt war längst wieder vom Wind verweht.

    Jetzt schielte Narriman kurz zu Thiemo hinüber: „Was führt dich in dieses wilde Land an der Grenze, Sahib?"

    Thiemo lächelte. „Ich will sogar über die Grenze!" entgegnete er.

    „Hamdullilah! rief der Alte erschrocken. „Du willst zu diesem afghanischen Räubervolk hinüber? Ich warne dich: Du wirst dort keinen einzigen ehrlichen Menschen finden! Schmuggel und Raub ist ihr Handwerk, und du wirst bald bis aufs Hemd ausgeplündert sein!

    Thiemo erschrak nicht allzusehr bei diesen Worten. Nachbarvölker lieben sich selten – warum sollte es zwischen Persern und Afghanen anders sein? Allerdings galt der Iran gegenüber Afghanistan noch als zivilisiertes Land. Dort drüben sollte abseits der befahrenen Hauptstraßen die Polizeigewalt bald zu Ende sein, und manche Volksstämme hatten sich dem fernen Herrscher in Kabul noch gar nicht richtig unterworfen. Ja, in den Schilfmeeren des Hamun-Sumpfes, in dessen abflußlose Senke der Hilmendfluß mündete, sollte noch ein fast unerforschter Volksstamm leben: die Sayad.

    Von diesem Grenzvolk hatte der junge Arzt in Teheran gelesen. Die Sayad hatten sich im 13. Jahrhundert vor den Einfällen der Mongolen in das unzugängliche Sumpfland geflüchtet, und seither lebten sie dort fast ganz abgeschlossen von den umwohnenden Afghanen. Sie sollten noch in Pfahlbauten hausen, da alljährlich zur Schneeschmelze der Spiegel der Hamun-Seen um einen bis zwei Meter anstieg. Sie lebten von Fischfang, Jagd und Flechtarbeiten. Vielleicht brachte auch der Schmuggel einiges ein: Stoffe und Seide und das verbotene Opium waren ja begehrte Schmuggelgüter.

    In Thiemo war damals ein Entschluß herangereift. Wo lebte noch das Abenteuer in dieser fast restlos erschlossenen Welt? Bald würde er wieder daheim im alten Europa sitzen, und was blieb dann noch als Erinnerung an seine fünf Jahre im Orient? Der Aufenthalt in Teheran mit Schnellverkehr und Flugplatz, mit Rundfunk und Autorennen, sonst nichts weiter!

    Da wußte er, was er in seinem nächsten Urlaub unternehmen würde: Er wollte die geheimnisvollen Sayad im Hamun-Sumpf besuchen.

    Langsam wurde es Tag; das wüste Land gewann wieder Kontur und Farbe. Das hohe Wüstenplateau senkte sich allmählich. Bis die Sonne heraufkam, war Schahr Zabul, die letzte persische Stadt vor der Grenze, erreicht.

    Als Thiemo vor der Karawanserei aus dem Lastwagen stieg, riß ihn der Sturm fast um. Staubverkrustet kletterten auch die anderen Fahrgäste von den Wagen. Hier war die Straße zu Ende, kleine Mietpferde standen mit ihren Führern zum Ritt an die Grenze bereit. Thiemo nahm kurzen, herzlichen Abschied von der Karawane.

    Nach einer Weile scharfen Rittes stand er allein an der Grenze. Die Pferdeverleiher ritten zurück. Die persischen Zöllner waren freundlich und großzügig bei ihrer Kontrolle. Dann wanderte Thiemo fast eine Stunde lang durch menschenleeres Niemandsland. Das große Abenteuer begann!

    Drüben nahmen wildblickende afghanische Grenzsoldaten Thiemo in ihre Mitte. Er hatte einige Worte des Putschu-Dialektes gelernt. So verstand er auch, daß bei der sorgfältigen Untersuchung immer wieder das Wort „Spion" auftauchte. Aber Thiemo war ohne Sorge. Er trug das Empfehlungsschreiben der afghanischen Gesandtschaft bei sich, das ihm auch die Einreiseerlaubnis in diese sonst verschlossene Landschaft verschafft hatte.

    In Kal’äh Kang, der ersten Siedlung, umringte ihn vor dem Zollhaus bald eine Schar finsterer, stolzer Gestalten. Schon ihre weißen Turbane, die hellen Hosen und die flatternden Hemden wirkten malerisch; dazu die langen Flinten, die sie bei sich trugen. Alle blickten abweisend feindlich auf den Besucher.

    Endlich kam der Grenzoffizier mit seinem Paß wieder aus dem Wachthaus. Er verneigte sich höflich und sagte im klaren Afghanisch des Regierungsbeamten: „Es ist alles in Ordnung! Wann reisen Sie weiter?"

    Thiemo hätte wohl kaum eine Erlaubnis zum Besuch der Sayad im Hamun-Sumpf erhalten. Wer hätte dort den Schutz des Fremden übernehmen und für seine Sicherheit garantieren können! So hatte er sich längst eine Ausrede zurechtgelegt: „Ich möchte hier einen Freund aus Herat im Norden erwarten. Wir haben uns verabredet. Wie lange kann ich in Kal’äh bleiben?"

    „Solange Sie wollen. Nur die Abreise müssen Sie melden!"

    Die Haltung der Zuschauer hatte sich inzwischen gewandelt. Jetzt rief sie auch der abendliche Gebetsruf des Muezzin fort, und wer noch blieb, legte dem Fremden nichts mehr in den Weg. Ein Wachtposten begleitete Thiemo zu einer kahlen, aber sauberen Herberge – dann war er endlich allein in dem fremden Land…

    In den nächsten Tagen versuchte Thiemo unauffällig, die Zugänge zu dem Schilfdschungel der Hamun-Senke zu erkunden. Mit diesem Hintergedanken hatte er sich die Erlaubnis zu kleinen Jagdausflügen in die Umgebung verschafft. Er hatte Glück. Auf dem dürftigen Markt von Kal’äh Kang boten nämlich eines Tages einige Fischer ihren Fang feil, und diese Männer waren Sayad aus dem Schilfland! Seinen Fragen begegneten sie zunächst mit Mißtrauen. Erst als er einige Münzen zum Vorschein brachte, wurden sie allmählich gesprächiger.

    Den jungen Arzt befiel eine wachsende Erregung; er sah das Ziel seiner großen Reise greifbar nahe vor sich. Ich werde der erste Europäer sein, der die Sayad im Hamun-Sumpf besucht! dachte er. Und laut sagte er zu einem der Männer: „Ich möchte mit euch auf Fischfang ziehen!"

    Der Angeredete wich anfangs aus. „Zu uns darf kein Fremder. Ich weiß auch nicht, ob es unser Dorfältester erlauben würde!"

    „Wie weit ist es zu eurem Dorf? fragte Thiemo. Der Fischer beschrieb mit unbestimmter Bewegung des Armes einen weiten Bogen. „Zwei Tage – vielleicht länger, wenn das Wasser steigt.

    Das Wasser? Thiemo erinnerte sich, daß die Frühjahrswässer des großen Hilmendflusses den Hamun-See inmitten der riesigen Schilfsenke zum Steigen brachten.

    „Wann steigt das Wasser?" fragte er.

    Der Sayad zuckte die Schultern. „Wer weiß es!"

    In Thiemo wuchs die Ungeduld. „Ich komme mit, unauffällig! Kein Grenzwächter braucht es zu erfahren!"

    Im Auge des Fischers blitzte etwas auf – dann nickte er stumm.

    Thiemo rüstete sich in seiner Herberge in fieberhafter Erregung. Er packte Zeichenstift, Filme und Fotoapparat zu dem Proviant, steckte den Kompaß und das kleine Barometer zu sich, vergaß auch nicht reichlich Munition für sein Gewehr. Gegen Abend schlenderte er dem hellgrünen Weidengehölz an einem flachen Seitenarm des großen Hilmendflusses zu.

    Unter einer hohen Tamariske erwartete ihn der Fischer. „Hat dich niemand gesehen?" fragte er lauernd.

    Thiemo schmeckte das Abenteuer auf der Zunge. Er lächelte übermütig. „Ich bin auf die Jagd gegangen – sonst nichts!"

    Die Wanderung begann. Auf schmalem Pfad schritten sie schweigend hintereinander. Hohe Tamariskenwälder wechselten ab mit undurchdringlichem Weidendickicht. Zuweilen gluckste das Wasser unter jedem Tritt, und zwischen dem Schilf spiegelten sich die ersten Sterne auf einem reglosen Flußarm. Der Abendwind hatte nachgelassen, nur der eintönige Schrei eines Nachtvogels unterbrach das Schweigen. Spät nach Mitternacht erreichten die Wanderer eine Hütte, die hoch in das Geäst einer uralten Weide hinaufgebaut war. Eine Leiter aus Lianen hing herab. Sie kletterten daran empor und waren so vor unliebsamen Überraschungen – vor Schakalen und auch Tigern, die im Schilf hausen sollten – einigermaßen sicher. Thiemo schlief bald tief und traumlos ein.

    Am Morgen des folgenden Tages erkannte Thiemo, daß sich die Welt um ihn verändert hatte. Übermannshohe Schilfmauern schlossen den Pfad ein, auf dem er dahinschritt. Dieser verzweigte sich von Zeit zu Zeit nach drei, vier Richtungen. Der Fischer schien an unsichtbaren Merkzeichen zu erkennen, wohin er sich wenden mußte – jeder Fremde aber hätte sich rettungslos verirrt und wäre irgendwo im Sumpf oder Wasser gelandet. Und wie sollte er den Rückweg finden in diesem Labyrinth von Gängen und Wildwechseln? Thiemo fühlte bei diesem Gedanken eine leise Warnung aufsteigen. War er nicht völlig auf Gedeih und Verderb seinem schweigsamen Begleiter ausgeliefert?

    Pah! Das war doch übertrieben. Er trug ein gutes Gewehr an der Schulter, er kannte seine unfehlbaren Karate-Griffe. Und wer konnte schon ein Interesse an ihm, dem einfachen Fremden, haben?

    Jetzt tippte er dem Voranschreitenden auf die Schulter: „Wie weit ist es noch bis zum Dorf?"

    Der Sayad nickte mit unergründlicher Miene. „Warte hier auf mich. Wir sind nahe, ganz nahe!"

    Thiemo fand es natürlich, daß er als Fremder erst angemeldet werden mußte. Drei Pfade liefen auseinander – er wollte sich gut einprägen, auf welchem sie gekommen waren und wohin der Sayad gegangen war. Allerdings glich ein Pfad dem anderen. Deshalb schnitt Thiemo etliche hohe Schilfhalme als Markierung ab. Dabei betastete er mehrere Halme genauer und – fand plötzlich scharfe Kerben im Rohr! Aufwärts wiesen sie an einer Seite, abwärts an der entgegengesetzten – drei Kerben auf dem Pfad, den sie gekommen, eine Kerbe auf den Nebenpfaden. Thiemo suchte weiter. Alle zehn Schritte die Kerben… Er hatte die Pfadmarkierung entdeckt!

    Thiemo atmete erleichtert auf. Jetzt kannte er den Weg aus dem Schilfmeer. Beruhigt ließ er sich an der Pfadkreuzung nieder und schrieb rasch seine bisherigen Erfahrungen in sein Tagebuch.

    Plötzlich zuckte er zusammen. Hatte nicht hinter ihm etwas geraschelt? Er blickte sich um – nichts. Hoch in den Lüften schrie ein Zug wilder Gänse. Der „Wind der hundertzwanzig Tage" fiel wieder in rauschenden Stößen ein.

    „Komm, Fremder!"

    Urplötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, war der Sayad hinter ihm. Woher war er gekommen? Thiemo verbarg seine Überraschung, auch als sein Führer in einen der beiden Nebenpfade einlenkte. Nach kurzer Zeit stieg der Boden etwas an, das Schilf trat zurück. In der Lichtung, die sich öffnete, stand auf hohen Holzpfählen eine Hütte – eine einzige Hütte!

    „Ist das alles?" fragte Thiemo enttäuscht.

    „Nicht alles; das Dorf liegt drüben!"

    Aha, eine Art Empfangshaus also! Doch kein Mensch war um die Hütte zu sehen. Tamariskengebüsch wucherte neben dem Pfad. Der Sayad schritt voran und trat neben dem offenen, halbdunklen Eingang zur Seite. „Tritt ein, Fremder!" sagte er einladend.

    Thiemo trat einen Schritt vor – da prallte er mit dem Gesicht auf ein Netz. „Hallo!" rief er. In diesem Augenblick schlug das Netz über ihm zusammen. Mit jähem Ruck wurde Thiemo zurückgerissen, daß er stürzte. Von rechts und links sprangen zwei Männer aus dem Gebüsch und warfen sich auf ihn. Er wollte um sich schlagen, doch das Netz behinderte jede Bewegung. Ein wuchtiger Hieb machte ihn schließlich bewußtlos.


    Thiemo erwachte aus seiner Betäubung von dem Schnattern wilder Gänse, die ganz in der Nähe sein mußten. Er öffnete die Augen und blickte um sich. Das Netz war fort, aber er fühlte Fesseln.

    Im Winkel der Schilfhütte erhob sich eine Gestalt. Sie war jung und kräftig, mit schwarzen, funkelnden Augen. „Du bist in meiner Gewalt, Fremder!"

    Dem Gefangenen war nicht gerade wohl in diesem Augenblick. Er dachte an Narrimans Warnung: afghanisches Räubergesindel! Aber er vertrieb diese Gedanken und fragte: „Was soll das sonderbare Spiel bedeuten?"

    „Spiel? Der Wächter lächelte höhnisch. „Du wirst diese Hütte erst verlassen, wenn Lösegeld eingetroffen ist.

    Thiemo erkannte den Ernst seiner Lage. Er schwieg und wandte den Kopf zur Seite. Er überlegte. Endlich wurde es dem Wächter zu lang. „Hat der Fremde dazu nichts zu sagen?" fragte er.

    „Führe mich zu eurem Ältesten! Nur mit diesem werde ich sprechen!" forderte Thiemo rauh.

    „Oho, willst du mir etwas befehlen?" fuhr der Wächter auf.

    Thiemo sprach weiterhin kein Wort mehr. Da verließ der Sayad die Schilfhütte.

    Jetzt versuchte der Gefesselte die Riemen, die ihm ins Fleisch schnitten, zu lockern. Aber sie waren auf eine unangenehme Art angelegt: Sie liefen nämlich über die Schultern und dann zwischen den Beinen hindurch, und Thiemo lag zusammengerollt wie ein Igel. Ein Befreiungsversuch schien hoffnungslos.

    Da verdunkelte sich der Eingang, und Thiemo wurde roh emporgerissen. Man lehnte ihn an die Hüttenwand.

    „Wieviel bietest du?" fragte ein älterer, dunkelhäutiger Sayad.

    „Führe mich erst zu eurem Dorf! Dort setzen wir uns zusammen und beraten", befahl Thiemo wieder.

    Der Dorfälteste – denn das war der Fragende – lachte spöttisch auf. „Wer bist du überhaupt, daß du so sprichst?"

    „Ich bin ein Mann der Medizin. Wer sich an einem solchen vergreift, der fordert den König heraus. Der läßt euer Schilfmeer niederbrennen und rottet euch aus!"

    Das Wort von der Medizin machte auf den Alten Eindruck. Doch dann lachte er laut: „Ho-ho, du kommst von drüben! Was kümmert uns der Schah. Er soll zahlen, wenn er dich zurückhaben will."

    Der Schah! Der war fern und wußte überhaupt nichts von der Existenz des Arztes Dr. Thiemo Hardegg. An ihn konnte sich der Gefangene nicht wenden. Gleich darauf lächelte er überlegen. „Ich bleibe bei euch und heile eure Kranken! So nütze ich euch und mir."

    „Inschallah! Schweig endlich! rief der Alte wütend. „Wir wollen Lösegeld für dich – sonst nichts!

    Thiemo wandte sich ab. „Dann behandelt mich menschlicher und kommt morgen wieder. Bis dahin will ich errechnen, wieviel ich wert bin. Das sollt ihr bekommen – in Geld oder Taten!"

    Er hatte seine Ruhe wiedergefunden. Diese Sayads waren Naturmenschen, denen im harten Kampf ums Leben – abgedrängt in den Sumpf und verachtet von den wohlhabenden Afghanen auf sicherem Boden – auch Raub als gewöhnliches Handwerk galt. Mit solchen mußte man geduldig verhandeln; Schritt um Schritt mußte man sie gewinnen und von den eigenen Vorschlägen überzeugen. Festigkeit imponierte ihnen am ehesten, nicht aber zaghaftes Bitten!

    Ein Wink des Alten, und Thiemos Lage wurde erleichtert. „Ich komme morgen wieder!" knurrte der seltsame Dorfvorsteher und ging.

    Den zwei Wächtern schenkte der Gefangene kein weiteres Wort mehr. Er war erschöpft und versuchte jetzt zu schlafen, und endlich gelang es ihm auch.

    Doch am nächsten Morgen erschien der Dorfälteste nicht! Thiemo lag lauschend in seiner „Gästehütte" aus Schilf und konnte nichts von der Umgebung sehen. Als die beiden Wächter abgelöst wurden, horchte er gespannt auf ihre Worte. Er verstand soviel aus ihren Reden im Putschu-Dialekt, daß der Alte, der wohl im ganzen Sumpfland Ansehen besaß, überraschend zu einem anderen Dorf geholt worden war, um einen Streit um Fischereirechte in einigen Lagunen des Hamun-Sees zu schlichten. Es ging zwischen zwei feindlichen Dörfern heiß her, und der Schiedsrichter würde erst in einigen Tagen zurückkommen.

    In einigen Tagen! Bis dahin war Thiemo vermutlich unbehelligt! Nur die Wächter würden bleiben. Inzwischen konnte manches geschehen – seine Flucht zum Beispiel!

    Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Er kannte doch die Pfadmarkierung aus dem Schilflabyrinth! Allmählich entstand ein Fluchtplan. Er würde sich einfach krank stellen – er als Arzt verstand das gut. Er wollte Erleichterung verlangen, sogar mit dem Sterben drohen, wenn man nicht darauf einging. Die Angst um den wertvollen Gefangenen würde die Wächter gefügiger machen! Fielen einmal die Fesseln, dann würde er bald ganz frei sein. Es war jetzt Vollmond – die beste Zeit zur Flucht!

    Am Nachmittag lag er stöhnend auf seinem Lager. Die Wächter erschraken und brachten einen Medizinmann. Dieser murmelte beschwörende Zauberformeln; ein Kessel wurde über die Feuerstelle gehängt und ein Trank gebraut, von dem es Thiemo fast den Magen umdrehte. Seine Fesseln wurden gelöst, dafür aber die Wächter verdoppelt. Die halbe Dorfschaft lungerte vor der Hütte des Fremden herum; und die ganze Nacht brannte ein Feuer in der Hütte, um die krankheitbringenden Geister zu bannen.

    Am dritten Tag gab Thiemo auf. Sein so klug scheinender Plan war fehlgeschlagen. Er hatte die Aufmerksamkeit der Sayad einschläfern wollen – nun hatte er sie erst recht auf sich gezogen! So erklärte er sich den staunenden Sumpfmenschen plötzlich wieder als gesund, aß alles, was man ihm erleichtert vorsetzte, und mußte es sogar gelten lassen, daß man ihn wieder fesselte. Immerhin, das Eis der feindlichen Stimmung war gebrochen. Thiemo führte jetzt mit seinen Wächtern lange Gespräche und erfuhr viel über die Lebensweise und Kultur dieses seltsamen Volkes. Auch er berichtete den aufmerksam lauschenden Menschen aus seiner Heimat. Eine Gefahr für Thiemos Leben bestand kaum mehr. Das Lösegeld – man würde ja sehen. Am Abend dieses dritten Tages schlief er ohne weitere Fluchtgedanken ein…


    „Auf, Sah’b, auf! Jemand rüttelte Thiemo in höchster Eile. „Komm mit uns! Nurred, der Dorfvorsteher, ist schwer krank heimgekehrt!

    Über dem Schilfmeer war ein neuer Tag heraufgestiegen. Man hörte in der Nähe zwischen den Windstößen Wellenschlag. Da und dort glänzte auf dem Pfad eine Pfütze. Begann der See zu steigen?

    Thiemo zählte im Gehen die Schritte. Nach neunhundert öffnete sich eine Lichtung, und zehn, zwanzig Hütten standen da vor ihm auf hohen Pfählen aus krummem Schwemmholz – ein Pfahlbaudorf wie aus prähistorischer Zeit! Zwischen den Hütten liefen Stege auf Stangen. Draußen aber silberte ein weites, unübersehbares Wasser; der Hamun-See!

    Durchs Dorf der Sayad geisterte Unruhe. Gruppen von Männern standen mit verstörten Gesichtern beisammen, Kinder drückten sich scheu vorbei. Von Frauen war nirgends etwas zu sehen. Der Wächter führte den Gefangenen auf die größte Hütte in der Mitte des Dorfes zu. Sie stiegen acht, zehn Sprossen empor. Nurred, der Dorfvorsteher, lag kauernd auf einer Flechtmatte. Seine Augen flackerten glanzlos und müde, die dunklen, mageren Hände zitterten.

    Thiemo fühlte den unruhigen Puls des Alten, sah das Weiße in dessen Augen rot entzündet. Er hatte in einem Tropeninstitut seine ärztlichen Kenntnisse vertieft. Ihm waren auch alle die schrecklichen Krankheiten vertraut, die noch heute als Geißeln unter den Völkern Asiens wüten. Doch hier stand er ohne jene technischen Hilfsmittel, wie sie die großen Laboratorien der Spitäler Teherans boten. Allein auf seine Kenntnisse und auf seine Augen mußte er sich verlassen! So starrte er auf die Hände und die unbedeckten Arme des Kranken. Sie waren dunkel verfärbt; da und dort hoben sich entzündete Schwellungen – wie Beulen!

    Wie Beulen! Ein furchtbarer Verdacht stieg dem Arzt auf. Er riß die Hüllen des Kranken auseinander. Als der leise Stöhnende nackt vor ihm lag, weiteten sich Thiemos Augen. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf, jeder Zweifel schwand. Langsam wandte er sich um und blickte in die Augen der umstehenden Männer. „Das ist die Pest!"

    Die Sayad wichen bei diesem Wort zurück und stürzten aus der Hütte. Der Alte richtete sich mühsam auf. „Die Pest, sagst du? Einmal bin ich ihr entflohen – vor vierzig Jahren – über den See, in die Wüste – und heute – heute – holt sie mich ein!"

    Thiemo verlor keinen Augenblick die Fassung. Er entsann sich, gelesen zu haben, daß vor vierzig Jahren die Pest ebenfalls aus dem Hamun-Sumpf gekommen war. Damals war der Schwarze Tod nicht nur über Afghanistan, sondern auch über halb Persien hinweggerast. Man kannte zu dieser Zeit die Schutzimpfungen noch nicht, und so waren die Menschen zu Tausenden der Seuche erlegen. Seither hatte sich viel geändert. Thiemo wußte es plötzlich sehr zu schätzen, daß er selber in Teheran gegen die Pest geimpft worden war!

    Er deckte den Burnus wieder über den Körper des Kranken und sagte: „Es ist die schwächere, nicht immer tödliche Art: Die Beulenpest. Eine Impfung kann dich vielleicht retten!"

    Der Alte schaute ungläubig. „Kannst du helfen – gegen diese Pest?"

    Thiemo überlegte kurz. Er wußte, daß jede persische Stadt den Impfstoff gegen die Pest besaß. „Bringt mich auf schnellstem Wege nach Schahr Zabul!" Dann trat er aus der Hütte und rief einige Männer herbei. Zögernd kamen sie bis an den Eingang heran. Der Arzt verstand nicht, was ihnen der Dorfälteste in abgerissenen, heiseren Worten befahl; aber ihre düsteren Mienen hellten sich allmählich auf. Die Wächter ließen die Waffen sinken. In die Menschen des Pfahlbaudorfes kam allmählich Leben. Worte flogen von Hütte zu Hütte, selbst Frauen und Kinder tauchten auf und schauten zu dem Fremden, der die Rettung kannte. Zehn, zwanzig Männer erboten sich sofort, Thiemo aus dem Schilf zu führen.

    Zunächst brachte man ihm seine Habe wieder. Mit den Männern schritt er dann die leichte Erhöhung des Dorfes hinunter zum See. Das hohe Schilf umschloß sie

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