Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ein europäisches Gewissen: Hans-Gert Pöttering - Biografie
Ein europäisches Gewissen: Hans-Gert Pöttering - Biografie
Ein europäisches Gewissen: Hans-Gert Pöttering - Biografie
eBook1.287 Seiten15 Stunden

Ein europäisches Gewissen: Hans-Gert Pöttering - Biografie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die beiden Geschichtswissenschaftler Michael Gehler und Marcus Gonschor liefern eine fundierte Biografie des langjährigen Europapolitikers und ehemaligen Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering. Sie zeichnen Pötterings Lebenslauf und politische Entwicklung nach und würdigen seine maßgebliche Rolle beim Aufbau parlamentarischer Strukturen in der EU. Gehler und Gonschor schreiben damit zugleich ein wichtiges Stück christdemokratischer, bundesrepublikanischer Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum14. Sept. 2020
ISBN9783451821301
Ein europäisches Gewissen: Hans-Gert Pöttering - Biografie
Autor

Michael Gehler

Dr. Michael Gehler, Universitätsprofessor, Leiter des Instituts für Geschichte und Jean-Monnet-Chair für Neuere und Neueste Geschichte Deutschlands und Europas sowie der europäischen Integration an der Stiftung Universität Hildesheim seit 2006; auch Professor an der Andrássy Universität Budapest seit 2021. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Imperien, österreichische, deutsche und europäische Geschichte sowie der internationalen Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung des Kalten Krieges, der deutschen Einigung, der transnationalen Parteienkooperation von Christdemokraten in Europa sowie der Südtirolfrage.

Mehr von Michael Gehler lesen

Ähnlich wie Ein europäisches Gewissen

Ähnliche E-Books

Biografien – Politik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ein europäisches Gewissen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ein europäisches Gewissen - Michael Gehler

    Michael Gehler | Marcus Gonschor

    Ein europäisches Gewissen

    Hans-Gert Pöttering – Biografie

    Mit einem Vorwort von Donald Tusk

    Abb045

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Bildnachweise:

    S. 9: Privatbesitz Donald Tusk; S. 20, 22, 26, 39, 76, 77, 244, 290, 298, 334, 436, 459, 482, 505, 506, 515, 524, 526, 530, 532, 534, 535, 538, 556, 561, 597, 613, 616, 619, 639, 656, 659, 671, 720, 725, 732: ­Privatbesitz Hans-Gert Pöttering; S. 98 und 682: CDU, Konrad-Adenauer-Stiftung, ­Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin; S. 711: European Parliament, Bruxelles/Strasbourg

    Umschlaggestaltung: Chris Langohr Design, March

    Umschlagmotiv: © Olaf Kosinsky

    Bildquelle: Wikimedia Commons

    E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

    ISBN E-Book: 978-3-451-82130-1

    ISBN Print: 978-3-451-38982-5

    Inhalt

    Vorwort

    Vorbemerkungen

    1. Herkunft, Kindheit und Jugend

    1.1 Familiäre Wurzeln

    1.2 Erziehung

    1.3 Politisierung und Europabild

    1.4 Wehrdienst, Studium und Promotion

    1.5 Kommunal- und Hochschulpolitik als Schule für die große Politik? Junge Union und RCDS

    2. Der Weg nach Europa 1974–1984

    2.1 Politische Einflussmöglichkeiten

    2.2 Vorentscheidung in Wolfsburg

    2.3 Erster Wahlkampf für Europa

    2.4 Erfahrungen mit dem europäischen Parlamentarismus

    2.5 Für die Region im Europäischen Parlament

    3. Für Europas Sicherheit: Vordenker und Wegbereiter 1984–1989

    3.1 Die EVP – ein Modell für eine europäische Partei

    3.2 »Spitzenkandidat wider Willen«

    3.3 Im Unterausschuss »Sicherheit und Abrüstung«: Stets »einen Schritt weiter als die Regierungen«

    3.4 Mit festen Werten für die Menschenrechte

    3.5 Gedanken zur Zukunft einer europäischen Verteidigungspolitik

    4. Die deutsche Einheit für ein neues Europa 1989–1994

    4.1 Treffende Beurteilungen im epochemachenden »annus mirabilis«

    4.2 Die historischen Tage des 9. und 28. November 1989

    4.3 Missionen in Sachen Deutschland und Europa in Moskau 1990/91

    4.4 Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Zeichen des Zweiten Golfkriegs, des Endes des Warschauer Pakts und des Zerfalls Jugoslawiens 1991/92

    4.5 Der Vertrag von Maastricht und die EU: Plädoyer für eine starke Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Berücksichtigung des Europäischen Parlaments

    4.6 Die Debatte um den europäischen Bundesstaat

    4.7 Eine unvorhergesehene Karrierechance

    5. Vertiefung vor Erweiterung der EU 1994–1999

    5.1 Vorentscheidung in der deutschen Gruppe auf der Linie von Helmut Kohl

    5.2 Die Grenzen der Machbarkeit und die letzten Vorbereitungen für die Regierungskonferenz

    5.3 Freude und Enttäuschung über Amsterdam

    5.4 Die doppelte Erweiterung EU-EVP und der widersprüchliche Umgang mit der Türkei

    5.5 Der Weg zur stärksten Fraktion durch die umstrittene Aufnahme von Forza Italia

    5.6 Die Demission der Santer-Kommission und der EVP-Triumph bei den Wahlen 1999

    6. Fraktionsvorsitzender in einer neuen EU 1999–2007

    6.1 Neue Fraktion, schwierige Partner und Personalentscheidungen

    6.2 Die umstrittene Bildung der Kommission Prodi 1999

    6.3 Der Widerstand gegen die ­EU-14-Boykott-Maßnahmen gegen die schwarz-blaue Regierung in Österreich 2000

    6.4 Kein Durchbruch in Nizza und das Nachspiel mit Chirac im Parlament. Ausgebliebene EU-Reform und die offene Demokratieforderung

    6.5 Die Anschläge vom 11. September 2001 und die Solidarität mit den USA

    6.6 Der Irakkrieg als gescheiterter amerikanischer Versuch zur Spaltung der EU

    6.7 Nach der großen Enttäuschung über die gescheiterte Verfassung für Europa: Der Kampf geht weiter

    6.8 Die Kontroverse um die Arbeitnehmerfreizügigkeit

    6.9 Die größte Erweiterung in der Geschichte der EU

    6.10 Untrügliche Vorboten des »Brexit«

    6.11 Die Europawahlen 2004, die Wahl zum Präsidenten des Europäischen Parlaments und die Bildung der Kommission Barroso

    6.12 Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Türkei als EU-Mitglied

    6.13 Mit aufgestocktem Erasmus-Programm nach Lissabon

    7. Präsident des Europäischen Parlaments 2007–2009

    7.1 Die Wahl ins Präsidentenamt

    7.2 Anhaltende Strukturprobleme, aber gute Voraussetzungen für die Amtszeit

    7.3 Das Europäische Parlament als komplexe Institution und die Antrittsrede ihres Präsidenten mit einem Riesenprogramm

    7.4 »Zu unserem Glück vereint«: Der hürdenreiche, aber geradlinige Weg zur Berliner Erklärung

    7.5 Die »Charta der Grundrechte« und der Weg zur Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon

    7.6 Die Überwindung der Schwierigkeiten bei der Verwirklichung des Vertrags von Lissabon

    7.7 Prager Provokationen: Die Dispute mit Václav Klaus

    7.8 Maßnahmen zur Reform des Europäischen Parlaments

    7.9 Der Kampf gegen den Klimawandel und für den Umweltschutz

    7.10 Die EU als Friedensprojekt, Verfechtung der Menschenrechte und Vermittlung im Nahen Osten

    7.11 Das Europäische Parlament und der Dialog der Kulturen

    7.12 Repräsentant europäischer Werte

    7.12.1 Tag der Heimat, Olympische Spiele und Verdun

    7.12.2 Globale Dialoge und internationale Kontakte in Asien, Mittel- und Südamerika sowie Afrika

    7.13 Erweiterung von Schengen und der EU 2007

    7.14 Solidität und Solidarität: Parlamentspräsident zur Zeit der Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise

    7.15 Eine Idee nimmt Konturen an: Ein Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel?

    8. Das Haus der Europäischen Geschichte 2007–2020

    8.1 Zwischen wissenschaftlicher Kontroverse und politischer Kritik

    8.2 Konzept und Umsetzung

    8.3 Zwischenbilanz und Ausblick

    9. Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung 2010–2018

    10. Der Elder Statesman

    10.1 Beauftragter für Europäische Angelegenheiten

    10.2 Präsident der Vereinigung der ehemaligen Europaabgeordneten

    10.3 Weisenrat in der Causa Fidesz

    11. Charakterisierung eines europäischen Gewissens und Bilanz eines europäischen Lebens

    Abkürzungsverzeichnis

    Zeitzeugenverzeichnis

    Über die Autoren

    Vorwort

    Abb007

    Donald Tusk

    Ministerpräsident a. D. der Republik Polen

    Ehemaliger Präsident des Europäischen Rates

    Vorsitzender der Europäischen Volkspartei

    Hans-Gert Pöttering trägt Europa in seinem Herzen. Sein gesamtes politisches Leben hat er mit viel Überzeugung dem europäischen Einigungsprojekt gewidmet. Er wurde unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Bersenbrück/Niedersachsen geboren – seinen Vater konnte er niemals kennenlernen. Er ist als Soldat gefallen, vermutlich kurz vor der Geburt seines Sohnes im Jahre 1945 in der Nähe von Stettin. Hans-Gert und sein älterer Bruder Manfred wuchsen als Halbwaisen auf. Die europäische Politik Adenauers und dessen Einsatz für Frieden und Versöhnung mit den Nachbarn überzeugte den jungen Pöttering und veranlasste ihn, der CDU beizutreten. Sehr früh begann er sein politisches Engagement und stieg bereits nach einigen Jahren zum Mitglied des Landesvorstands der Jungen Union in Niedersachsen auf, wo er sich als europapolitischer Sprecher einen Namen machte. Für die damalige Zeit, in der alles mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begann, wählte er einen ungewöhnlichen Weg, aber er wählte ihn aus voller Überzeugung: Im Jahre 1979 kandidierte er bei der ersten Direktwahl für das Europäische Parlament. Er hat stets die Werte des europäischen Projekts verteidigt und sich für diese eingesetzt. Während in vielen anderen Ländern der Welt Menschen seit Jahrzehnten darum kämpfen und sich aufopfern, empfinden viele Bürger in Europa heute diese Werte als selbstverständlich: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Frieden. Für Hans-Gert Pöttering und viele seiner Generation war daran nichts selbstverständlich: Sie wurden geprägt von den Folgen von Diktatur, Krieg und Zerstörung. Mit nur 33 Jahren wurde er jüngster Abgeordneter der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und widmete die darauffolgenden 35 Jahre mit großem Einsatz dem politischen Alltag in Brüssel, Straßburg und Bad Iburg, dem Wohnort seiner Familie. Von 1999 bis 2007 war er Vorsitzender der EVP-Fraktion. Anschließend erreichte er den Gipfel seiner politischen Laufbahn, als er zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt wurde. Sitzungsleitungen, Reden und Gespräche in aller Welt prägten sein Wirken. Sein maßgebliches Engagement und sein Talent zur Kompromissfindung haben dazu beigetragen, das Europäische Parlament stark und einflussreich zu machen.

    Im Jahre 1989 erlebte Hans-Gert Pöttering den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands, er sah die Binnengrenzen fallen, erlebte die Entstehung des Euro-Raums und der gemeinsamen Währung sowie die Beitritte der mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten. Dank dieser Erfahrungen wurde er zu einem engagierten Förderer des Verfassungsvertrages und des Vertrages von Lissabon. Das erste Halbjahr seiner Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments fiel zusammen mit der deutschen Ratspräsidentschaft unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Als ersten Höhepunkt unterzeichnete er gemeinsam mit Angela Merkel und José Manuel Barroso im Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge die Berliner Erklärung vom 25. März 2007, die letztendlich zum Vertrag von Lissabon geführt hat. Die Verhandlungen zur Europäischen Grundrechtecharta, die die Werte der Europäischen Union festschreibt, prägten die weiteren Monate. Am 12. Dezember 2007 unterzeichnete Hans-Gert Pöttering die Charta der Grundrechte gemeinsam mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, dem portugiesischen Ministerpräsidenten, und dem Präsidenten der Europäischen Kommission im Europäischen Parlament in Straßburg. Am 21. Dezember desselben Jahres erlebte er mit der Öffnung des Schlagbaums in Zittau den Vollzug der Erweiterung des Schengen-Raums. Seitdem bestehen keine Grenzkontrollen mehr zwischen Deutschland, Polen und Tschechien. Die Trennung Europas in Ost und West – die jahrzehntelang währende Folge des Zweiten Weltkriegs – wurde damit auch im täglichen Miteinander der Menschen überwunden. Europa ist zusammengewachsen – die unnatürliche Teilung ist überwunden.

    Die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union ist nicht das einzige Herzensthema von Hans-Gert Pöttering. Er hat die polnisch-deutsche Versöhnung stark gefördert, was durch den Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von 1965 erst möglich gemacht wurde. Er hat den Beitrag Polens gewürdigt und die mutigen Menschen der Solidarność-Bewegung unterstützt, die gemeinsam mit Johannes Paul II. diese Versöhnung und Freundschaft auf den Weg bringen konnten. Ohne eine Versöhnung mit Polen wäre später die Einigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Das wusste er stets zu betonen. Für ihren Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung wurde ihm gemeinsam mit Jerzy Buzek 2010 der deutsch-polnische Preis, der auf dem deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag von 1991 beruht, verliehen.

    Um Versöhnung und Verständigung, um ein Lernen aus der wechselvollen Geschichte Europas ging es Hans-Gert Pöttering auch bei einem anderen Projekt: Um das historische Vermächtnis aufrechtzuerhalten und insbesondere jungen Menschen die europäische Vielfalt zu vermitteln, initiierte er in seiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments das Haus der Europäischen Geschichte. Es wurde im Jahr 2017 eröffnet, und gemeinsam tragen ein Wissenschaftlicher Beirat und ein Kuratorium dazu bei, die europäische Geschichte interessierten und neugierigen Laien zu vermitteln. Wir müssen aus unserer Geschichte lernen, damit wir nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.

    Parallel zu seiner europäischen Laufbahn ist Hans-Gert Pöttering Lehrbeauftragter der Universität Osnabrück gewesen, die ihn 1995 zum Honorarprofessor berief. Er ist Ehrendoktor der Universitäten von Oppeln, Allenstein und Breslau sowie Ehrenbürger der schlesischen Stadt Oppeln – Auszeichnungen für sein bemerkenswertes Verdienst um die deutsch-polnische Versöhnung und Zusammenarbeit. Für seine Leistungen und seinen großartigen Einsatz für das europäische Projekt hat er viele Auszeichnungen erhalten, unter anderem auch den Kommandeursorden mit Stern der Republik Polen.

    Auch heute stehen Europa ebenso wie unsere Gesellschaften insgesamt vor großen Herausforderungen. Der Lebensweg von Hans-Gert Pöttering sollte uns aber eines vor Augen führen: Andere Generationen vor uns mussten bereits Schlimmeres erleben. Die Nachkriegsgeneration stand vor einem zerstörten Europa, ihre Väter waren – so wie Wilhelm Pöttering – oftmals nicht aus dem Krieg heimgekehrt. Wie damals werden wir auch zukünftige Herausforderungen nur bestehen, wenn wir uns solidarisch und menschlich verhalten, wenn wir zusammenarbeiten und einander zuhören und verstehen. Das können wir aus dem Wirken von Hans-Gert Pöttering lernen: Unsere Gesellschaften, unsere Demokratien und auch die Europäische Union werden wir nur voranbringen, wenn wir Respekt und Solidarität füreinander aufbringen.

    Hans-Gert, ich möchte mich bei Dir bedanken für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Freundschaft, die uns seit vielen Jahren verbindet. Ich habe Dich zweimal in Deiner Heimat – in Bersenbrück und Bad Iburg – besucht. Ich erinnere mich noch sehr gut an das gemeinsame Pontifikalamt des Bischofs von Osnabrück, Franz-Josef Bode, und des emeritierten Erzbischofs von Oppeln, Alfons Nossol, im Juli 2009 im Osnabrücker Dom, an dem ich als Ministerpräsident Polens teilgenommen habe – es war ein bewegendes Zeichen der deutsch-polnischen Freundschaft und auch für mich persönlich ein sehr bewegender Moment. Du bist ein wahrhafter Europäer und hast Dein ganzes Leben unserem Projekt, der europäischen Integration, gewidmet. Dein Einsatz für die Überwindung der Teilung Europas ebenso wie für die Freundschaft zwischen Deutschen und Polen werden immer unvergessen bleiben!

    Vorbemerkungen

    Sollen Historiker über noch lebende Persönlichkeiten Biografien schreiben? Diese Fragen diskutierten wir am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim mit dem Helmut-Kohl-Biografen Hans-Peter Schwarz, einige Jahre bevor das Anliegen an die Autoren dieses Buches herangetragen wurde, eine Biografie über Hans-Gert Pöttering zu schreiben. Schwarz berichtete nach Abschluss seiner Lebensgeschichte über den Kanzler der Einheit von seinen zuweilen leidvollen Erfahrungen im nicht immer leichten Umgang mit dem Altpolitiker wie auch von den eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zu seinem Untersuchungsgegenstand. Er warnte vor den Gefahren solcher waghalsigen Vorhaben wie der Befangenheit, der Eitelkeit, der Selbstgefälligkeit und der Voreingenommenheit der noch lebenden Politiker. All das, was Schwarz hierzu mitteilte, ließ es geraten erscheinen, die Finger von solcherlei Unternehmungen zu lassen.

    Die Autoren dieses Buches haben sich daher diese von dritter Seite an sie herangetragene Aufgabe alles andere als leicht gemacht, zumal bereits zum Zeitpunkt des Vorhabens die sehr umfangreiche Autobiografie Pötterings »Wir sind zu unserem Glück vereint« vorlag, über die hinausgehend es Neues und Weiterführendes zu ermitteln galt. Allein dies war Bedingung, Herausforderung und Voraussetzung zugleich, um das Anliegen ernsthaft anzugehen und seriös umzusetzen, zumal die Autobiografie bereits substanzielle Informationen bietet und den Verfassern wichtige Orientierung bot, wiewohl sie dann in Anlage und Konzeption ihres Werkes davon abwichen.

    Mit Pöttering konnte nach zwei klärenden Gesprächen eine schriftliche Vereinbarung getroffen werden, bei der der seinerzeit verantwortliche Leiter für die wissenschaftlichen Dienste der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), Hanns Jürgen Küsters, sehr gut beratend und hilfreich zur Seite stand. Die vertraglich fixierte Vereinbarung hatte folgenden Inhalt: Ein Mehrwert und neue Erkenntnisse im Vergleich zu den bereits vorliegenden Memoiren konnten nur in einer anzustrebenden Multiperspektivität liegen. Über 80 Zeitzeugen, Beobachter, Mitstreiter und Weggefährten konnten ausfindig gemacht bzw. von Pöttering benannt werden, an die die Autoren der Studie einerseits individualisierte, andererseits aber auch gezielt ausgearbeitete standardisierte Fragenkataloge richteten oder Anfragen für Interviews herantrugen. So konnten beispielsweise mit dem Chef der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, der Europaparlamentarierin und späteren EU-Kommissarin Marianne Thyssen, dem Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Klaus Welle, dem Präsidenten des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik, Hans Walter Hütter, dem Europaparlamentarier Miguel Ángel Martínez Martínez und vielen anderen mehr (siehe die Liste der Zeitzeugen am Ende des Buches) Akteurs- und Zeitzeugengespräche geführt werden, um mehr über Pöttering und die Grenzen und Möglichkeiten seines Wirkens zu erfahren.

    Eine weitere Voraussetzung für die Bereitschaft zur Übernahme dieser Aufgabe war die Einsichtnahme von Aktenmaterial im Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), u. a. der Bestand der EVP-(ED-)Fraktion, der CDU/CSU-Gruppe in der EVP-(ED-)Fraktion usw. Die dort vorhandenen Aktenbestände konnten vor Ort eingesehen und anschließend in digitalen Formaten übermittelt werden, was sehr bereitwillig und unterstützend geschah. Hierbei danken die Autoren besonders Michael Borchard, Angela Keller-Kühne sowie Kordula Kühlem für das gezeigte Entgegenkommen und die geleistete Unterstützung. Überdies hat das ACDP bereits damit begonnen, größere Aktenbestände einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, indem diese als digitalisierte Formate über den Internetauftritt abrufbar gemacht wurden.¹ Mit Blick auf die in allen Lebensbereichen zunehmend an Bedeutung gewinnende Digitalisierung ist das ein mehr als löblicher Vorgang, den es hervorzuheben gilt. Vor allem erleichtert diese Bereitstellung von Archivmaterial über das Internet nicht zuletzt die Arbeit der Historiker in der zentralen Recherche nach relevanten Quellen.

    Die anvisierten Themen der geplanten Studie sollten schwerpunktmäßig das europapolitische Wirken Pötterings in den Mittelpunkt stellen. Eingehender als in der Autobiografie darzustellen waren die Kindheit und die Jugend Pötterings, v. a. aber war seine Arbeit im Europäischen Parlament zu analysieren unter besonderer Berücksichtigung der politischen Entscheidungen und Weichenstellungen. Darzulegen sollte vor allem sein, wie Pöttering als EU-Politiker weitere Akteure für seine Ideale zu gewinnen verstand und entsprechend einbinden konnte. Dabei ging es den Autoren insbesondere auch um den menschlichen Faktor hinsichtlich Vertrauensbildung zur Erreichung politischer Kompromissfindung.

    Nach dem selbstbestimmten Ausscheiden Pötterings aus dem Europäischen Parlament im Jahr 2014 sollte die Biografie – was in der Autobiografie noch gar nicht möglich war – die Entstehung und Verwirklichung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel, die Arbeit und Funktion als Vorsitzender der KAS sowie das Engagement des deutschen Christdemokraten als Elder Statesman nach seinem Abschied von der Spitze der KAS behandeln.

    Es galt somit die verschiedenen Stationen der europapolitischen Karriere von Pöttering (v. a. Vorsitzender des Unterausschusses »Sicherheit und Abrüstung« 1984–1994; stellvertretender Vorsitzender der EVP-Fraktion 1994–1999; Leiter der EVP-Arbeitsgruppe »Regierungskonferenz« 1994–1997; Leiter der EVP-Arbeitsgruppe »Erweiterung der Europäischen Union« 1996–1999; Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion 1999–2007; Präsident des Europäischen Parlaments 2007–2009; Vorsitzender der KAS 2010–2018) aufzuzeigen. Dabei ging es darum, durch Aktenmaterial, v. a. aber auch Außenperspektiven wie das Presseecho und die schon erwähnten Zeitzeugengespräche die mediale Selbstdarstellung Pötterings in Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungsinterviews zu untersuchen. Es versteht sich dabei von selbst, dass die Autoren mit Blick auf die Analyse der Printmedien Zeitungen verschiedener politischer Strömungen konsultiert haben. Es finden sich demnach Bezüge auf Printmedien des konservativen, liberalen, linken usw. Spektrums.

    Pöttering selbst sollte in unbegrenzten vertraulichen Sechs-Augen-­Gesprächen den Autoren Rede und Antwort stehen. Dazu erarbeiteten die Verfasser einen Katalog von über 350 Fragen, die ihrer Ansicht nach in der Autobiografie unzureichend beantwortet oder bei denen die entsprechenden thematischen Bezüge nicht berücksichtigt waren. Im Zuge der Recherchen und Darstellungen stellte sich im Laufe der Zeit auch heraus, dass die Memoiren Pötterings nicht frei von Aussparungen, Erinnerungslücken, Glättungen und Harmonisierungen sind.

    Letztlich konnten 30 Zeitzeugen zu Auskünften und Einschätzungen gewonnen, das verfügbar gemachte umfangreiche Quellenmaterial im ACDP ausgewertet und Pöttering selbst in sechs Begegnungen am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim in über 24 Stunden befragt und die entsprechenden Gespräche durch Film- und Tonträgeraufnahmen aufgezeichnet und transkribiert werden.

    Schließlich können sich die beiden Autoren für die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und nicht zuletzt für das in sie gesetzte Vertrauen vonseiten Hans-Gert Pötterings nur bedanken. Er war in den drei Jahren des Projekts ein offener und wohlwollender Begleiter und stets im Rahmen seines Erinnerungsvermögens zu Auskünften bereit und nahm vertragsgemäß auch keinen Einfluss auf den Entstehungsprozess des Werkes im Sinne von den Autoren widerstrebenden Eingriffen. Im Gegenteil forderte er die Verfasser zuweilen dazu auf, ihn mit Abstand und Distanz zu betrachten und gegebenenfalls zu kritisieren, wenn sich dies aufgrund der historischen Forschungslage und neuerer Erkenntnisse anbot oder gar zwingend erforderlich machte.

    Am Ende dürfen wir feststellen, dass mit dieser abgestimmten, durchdachten und gezielten Vorgehensweise großes Bemühen und Engagement vorhanden gewesen ist, eine über die Autobiografie Pötterings hinausgehende, neue Erkenntnisse bietende Studie als Grundlage für weitere Forschungen zur Geschichte des europäischen Parlamentarismus zu leisten. Ob das letztlich aber wirklich gelungen ist, bleibt der Fachwelt und einer interessierten Leserschaft zu beurteilen vorbehalten. Sollte es aus deren Sicht geglückt sein, wird es die Autoren wie auch Hans-Gert Pöttering selbst sicher freuen.

    Hildesheim, im Juli 2020

    Michael Gehler – Marcus Gonschor


    1 https://digitaler-lesesaal.kas.de/archiv, abgerufen am 10. Mai 2020.

    1. Herkunft, Kindheit und Jugend

    Als Hans-Gert Pöttering am 15. September 1945 zur Welt kam, hatte der Zweite Weltkrieg weite Teile Europas und anderer Kontinente schwer verwüstet hinterlassen. Er hatte Millionen von Menschenleben gefordert und unzählige europäische Städte zerstört und war Ursache für Flucht und Vertreibung vieler Millionen Menschen. Der Nationalsozialismus hatte nicht nur das größte humanitäre Verbrechen der Geschichte, den Mord an sechs Millionen europäischen Juden, zu verantworten, sondern hinterließ den gesamten Kontinent in Zerstörung und Aufruhr, sodass eine wirtschaftliche und politische Neuordnung Europas die Folge war. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs im Mai 1945 folgte die Besatzungsherrschaft durch Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion. Die vormalige Reichshauptstadt Berlin wurde in vier Sektoren unterteilt. Die vier Hauptsiegermächte hatten beschlossen, Deutschland gemeinsam verwalten und regieren zu wollen. Derweil wurden die deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße, nämlich Hinterpommern, Schlesien und Ostpreußen, dem durch die Rote Armee befreiten Polen als Kompensation für das ehemalige Ostpolen zugewiesen, das die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) sich einverleibte – genauso wie sie das nördliche Ostpreußen (Kaliningrader Oblast) annektierte. Das Sudetenland fiel an die Tschechoslowakei.¹

    Während im Westen des Kontinents parlamentarische bzw. konstitutionelle Demokratien nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft durch die westalliierten Armeen (wieder)entstehen konnten, gestattete die Sowjetunion, die ganz Ostmitteleuropa zuerst von Wehrmacht und NS-Schergen erobert und danach kommunistische Marionettenregime in­stalliert hatte, diesen Nationalstaaten und Völkern hingegen nicht eine freie und souveräne Entscheidung über ihre wirtschaftliche und politische Zukunft. Ganz im Gegenteil: Die von der Sowjetarmee² im weiteren Verlauf unterjochten Staaten mussten auf Geheiß des Diktators Josef Stalin³ mittelfristig das sowjetisch-kommunistische System übernehmen. Sie entwickelten sich zu Satellitenstaaten der UdSSR. Auf den totalitären Nationalsozialismus folgte der totalitäre Kommunismus in der Mitte und im Osten des Kontinents.

    1.1 Familiäre Wurzeln

    Hans-Gert Pöttering erblickte zu dieser Zeit das Licht der Welt im westlichen Teil des schon in Bälde durch einen »Eisernen Vorhang« (Winston Churchill)⁴ geteilten Europas. Er wurde am 15. September 1945 im norddeutschen Bersenbrück bei Osnabrück geboren, das in der damaligen britischen Besatzungszone lag. Zuvor hatte Bersenbrück während des Dritten Reichs zum NS-Gau Weser-Ems gehört.⁵ 1231 hatte eine bischöfliche Urkunde die Gründung einer Abtei des weiblichen Zweiges des Zisterzienserordens in Bersenbrück erstmalig verzeichnet, das den Namen St. Marien trägt. Während der Zeit der Reformation (1517–1648) war das Zisterzienserinnen-Kloster mit der Theologie Martin Luthers und insbesondere seiner Schrift »De votis monasticis« (1521/22) in Berührung gekommen, was »zu einer Lockerung der Klausur und zu einem von weltlichen Einflüssen geprägten Leben geführt« hatte. Reformatorisches Gedankengut entfaltete sich. Im Zuge der Gegenreformation (Konzil von Trient 1545–1563) wurde das Kloster Bersenbrück seit 1614 jedoch wieder zu den katholischen Bräuchen zurückgebracht.⁶ Wie der Großraum Osnabrück ist auch Bersenbrück stark katholisch geprägt und gehört zum zwischen 780 und 800 gegründeten Bistum Osnabrück. Um das Stift Bersenbrück als geistig-kulturellen Fixpunkt herum war eine Stadt entstanden, die sie im rechtlichen Sinne aber erst im Jahre 1956 wurde. Zum Zeitpunkt der Geburt ihres späteren Ehrenbürgers im Jahre 1945 zählte Bersenbrück zwischen 2000 und 3000 Einwohner. Noch um 1800 hatten dort nur 90 Personen gelebt, während das in der Nähe liegende Dorf Ankum bereits 1063 Einwohner zählte. Obgleich Bersenbrück erst nach dem Krieg Stadt wurde, war es bereits seit 1885 Namensgeber für den gleichnamigen Landkreis, der im Zuge der späteren Gebietsreform von 1972 im Landkreis Osnabrück aufging.⁷

    Politisch betrachtet, wurde Hans-Gert Pöttering am 1. November 1946 im Alter von knapp 14 Monaten Niedersachse mit der Gründung des gleichnamigen Landes auf Teilen des Gebietes der britischen Besatzungszone Deutschlands. Es war infolge der Verordnung Nr. 46 der britischen Besatzungsmacht vom 23. August 1946, das die »Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der Britischen Zone und ihre Neubildung als selbstständige Länder« vorschrieb, entstanden.⁸ Am 9. Dezember 1946 kürte der nicht gewählte, sondern von der britischen Militäradministration ernannte Niedersächsische Landtag Hinrich-Wilhelm Kopf von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) zum ersten Ministerpräsidenten des neu gegründeten Landes, das fortan mit dem Wiederaufbau der im Krieg beschädigten Infrastruktur beschäftigt war.

    Für Hans-Gert, seinen 1942 geborenen Bruder Manfred und seine Mutter Agnes Sophie waren es zunächst wie für so viele Niedersachen, Deutsche und Europäer sehr schwere und harte Zeiten. Die Mutter musste alleine für die Erziehung ihrer beiden Kinder sorgen, denn ihr Ehemann und der Vater der beiden Söhne galt zur Zeit der Geburt des zweiten Kindes im September 1945 bereits seit Längerem als vermisst. Zuletzt hatte der im Range eines Obergefreiten in der Wehrmacht dienende Wilhelm Pöttering seine Familie über Weihnachten 1944 sehen können. Im Januar 1945 musste er gemäß seinem Marschbefehl wieder an die Ostfront⁹ zurückkehren. Die Mutter betonte später wiederholt gegenüber ihrem Sohn Hans-Gert, wie schwer die Zeit des Abschieds gewesen war. Der Verlust des Vaters wurde eine enorme Belastung für die Söhne, besonders wenn die Mutter Agnes Sophie ihre Erinnerungen an die schwierige Zeit des Krieges und besonders danach zum Ausdruck brachte. Immerhin galt ihr Ehemann und Vater als vermisst – ein Fünkchen Hoffnung auf die Wiederkehr des geliebten Mannes und Vaters bestand also eine Zeit lang. Beim letzten Heimaturlaub von Wilhelm Pöttering im Winter 1944/45 hatte Agnes Sophie sogar mit dem Gedanken gespielt, ihren Gatten nicht wieder an die Front zurückgehen zu lassen und ihn stattdessen zu verstecken. Eine solche Tat – Fahnenflucht bzw. Desertation – wäre unter nationalsozialistischer Herrschaft jedoch sehr gefährlich gewesen: Wäre der versteckte Soldat gefunden worden, hätten ihn die sogenannten »Kettenhunde« der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht, oftmals glühende Nationalsozialisten, wahrscheinlich sofort erschossen.¹⁰ Doch dazu kam es nicht: Der Vater musste noch im Winter 1945 an die Front zurückkehren, von wo aus er der Familie auch ein letztes Mal schreiben konnte: Wilhelm Pöttering schickte im Februar 1945 einen Brief in die Heimat, den der jüngste Sohn 73 Jahre nach Versenden im Nachlass seiner Mutter findet. Tief berührt erfährt Hans-Gert Pöttering, dass sein Vater Wilhelm offenbar von der Schwangerschaft seiner Frau Agnes Sophie wusste. Eigentlich sollte das zweite Kind der Eheleute Pöttering ein Mädchen werden. Den Brief hat Wilhelm Pöttering mutmaßlich wenige Tage vor seinem Tod geschrieben, den die Familie im Februar 1945 vermutet. Die letzten Worte in diesem sehr liebevollen Brief an Hans-Gerts Mutter Agnes Sophie, seinen Bruder Manfred und ihn, das noch ungeborene Kind, lauteten: »Dein Willi« und »Euer Papi«. Dies war das einzige Mal, wo der Vater Bezug auf den noch nicht geborenen Sohn nahm, ihn irgendwie auch ansprach, was den im Nachhinein emotional stark berührte.

    Abb008

    Hans-Gert Pötterings Eltern, Agnes Sophie und Wilhelm

    Später überlegt Hans-Gert Pöttering gelegentlich, ob er als Junge den Fehler begangen habe, zu versuchen, die Mutter von ihrem Schmerz über den Verlust ihres Mannes abzulenken, wenn sie darüber sprechen wollte: »Man hätte viel mehr in die Tiefe eines solchen Gespräches eindringen sollen. Sie hatte wohl ein sehr intensives, gutes und liebevolles Verhältnis zu meinem Vater, das entnahm ich ihren Schilderungen«, erinnert sich Hans-Gert Pöttering im Jahr 2018. Gewissheit über das Schicksal Wilhelm Pötterings herrschte lange Zeit nicht, sodass die ersten zehn Lebensjahre von Hans-Gert noch die Hoffnung bestand, der Vater werde aus dem Krieg bzw. der Gefangenschaft zurückkehren. Sechs Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde es indes zur traurigen Gewissheit. Bundeskanzler Konrad Adenauer konnte 1955 nach Gesprächen mit der sowjetischen Führung in Moskau, bei denen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR beschlossen wurde, die Rückholung der letzten 10.000 Wehrmachtssoldaten aus der Kriegsgefangenschaft erwirken (»Heimkehr der Zehntausend«).¹¹ Doch Wilhelm Pöttering war nicht unter ihnen, was Hans-Gert schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste:

    »Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ein Ehemann einer Frau aus meinem Heimatort zurückkam und wie ich in der Kirche war und weinte, weil mein Vater eben nicht zurückkam. Diese Erfahrung prägte mich doch sehr und ließ in mir auch das Bewusstsein wachsen, dass wir eine Ordnung, eine Welt schaffen mussten, in der die Menschen sich nicht gegenseitig umbrächten. Ich glaube, diese psychologische Erfahrung war die eigentliche Grundlage dafür, dass ich mich europapolitisch engagierte.«¹²

    Betrachter von Familienbildern machten sehr viel Ähnlichkeit zwischen Wilhelm und Hans-Gert aus – dem Sohn, den der Vater nie kennenlernen konnte. Doch was war der Vater eigentlich für ein Mensch?

    Wilhelm Pöttering war als jüngstes von neun Kindern einer Lehrerfamilie auf die Welt gekommen und hatte mit Einfühlungsvermögen und kaufmännischem Talent ein eigenes Textilgeschäft aufbauen können. Aus Gesprächen mit Freunden, die seinen Vater noch kennengelernt haben, konnte Hans-Gert später erfahren, dass der Vater ein den Menschen sehr zugewandter Mann gewesen sei. Er sei sehr kommunikativ gewesen, was die Arbeit als Kaufmann wohl auch erforderte, um erfolgreich im Textilgeschäft zu sein. Walter Sandbrink, Hans-Gerts zwölf Jahre älterer (Partei-)Freund sowie späterer langjähriger Bürgermeister seiner Heimatstadt Bersenbrück und Landwirt, hatte den Vater seines Freundes als kleiner Junge noch kennenlernen können: »Er war mehrmals auf unserem Hof, weil er mit meinem Schwager befreundet war. Die Familie hatte in Bersenbrück ein Geschäft. Die ganze Familie waren angesehene Bürger.«¹³

    Abb019

    Wilhelm Pöttering mit seinem Sohn Manfred,

    Hans-Gerts älterem Bruder, im Jahr 1944

    Wilhelm Pöttering stammte ursprünglich aus einem katholisch geprägten Elternhaus. Der als »strenger, aber sehr gerechter« Hauptlehrer in Alfhausen, einer kleinen Gemeinde nahe Bersenbrück, tätige Vater Wilhelms, Gerhard Pöttering, hatte die Orgel in der lokalen Kirche gespielt und war bereits 1935 verstorben. Sein 1945 geborener Enkel Hans-Gert konnte ihn deshalb genauso wenig kennenlernen wie seine Großmutter väterlicherseits. Die in der Familie als »Heilige« angesehene Maria war 1942 verstorben.¹⁴ Gerhard und Maria Pöttering hatten, wie auf dem Lande üblich, auch eine kleine Landwirtschaft nebenbei betrieben. Vermutlich ein Wähler der katholischen Zentrums-Partei, vermittelte Hans-Gerts Großvater seinen Kindern katholische Tugenden und Werte. Das sollte seinen Sohn Wilhelm jedoch nicht gänzlich vor dem spätestens seit Anfang der 1930er Jahre an Zuspruch in breiten Bevölkerungsschichten gewinnenden Nationalsozialismus schützen. Wilhelm Pöttering stand wie viele Deutsche der nationalsozialistischen Bewegung und Adolf Hitler wohlwollend gegenüber. Er war aber wohl mehr ein Mitläufer denn ein überzeugter Anhänger.¹⁵ Insofern war Hans-Gerts Vater keine Ausnahme, denn das katholische Milieu war anfänglich durchaus empfänglich für die Ideen des Nationalsozialismus.¹⁶

    Aus Briefen seines Vaters erfährt Hans-Gert Pöttering später jedoch, dass der Nationalsozialismus kein starker politischer Faktor im Denken Wilhelm Pötterings war. Denn von politischen Aussagen war keine Rede – weder vom »Führer«, noch vom Nationalsozialismus. Vielmehr manifestierte sich in den Schreiben des Vaters eine christliche Einstellung und Gottesfurcht: »Wenn Gott will, dann komme ich wieder und sehe euch«, ließ Wilhelm Pöttering seine Familie in Briefen von der Front wissen. »Hoffentlich komme ich wieder.« Die Schreiben des Vaters offenbarten einen sehr menschlichen und eben nicht politischen Charakter.

    Ab 1945 stand Hans-Gert Pötterings Elternhaus zunächst unter polnischer Besatzung, die der britischen Militäradministration zugeordnet war. Doch wie kam es eigentlich zu diesem weitgehend unbekannten Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte? Im Zuge der Invasion des Deutschen Reichs hatten britische Truppen im Nordwesten viele Konzentrationslager mit polnischen Gefangenen gefunden, die als sogenannte »Displaced Persons« (DP) wegen der strikten Demarkationslinien zwischen Ost und West nicht mehr in ihre polnische Heimat zurückkehren durften. Die britische Regierung in London hatte daraufhin beschlossen, dass sich Teile der polnischen Exilarmee besser um ihre Landsleute kümmern könnten als Truppen des Empires. Darüber hinaus galt es, den polnischen Verbündeten nach der für ihn alles andere als befriedigenden Konferenz von Potsdam, in deren Verlauf London die Westverschiebung Polens abgenickt hatte, mit der Einrichtung eines polnischen Besatzungsbereichs zufriedenzustellen.¹⁷ Die polnische Besatzungsherrschaft in seiner Geburts- und Heimatstadt schildert Hans-Gert Pöttering ausführlich in seinen Memoiren, wobei er die Chroniken Bersenbrücks nutzt: Nach dem Einmarsch der britischen Armee unter Feldmarschall Bernard Montgomery am 11. April 1945 folgten einen Monat später polnische Truppen, die die ohnehin schon schwierige soziale Lage noch verschärften, indem sie einen erheblichen Teil der Wohnfläche zur Unterbringung der Soldaten beschlagnahmten.¹⁸ Mutter Agnes Sophie Pöttering lebte deshalb zum Zeitpunkt der Geburt ihres zweiten Kindes zusammen mit ihrem drei Jahre alten Sohn Manfred bei Verwandten auf einem Bauernhof in der Nähe von Bersenbrück. Diese Zeit beschreibt Hans-Gert Pöttering wie folgt:

    »Als meine Geburt sich ankündigte, machte sich meine Mutter, begleitet von zwei Mitarbeitern des Hofes, auf den Weg zum Krankenhaus in Bersenbrück. Dabei musste sie an ihrem eigenen Haus vorbeigehen und sah dort polnische Soldaten mit ihren Frauen. Welche Gedanken und Gefühle mussten sie in diesen Stunden und Tagen begleitet haben: einem Kind das Leben zu schenken zu einem Zeitpunkt, als der Ehemann und Vater dieses Kindes seit Monaten vermisst und das eigene Haus von der Besatzungsmacht okkupiert war.«¹⁹

    Auch das väterliche Geschäft musste in den Wirren der Nachkriegszeit vorübergehend komplett aufgegeben werden, weil alle Produkte, Arbeitsgeräte usw. zunächst beschlagnahmt bzw. weggegeben worden waren, es »ausgeplündert« worden war, wie die Mutter es formuliert hatte.²⁰ Doch Agnes Sophie, die keinerlei Erfahrungen als Kauffrau aufzuweisen hatte, machte sich nach dem Krieg schnell daran, dieses Geschäft wiederaufzubauen. Mit dem Geschäft verband sie auch die Erinnerung an ihren schmerzlich vermissten Ehemann, die dadurch wachgehalten und aufrechterhalten werden sollte. Des Weiteren bedeutete ein eigenes Geschäft vor dem Hintergrund der im zerstörten Nachkriegsdeutschland angespannten sozioökonomischen Lage vor allem eine wichtige Einnahmequelle, ja eine Form relativen wirtschaftlichen Wohlstands und Unabhängigkeit, zumal die Unterstützung in Form der »Kriegerrente« kaum für die Finanzierung des Lebensunterhalts für sich und die beiden Söhne langte. Diese ursprüngliche Wehrmachts- und Kriegerrente wurde am 1. August 1946 von der britischen Militäradministration als »militaristische Einrichtung« abgeschafft, was für die Betroffenen zur Folge hatte, dass sie in die gesetzliche Invaliden- und Angestelltenversicherung überführt wurden. Dies galt für die jüngeren Witwen von Wehrmachtssoldaten, die entweder mindestens vier Waisenberechtigte oder zwei Waisenberechtigte unter sechs Jahren aufzogen. Als die britische Militäradministration 1946 sodann den Kreis der Bezieher der Kriegsrenten einschränkte, hatte dies zur Konsequenz, dass viele Frauen in die Berufstätigkeit gezwungen wurden.²¹ Wenngleich Agnes Sophie Pöttering und ihre Söhne Manfred und Hans-Gert – zu diesem Zeitpunkt beide noch deutlich unter sechs Jahre alt – weiterhin Anspruch auf die Zahlung der Kriegsrente hatten, reichte diese nicht aus, um einen hinreichenden Lebensunterhalt zu gewährleisten. Die Mutter beschloss daher nach dem Abzug der polnischen Truppen aus Bersenbrück im Jahr 1947, das Textilgeschäft ihres Mannes neu zu eröffnen. Große Hilfe wurde ihr dabei von der Bauernbevölkerung Bersenbrücks zuteil, zu der sie gute Beziehungen unterhielt.

    Agnes Sophie Pöttering, eine »lebenslustige Frau«,²² entstammte ursprünglich einer kinderreichen Bauernfamilie aus einer damals noch von Bersenbrück unabhängigen kleinen Gemeinde. Ihr Vater Hermann Bremke führte als Landwirt einen Hof, während sich ihre Mutter Maria vornehmlich – wie zur damaligen Zeit typisch – um Kinder, Familie und Haushalt kümmerte. Seine Großeltern mütterlicherseits sollte der kleine Hans-Gert noch kennenlernen, da diese im Unterschied zu den Eltern seines Vaters nicht vor seiner Geburt verstorben waren. Dennoch konnte sich zum 1952 verblichenen Hermann und zur 1950 verstorbenen Maria »keine« tiefer gehende »Enkel-Großeltern-Beziehung« entwickeln, denn »dafür sind sie zu früh verstorben«.²³ Derweil hatte die auf dem Lande aufgewachsene Mutter von Hans-Gert viele Bekanntschaften und Freundschaften zu den dortigen Bauernfamilien knüpfen können, die später in dem von ihrem Ehemann Wilhelm übernommenen Textilgeschäft Waren wie Wäsche, Bettwäsche oder Kleidungsstücke bezogen. Die starke heimatliche Verwurzelung wie auch die guten Kontakte Agnes Sophie Pötterings zu ihren Kunden waren die Grundlage für ein später florierendes Textilgeschäft. Zum bäuerlich-­katholischen Milieu gehörte auch, dass die Bauersfrauen nach erfolgreichem Einkauf traditionell noch in die Wohnstube zum Kaffee eingeladen wurden, wo »über Gott und die Welt« geredet wurde. Schließlich war es vornehmlich das jährliche Weihnachtsgeschäft, das Agnes Sophie einen bescheidenen Wohlstand und die Möglichkeit verschaffte, Rücklagen für die Ausbildung ihrer beiden Söhne zu bilden. Die mussten bisweilen auch im Geschäft mit aushelfen, wenn ihre Mutter einmal nicht da war, und sich um die Kunden kümmern, vornehmlich im einträglichen Geschäft zu Weihnachten.

    Abb030

    Manfred, Mutter Agnes Sophie und Hans-Gert Pöttering (v. l. n. r.)

    Doch ein Verkäufer oder ein Verkaufstalent war der junge Hans-Gert sicher nicht. Sein Bruder Manfred führte zwar einmal das Geschäft für eineinhalb Jahre, nachdem die Mutter 1963 einen schweren Autounfall gehabt hatte und sieben Monate im Krankenhaus lag. Später wurde es jedoch ganz aufgegeben, als Agnes Sophie sehr krank wurde und das Unternehmen nicht mehr führen konnte. Eine Übernahme des Geschäfts durch einen der beiden Söhne war unterdessen nie eine realistische Option, was Hans-Gert später als »richtige Entscheidung« bezeichnet: »Ich hatte nie daran gedacht, Kaufmann zu werden, meine Interessen waren völlig andere.«²⁴

    Obwohl der drei Jahre ältere Bruder Manfred in seinem Denken und Handeln ganz anders als Hans-Gert war, hatte auch er kein Bestreben, das Familiengeschäft fortzuführen. Manfred Pöttering war in den Augen seines »Stammtischbruders« Walter Sandbrink ein hemdsärmeliger, »sehr netter, gefälliger, manchmal humorvoller Mensch, der aber auch seine Schwächen hatte«. Dass die beiden Brüder unterschiedliche Charaktere waren, befindet auch der langjährige Parteifreund der beiden, Reinhard von Schorlemer: »Manfred war lockerer. Er war im Schützenverein und trank gerne mal einen. [...] Hans-Gert war der Ruhige und Nachdenkliche und, wenn man so will, der Intellektuellere.«²⁵ Natürlich spielten auch der Altersunterschied und das Aufwachsen ohne Vater eine Rolle für das Verhältnis der beiden. Die beiden Charaktere ergänzten sich und pflegten ein Leben lang »ein ordentliches Verhältnis«, so Hans-Gert, das sich bis zum Tode Manfreds am 2. April 2016 verbesserte. Unter dem Eindruck der Erkrankung des älteren Bruders in dessen letzten Lebensjahren entwickelte sich eine intensivere Bindung zwischen den Brüdern. Der Jüngere meint, dass die Beziehung »umso freundschaftlicher wurde«, je älter die beiden wurden. »Aber sie war nicht immer spannungsfrei.«

    1.2 Erziehung

    Hans-Gert Pöttering wuchs in einer ländlichen und auch geborgenen Umgebung auf, wie er rückblickend betont. Wenngleich das elterliche, nach dem Krieg wiedereröffnete Geschäft Armut verhinderte, so waren es doch zunächst bescheidene Verhältnisse, in denen der junge Hans-Gert lebte. Für Neues reichte das begrenzte Einkommen nicht, sodass die Söhne die vom Vater getragene Kleidung oder seine Anzüge – nachdem sie neu zugeschnitten worden waren – tragen mussten. Wohlstandsunterschiede im vom »Wirtschaftswunder« der 1950er Jahre geprägten Westdeutschland registrierte der junge Hans-Gert mit einer Mischung aus Bitterkeit und Demut:

    »Der Vater eines Freundes war Arzt und ich beneidete ihn darum, dass er mehr hatte, zum Beispiel einen Fernseher und eine tolle Einrichtung. Das fand ich alles sehr angenehm, aber ich litt nicht darunter, dass das bei uns nicht der Fall war. Es ist angenehm, unter materiell gesicherten Bedingungen zu leben, aber es war für mich nie wirklich etwas Entscheidendes.«²⁶

    Mutter Agnes Sophie war stets die Hauptbezugsperson der Kinder. Von ihr lernte der Sohn grundlegendes wertebezogenes Verhalten, wenngleich sie selbst keine Person war, die über die Würde des Menschen oder philosophische Fragen diskutierte. Die Mutter ließ lieber Taten sprechen, was folgende Begebenheit zum Ausdruck bringt: Wie viele der nach 1945 neu gegründeten deutschen Länder, so hatte auch Niedersachsen ca. 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufnehmen und versorgen müssen.²⁷ Davon war auch Familie Pöttering direkt betroffen. Nachdem sie ihr Haus hatte wiederbeziehen dürfen, wurde dort eine Flüchtlingsfamilie einquartiert. Die Nutzung jeglichen Wohnraums war notwendig, da schätzungsweise rund ein Viertel aller Wohnungen in Deutschland im Zuge der alliierten Bombardements während des Krieges zerstört worden waren.²⁸ Außerdem wurde von der polnischen Besatzungstruppe in Bersenbrück etwa die Hälfte des verfügbaren Wohnraums beansprucht, sodass der Wohnraummangel in dieser Gegend nochmals verschärft wurde.²⁹ So kam es denn auch, dass bei Familie Pöttering eine aus ihrer Heimat vertriebene Frau namens Elisabeth Marszalkowski untergebracht worden war. Als eines Tages eine Verwandte der Pötterings kritisch zu Agnes Sophie sagte: »Elisabeth Marszalkowski hält sich in unserem Garten auf«, und damit darauf hinweisen wollte, dass die aus dem Osten geflüchtete Frau sich dort nicht aufhalten dürfe, entgegnete Hans-Gerts Mutter nur: »Für Marszalkowski scheint die Sonne genauso wie für dich und mich.« Rückblickend betont Hans-Gert Pöttering, dass dies eine Aussage mit enormer Gewichtigkeit gewesen sei, die ihn tief geprägt habe. Ihren Söhnen Manfred und Hans-Gert erzählte die Mutter immer, dass die Menschen in Westdeutschland die Flüchtlinge und Vertriebenen nicht mit einer freudigen Haltung empfangen hatten, sondern sie eher ablehnten. Dabei waren es doch wie sie Deutsche, die aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen flüchten mussten bzw. vertrieben wurden. Wenngleich das Klima gegenüber den Flüchtlingen und Vertriebenen insgesamt wenig freundlich war, wie dies der Historiker Andreas Kossert konzise nachweist,³⁰ zumal aufgrund der ohnehin schwierigen Versorgungslage, war Agnes Sophie Pöttering den Heimatvertriebenen gegenüber immer sehr aufgeschlossen. Ihren Söhnen erklärte sie: »Wenn wir unsere Heimat hätten verlassen müssen, dann hätten wir auch ein freundliches Wort von denen erwartet, bei denen wir eine neue Heimat gefunden hätten.« So war die Mutter durch ihr weises und ausgleichendes Verhalten in alltäglichen Situationen Vorbild für den jungen Hans-Gert und seinen Bruder Manfred. Zeit und Umstände erforderten eben von Mutter Agnes Sophie, »eine sehr taffe Lady« zu sein, wie der jüngere Filius rückblickend meint, da sie sich als Kriegerwitwe durchschlagen musste. Was ihr stets zum Vorteil gereichte, waren die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bande in der Region, weshalb ihr Sohn aus heutiger Sicht auch von der »Geborgenheit unserer eigenen Heimat« spricht. In dieser lernte Hans-Gert Pöttering neben den polnischen später auch US-amerikanische Besatzungstruppen kennen, was zu einem den politischen Horizont definierenden Ereignis werden sollte. US-amerikanische GIs verteilten eines Tages Schokolade an Kinder in Bersenbrück, woraufhin sich beim jungen Hans-Gert eine Vorliebe, ja Affinität für die Vereinigten Staaten entwickelte, die jahrzehntelang halten sollte. Sich an die Zusammenkunft mit den US-amerikanischen Soldaten erinnernd, führt Hans-Gert Pöttering aus:

    »Ich hinterfragte das politisch nicht, aber die Amerikaner verhielten sich sehr aufgeschlossen und uns zugewandt. So entwickelte ich bereits in meiner Jugendzeit Sympathie für Amerika. Obwohl Schokolade zu verteilen nun kein Grund ist, Sympathie für irgendjemanden zu haben, aber das war die erste Begegnung mit Amerika.«

    Mit fast sieben Jahren wurde Hans-Gert im Jahr 1952 eingeschult und besuchte bis 1956 die Volksschule in Bersenbrück, die in wenigen hundert Metern Entfernung vom elterlichen Haus zu Fuß erreicht werden konnte. Dort wurde ein aus seiner schlesischen Heimat Vertriebener Klassenlehrer des jungen Hans-Gert. Herbert Frysch war es, der die Gesangskünste seines Schülers Hans-Gert förderte, indem er ihn, wie zu dieser Zeit üblich, vor der Klasse Lieder vorsingen ließ. So leistete Frysch einen Beitrag zur frühmusischen Erziehung des jungen Bersenbrückers. In der Volksschule fühlte sich Hans-Gert sehr wohl, was nicht zuletzt am Charakter seines Klassenlehrers lag, den er als angenehme, umgängliche und verständnisvolle Persönlichkeit kennenlernte. Wenngleich Frysch das Musisch-Kulturelle besonders am Herzen lag, thematisierte er ebenso zu dieser Zeit essenzielle politische Fragen wie die mit seinem persönlichen Schicksal verknüpfte Vertreibung aus der schlesischen Heimat – indessen ohne diesen Aspekt überzubetonen. »Er war so, wie man sich einen guten Pädagogen vorstellt«, erinnert sich Hans-Gert Pöttering Jahrzehnte später an seinen ersten Klassenlehrer. »Nicht jemand, der sehr streng war, der aber schon darauf achtete, dass alles seinen geordneten Weg ging, sehr verständnisvoll und den Schülerinnen und Schülern zugewandt.« Herbert Frysch war es auch, der Hans-Gert für den Besuch des Gymnasiums empfahl. Das Carolinum in Osnabrück, benannt nach Karl dem Großen, sollte die weiterführende Schule werden, auf die Hans-Gert nach eigenen Angaben »gut« durch die Zeit in der Bersenbrücker Volksschule vorbereitet worden war. Doch wie sollte das tägliche Pendeln von Bersenbrück nach Osnabrück (ca. 35 Kilometer) und zurück mit der Eisenbahn eigentlich finanziert werden? Nun kam es Hans-Gert – und auch seinem Bruder Manfred – zugute, dass die Mutter rechtzeitig damit begonnen hatte, Rücklagen aus dem Familiengeschäft zu bilden. Agnes Sophie Pöttering war es, die ihren beiden Söhnen im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten die Chance geben konnte, eine vernünftige Ausbildung zu absolvieren. Die Mutter legte größten Wert auf eine gute Schulbildung und ermöglichte daher ihren Söhnen den Besuch einer höheren Schule, obwohl sie selbst gar keine große Ausbildung genossen hatte. Nach dem Besuch der Hauptschule war sie, wie bei Bauerntöchtern üblich, zu den Ordensschwestern zum Erlernen von Küche und Hauswirtschaft gegangen. »Dass sie aber so aufgeschlossen war, uns eine vernünftige Ausbildung zu ermöglichen, das muss man ihr sehr hoch anrechnen«, sagt Hans-Gert Pöttering später.

    Im Rahmen des katholisch geprägten Milieus, in dem Hans-Gert aufwuchs, kam dieser – übrigens im Gegensatz zu seinem Bruder Manfred – in jungen Jahren zum Ministrantendienst. In der St.-Vincentius-Kirche von Bersenbrück wurde er Messdiener – eine »interessante« Tätigkeit, wie er später befindet. Im katholischen Pastor von St. Vincentius fand der junge Hans-Gert zudem ein »gutes Vorbild«. Nicht nur die Persönlichkeit des Pastors, sondern auch das Mitwirken am katholischen Gottesdienst, ja in der kirchlichen Gemeinschaft waren prägende Elemente in seiner Kindheit. Pöttering erinnert sich:

    »Am Altar mitzuwirken war Teil einer guten Ausbildung, fand ich. Es ist sicher nicht so, dass ich ein religiöser Mensch bin, der die Religion zum Hauptbestandteil seines Lebens macht. Es gehörte in einer ganz natürlichen Weise dazu. Die Erfahrung, Messdiener zu sein, war eine sehr gute Erfahrung, auch über das Religiöse hinaus, der Begegnung mit der Öffentlichkeit. Wenn man am Altar steht und Gebete mitsprechen muss, ist es auch eine Begegnung mit den Menschen.«

    Über den Ministrantendienst hinaus engagierte sich Hans-Gert, »der damals schon ein flotter Junge« war,³¹ auch im Verkauf der katholischen Bildzeitung Bildpost. Diese verkaufte er als Schüler sonntags nach dem Gottesdienst vor der Kirche und verdiente sich ein kleines Zubrot. Zwanzig oder fünfundzwanzig Exemplare überbrachte er darüber hinaus bereits freitags an die Abonnenten. Wenn der junge Hans-Gert dabei zu großen Bauern kam, zeigten sich diese in der Regel wenig großzügig. Ein Trinkgeld gab es nicht. Von einer Vertriebenenfamilie aus Schlesien erhielt Hans-Gert aber stets dreißig Pfennige dafür, dass er der alten Dame und ihren Töchtern – der Mann und Vater war bereits verstorben – die Bildpost lieferte. »Das war eigentlich eine kleine Sache«, erklärt Hans-Gert Pöttering Jahrzehnte später in die Vergangenheit zurückblickend, »aber es beeindruckte mich sehr, dass diese Leute, die selbst wenig hatten, auch noch diesem Jungen, der ihnen die Zeitung brachte, ein kleines Trinkgeld gaben.«

    Von 1956 bis 1961 besuchte Hans-Gert das schon erwähnte Gymnasium Carolinum in Osnabrück. Nachdem die Zeit in der Volksschule noch unbeschwert gewesen war, sollte sich sein schulisches Leben am Gymnasium zu einer Zeit der Höhen und Tiefen entwickeln. Die erste Klassenarbeit im Fach Deutsch in der Sexta brachte eine herbe Enttäuschung für den Jungen. Hans-Gert schrieb eine Sechs im Diktat, weil er in der Orthografie erkennbar sehr schlecht war. Zweifel regten sich unmittelbar, ob er das Gymnasium überhaupt schaffen würde. So blieben gerade die anfänglichen Jahre am Carolinum schwierige Zeiten. Zwei Schuljahre später erhielt Hans-Gert in der Quarta vom langjährigen Deutsch- und Klassenlehrer gar eine Fünf auf dem Zeugnis und wurde nicht in die achte Klasse versetzt. Er hatte keinen Ausgleich in einem Hauptfach, da er in den anderen Fächern überwiegend Dreien und Vieren erhielt. »Das war ein großer Schock«, befindet Pöttering später, zumal sein drei Jahre älterer Bruder Manfred im gleichen Jahr sitzen blieb. Zu alledem erhielt der durchaus kommunikative Knabe aus Bersenbrück von seinem Klassenlehrer Alfons Luers auch noch die Kopfnote »Hans-Gert muss sein vorlautes Wesen zügeln« – ein sehr kritisches Urteil über den Heranwachsenden. Klassenlehrer Luers empfahl Hans-Gerts Mutter zudem, dass der Sohnemann besser auf der Realschule als auf dem Gymnasium aufgehoben sei. Doch diesem Ratschlag folgte Agnes Sophie nicht. Sie wusste, dass ihr jüngster Sohn den Klassenlehrer am Carolinum auch nicht besonders mochte, zumal der Kollektivstraften verteilte. »Er war ein wirklich harter Hund«, erinnert sich Hans-Gert später. Auf dem Carolinum, einer reinen Jungenschule, sollten sich die Schüler gegenseitig erziehen, so die Philosophie Alfons Luers’:

    »Wenn jemand wegen Fehlverhaltens ins Klassenbuch eingetragen wurde, was legitim ist, dann musste die ganze Klasse eine Woche lang jeden Tag eine Seite aus dem Lesebuch abschreiben. Das fand ich so widerwärtig. Das hat auch mit der Würde eines Menschen zu tun, wenn ich für eine Sache keine Verantwortung trage, dann kann ich dafür auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn ich verantwortlich bin, dann natürlich mit aller Entschiedenheit.«³²

    Es sollte dauern, bis sich schrittweise und allmählich die Leistungen des jungen Hans-Gert verbesserten – auch in Deutsch, wo er sich später in der Sekundarstufe I von mangelhaften auf befriedigende Leistungen steigerte. Der Reifeprozess hatte begonnen. Denn das »Hängenbleiben war auch ein Ansporn dafür, dass ich mich stärker anstrengen sollte«, gibt Pöttering mit Blick auf seine anfänglichen Unzulänglichkeiten als Schüler des Gymnasiums Carolinum offenherzig zu. »[D]as gehört zum Leben dazu, dass man nicht immer nur Erfolg hat, und vielleicht war es sogar im Ergebnis ganz gut, diese Erfahrung gemacht zu haben, obwohl ich natürlich lieber versetzt worden wäre.« Zum Prozess der Reifung und Verantwortung gehörte für den jungen Hans-Gert auch die erste größere schulische Entscheidung, ja Weichenstellung für den weiteren Bildungsweg: Soll er ab der neunten Klasse im Carolinum neben Latein auch Griechisch belegen oder lieber den Mathematikzweig wählen? »Beides war eigentlich nicht das, was ich wollte.« Da nun weder die eine noch die andere Variante ihn glücklich machen konnte, entschied sich Hans-Gert stattdessen dafür, das Carolinum in Osnabrück zu verlassen und fortan das Artland-Gymnasium in Quakenbrück zu besuchen.

    »Ich wollte weiter Englisch haben und entschied mich, nach Quakenbrück zu gehen, was auch örtlich näher zu Bersenbrück liegt, etwa achtzehn Kilometer, nach Osnabrück waren es knapp vierzig Kilometer. Ich blieb dann im sprachlichen Zweig, behielt Englisch und schloss dort, auch durchaus erfolgreich, die Jahre von Klasse neun bis dreizehn ab.«

    Im Gegensatz zu seinem späteren Parlamentskollegen Otto von Habsburg, der in sieben Sprachen bewandert war,³³ wurde Hans-Gert allerdings nie ein Sprachgenie, wie er selbstkritisch befindet. Eine besonders ausgeprägte Fähigkeit, Sprachen zu lernen, hatte er nämlich nicht entwickeln können: »Ich war immer sprachbegeistert, aber nicht besonders sprachgewandt.« Noch im Alter von über 70 Jahren geht Pöttering übrigens seiner Leidenschaft für Sprachen nach und lernt Französisch.

    In der Adoleszenz aber übte neben seiner Muttersprache vor allem das Englische eine Faszination auf den jungen Bersenbrücker aus. Es entwickelte sich geradezu eine Anglophilie bei Hans-Gert Pöttering, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. So nimmt es denn auch nicht wunder, dass England Ziel des ersten Auslandsaufenthalts sein sollte. Im Alter von vierzehn Jahren kratzte Hans-Gert seine durch den Zeitungsverkauf gewachsenen Ersparnisse zusammen, nahm all seinen Mut zusammen und reiste für einen vierwöchigen Besuch ins nordenglische Birkenhead bei Liverpool. Die Einladung dorthin war von einer britischen Familie ergangen. Die Mutter und Frau war nämlich eine Deutsche und stammte ursprünglich aus Pötterings Heimatstadt Bersenbrück. Nachdem ihr Ehemann im Zweiten Weltkrieg gefallen war, sie also wie Pötterings Mutter eine Kriegerwitwe war, hatte sie nach dem Krieg während der Besatzungszeit einen britischen Soldaten kennengelernt und diesen später geheiratet. Die Bekanntschaft mit der nach Birkenhead ausgewanderten Bersenbrückerin kam ursprünglich über Agnes Sophie Pöttering zustande. Die örtlichen Kriegerwitwen hatten sich gegenseitig geholfen, wo sie konnten, nicht zuletzt im Haushalt. 1959 erging dann eine Einladung der Bekannten an den jüngsten Sohn von Agnes Sophie: Er solle doch einmal die Familie im englischen Birkenhead besuchen, um dort seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Mit seinem schon erwähnten Freund, dem Sohn eines Arztes, der ebenfalls einen Sprachaufenthalt in England absolvierte, reiste Pöttering 1960 über Hoek van Holland nach Dover und von dort weiter nach London. In der britischen Hauptstadt und Weltmetropole wurden die jungen Deutschen vom Lande von einer jungen Frau aus ihrer Heimatstadt Bersenbrück empfangen, die dafür sorgte, dass jeder in den richtigen Zug stieg und sein Ziel auch erreichte. Birkenhead selbst empfand Hans-Gert seinerzeit nicht als eine schöne Stadt im Vereinigten Königreich. Negative Erfahrungen – weniger als 15 Jahre nach Ende des Krieges – machte Hans-Gert aber nicht in England, zumal er »ein unschuldiger Junge vom Land« war, »dem man keine Vorwürfe machen konnte wegen der Verbrechen der Nationalsozialisten«. Überwiegend sammelte der Junge viele positive Erfahrungen in Großbritannien. Schon Ende der 1950er Jahre registrierte der heranwachsende Niedersachse derweil, dass die Briten einen strikten Unterschied zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa machten. Nicht nur geografisch gab es mit dem Ärmelkanal und der Nordsee eine klare Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa, sondern auch im Denken und in der Mentalität zwischen Briten und »Europäern«. Obgleich das Vereinigte Königreich geografisch natürlich zu Europa gehörte und gehört, beobachtete Pöttering, dass seine Bekannten und Gesprächspartner in Nordengland stets von »Europa« sprachen, wenn sie das europäische Festland meinten. Sie distanzierten sich damit ausdrücklich vom kontinentalen Europa. »Sie sprachen immer von Europa, meinten sich aber selbst dabei nicht«, erinnert sich Hans-Gert. Die integrationspolitischen Entwicklungen jener Jahre (1961 erstes Beitrittsgesuch des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, EWG) verfolgte der junge, durchaus an politischen Fragen interessierte Hans-Gert derweil noch nicht:

    »In diesem konkreten Sinne spielte damals der Wunsch Großbritanniens, sich der Europäischen Gemeinschaft (EG) anzuschließen, in meinem Bewusstsein keine Rolle. Aber ich verstand Großbritannien immer als Teil Europas. Mir fiel doch sehr stark auf, dass die Briten, wenn sie von Europa sprachen, nur den Kontinent meinten. Das fand ich nicht sehr sympathisch.«

    Der ursprüngliche Zweck der Reise war indessen nach einem Monat in der Nähe Liverpools erfüllt. Nachdem der junge Niedersachse die Chance ausgekostet hatte, jeden Tag Englisch sprechen zu können, ja nachts sogar auf Englisch träumte, konnte er seine Sprachkenntnisse doch signifikant verbessern. Fünf Jahre später kehrte der Oberstufenschüler Hans-Gert Pöttering 1964 abermals nach Birkenhead zurück. Dort verweilte er wieder, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Nunmehr gastierte er in einer englischen Familie mit vier Kindern, die er in Teilen Jahrzehnte später, als er Präsident des Europäischen Parlaments war, wiedersehen würde: Seine Gastmutter und einer der Gastbrüder folgten Pötterings Einladung und verbrachten einige gemeinsame Stunden, um in Erinnerungen an die alte Zeit in Birkenhead im Jahre 1964 zu schwelgen.

    Neben der Leidenschaft für alles Englische interessierte sich der junge Hans-Gert auch für das Lesen, trieb gerne Sport, reiste gerne und hegte eine Faszination für die klassische Literatur wie auch deren Darstellung auf der Bühne. In der elften Klasse am Artland-Gymnasium trat er so zum allerersten Male in dem Stück »Der zerbrochene Krug« von Heinrich von Kleist in einer Nebenrolle als Bauer »Veit Tümpel« auf. Pötterings Talent im Laienspiel blieb nicht unbemerkt: Der seit 1962 am Artland-Gymnasium tätige Germanistik- und Geografie-Lehrer Studienrat Gerhard Köster, der diese Laienspielgruppe betreute, erkannte das Können des Bersenbrückers auf der Bühne und in der Artikulation. Kennengelernt hatte Köster den jungen Pöttering schon im Schulunterricht in Deutsch und Geografie. Dieser hatte sich mittlerweile übrigens zu einem guten und begabten Schüler entwickelt – er war zu einem jungen Mann herangereift. Köster erinnert sich:

    »Er war ein bemerkenswerter Schüler. [...] Wenn man ihm eine Aufgabe stellte, dann ging er mit ganz großer Energie daran. [...] Er hat von mir einmal in Geografie ein Referat über Berlin bekommen. Er machte sich dann auf und suchte Material – und zwar professionell. Ich würde sagen, er war in der Oberstufe schon ein Student.«³⁴

    Das Referat über die Straße »Unter den Linden« bewerkstelligte Hans-Gert nach intensiver Fachlektüre meisterhaft. Er trug frei vor und demonstrierte Köster bereits hier seine rhetorische Brillanz sowie seine in der Zwischenzeit ausgebildeten intellektuellen Fähigkeiten. Die Evolution hin zu einem – wie Gerhard Köster es formuliert – bemerkenswerten Schüler kam allerdings nicht von allein. Vielmehr war es das Ergebnis eines Reifeprozesses. Der Umstand, dass Hans-Gert – wie erwähnt – einmal das Klassenziel verfehlt hatte und die siebte Klasse wiederholen musste, hatte sich ihm so eingeprägt, dass er sich einen genuinen Arbeitseifer und Fleiß angeeignet hatte. Nunmehr bereitete er sich wesentlich genauer und konzentrierter auf den Unterricht vor als noch in jüngeren Jahren: »Da ich es nicht immer leicht hatte in der Schule, nahm ich es schon ernst, mich auf den Unterricht vorzubereiten, wobei das, Gott sei Dank, mit zunehmendem Alter etwas leichter wurde.« In der Tat kann man mit weniger bescheidenen Worten als Hans-Gert Pöttering selbst urteilen, dass er sich sodann spätestens in der Obersekunda und erst recht in Unter- und Oberprima zu einem herausragenden Schüler entwickelte. Die Kopfnote in der 12. Klasse lautete dann auch: »Hans-Gert erkennt große Zusammenhänge« – eine Einschätzung, die den vormals schwächelnden Quartaner zu Recht mit Stolz erfüllte und, wie er selbstreflexiv Jahrzehnte später analysiert, »vielleicht schon ein kleiner Hinweis auf die Politik« war.³⁵

    Aber kommen wir zurück auf Pötterings Agieren in der später in »Studiobühne« umbenannten »Laienspielschar« des Studienrats Köster. Gerhard Köster hatte dem jungen Hans-Gert bereits seine erste Rolle im »Zerbrochenen Krug« gegeben, nachdem er ihn im Schulunterricht und auf dem Schulhof in den Pausen in seiner Interaktion mit den Mitschülerinnen und Mitschülern als aus der Schülerschaft herausragend erlebt hatte. Köster war jemand, der durch Beobachtung Entscheidungen traf: »Ich habe es an seinem ganzen Benehmen im Umgang mit anderen Schülern, Lehrern und mir gemerkt«, so Pötterings ehemaliger Lehrer. Genau deshalb entschied sich Köster schließlich auch, Pöttering 1965 für die Hauptrolle des Faust in Johann Wolfgang von Goethes »Urfaust« zu nominieren: »Hans-Gert, Sie sind mit von der Partie.« Mitnichten war der junge Hans-Gert zu dieser Zeit ein ausgewiesener Kenner der klassischen Literatur der großen Schriftsteller Deutschlands und Europas. Genau deshalb war Hans-Gert zunächst einerseits »erschrocken«, als Gerhard Köster ihn fragte, ob er den Faust spielen wolle, weil er es sich zunächst »gar nicht zutraute«. Es mangelte schlicht an schauspielerischer Erfahrung. Doch Hans-Gert sagte nach einigem Überlegen schließlich zu: »Ich wollte nicht kneifen.« Andererseits fühlte sich der junge Hans-Gert natürlich auch mit der Nominierung für Faust geehrt, wie sein ehemaliger Lehrer betont:

    »Es war für ihn ein ganz großes Erlebnis, dass er von mir ausgewählt worden ist. Ich war als Fachmann in Sachen Theater am Artland-Gymnasium bekannt. So mancher wäre gerne in die Studiobühne gekommen, aber meine Blicke gingen in andere Richtungen, zum Beispiel in die von Hans-Gert Pöttering. Er war sich dessen bewusst, dass es etwas Besonderes war, von mir ausgewählt zu werden.«

    Es wurde sodann eine gewaltige Anstrengung für den »eher unscheinbaren, aber strebsamen und netten« Unterprimaner,³⁶ den Text zu lernen: »Hab nun, ach, die Philosophei, | Medizin und Juristerei, | Und leider auch die Theologie | Durchaus studiert mit heißer Müh. | Da steh ich nun ich armer Tor, | Und bin so klug, als wie zuvor«, zitiert Hans-Gert Pöttering noch fünf Jahrzehnte später den Beginn von Goethes »Urfaust« aus dem Gedächtnis. Bis der Text sicher saß, bedurfte es hinreichender Proben, die im Gebäude der Jugendherberge, einem ehemaligen Zisterzienserkloster, in Bersenbrück sowie im Quakenbrücker Artland-Gymnasium stattfanden. Diese Proben verlangten von den Darstellern der Laienspielgruppe nicht nur ein Höchstmaß an schauspielerischer und rhetorischer Anstrengung, sondern brachten auch die Notwendigkeit mit sich, durch den ganzen Altkreis Bersenbrück zu reisen – übrigens zu einer Zeit, als volljährige Oberstufenschüler überwiegend noch keine eigenen Autos besaßen. Man war auf den nur unregelmäßig verkehrenden Bus angewiesen. Nach zahlreichen Proben, während deren sich die laut Einschätzung Gerhard Kösters durchweg talentierte Laienspielgruppe um Pöttering, Annegret Klaphake (Gretchen), Eberhard Haar (Mephisto), Rainer Bungenstock (Wagner) und Gabriele Kynast (Frau Marthe) besser kennengelernt hatte, tourte die »Studiobühne« mit ihrem »Urfaust« übers Land.³⁷ Alle Hobby-Mimen hatten während der Proben »total interessiert« zusammengearbeitet. Allesamt miteinander wurden durch die Darstellungen »sehr herausgefordert«, wie das damalige Gretchen, Annegret Hellmann (geb. Klaphake), rückblickend bilanziert. »Das Stück war schon schwer zu verstehen – die Probleme der Kindsmörderin.«³⁸ Nach der Debütaufführung des »Urfaust« in Quakenbrück erfolgten Inszenierungen in Bersenbrück, Fürstenau, Menslage und Bramsche. Zwar wurde Hans-Gert einerseits mit jedem Auftritt ein Stück sicherer auf der Bühne, andererseits entwickelte er einen gewissen Hang zur Lässigkeit. Er mimte den Faust bei der Aufführung in Brahmsche ohne jegliche Spannung, woraufhin der kritische Leiter und Lehrer Köster den jungen Hans-Gert zur Rede stellte: »Wie läufst du da über die Bühne? Es ist überhaupt keine Anspannung da.« Das war eine wichtige Erfahrung für den heranwachsenden Bersenbrücker:

    »Wenn man eine bedeutende bzw. außergewöhnliche Rede halten muss, dann ist es ganz gut, wenn man ein bisschen Lampenfieber hat. Das vermittelte mir die Einstellung, dass man sich nie zu sicher sein darf, sondern sich immer wieder bemühen muss. Nie ist etwas total abgeschlossen, es geht immer weiter, man hat immer neue Herausforderungen, denen man sich stellen muss, und man muss sich immer anstrengen. Das lernte ich daraus.«

    Die Erfahrungen auf der Bühne und während der Zeit als Messdiener, wo Pöttering neben dem Altar stand (in der vorkonziliaren Zeit indes überwiegend zum Altar gerichtet und nicht ständig in die Kirche zu den Gläubigen schauend), waren aufgrund der Begegnungen mit der Öffentlichkeit ohne Zweifel eine gute Vorbereitung für das folgende Leben in der Politik. Man sollte zwar nicht so weit gehen, schauspielerisches bzw. darstellerisches Talent als Fähigkeit eines Politikers zu bezeichnen, da dies als bewusste Täuschung der Öffentlichkeit interpretiert werden kann. Doch bedarf es sowohl als Darsteller als auch als Politiker einer gewissen Ausstrahlung und Überzeugungsfähigkeit. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Hans-Gert selbst über sich sagt: »Ich glaube, meine Stärke war immer, dass ich in einem überschaubaren Kreis eher überzeugen kann als in großen Reden.« Dass der junge Hans-Gert als Faust zu überzeugen wusste, hatte nicht nur sein Lehrer Gerhard Köster bereits früh erkannt. Auch das Bersenbrücker Kreisblatt schrieb nach der Uraufführung des Urfaust am 21. November 1965 voll des Lobes über Pöttering als Hauptdarsteller: »Er hat sich, und dies versteht auch der unbefangene Zuschauer, auch verstandesmäßig mit der Rolle auseinandergesetzt und beherrscht Leidenschaft, Resignation, Verzweiflung.«

    Abb041

    Pöttering als Urfaust mit Annegret Klaphake als Gretchen, Dezember 1965

    Die Leistungen des jungen Hans-Gert als Faust und seines Kollegen Eberhard Haar als Mephisto wurden als »eindrucksvolle Beweise des weit über laienhafte Darstellungen herausragenden Formates der beiden Spieler« gewertet.³⁹ Die erfolgreiche Premierenaufführung der »Studiobühne« wurde allerdings getrübt: Während Gretchen und Mephisto sowie Frau Marte für ihre guten darstellerischen Leistungen von ihrem Klassenlehrer Hofmann mit einem Blumenstrauß bedacht wurden, ging Hans-Gert ohne Blumen aus. »Mein Klassenlehrer, ich weiß gar nicht mehr, wer das war, hatte die Idee nicht, was aber auch völlig in Ordnung war«, erinnert sich Pöttering später nach wie vor mit leicht gekränkten Zwischentönen aufgrund der Nichtberücksichtigung mit Blumen.

    »Aber der Klassenlehrer dieser drei Mitspielerinnen und Mitspieler hätte daran denken müssen: Wenn er denen einen Blumenstrauß gab, was würde dann mit dem Faust? Deswegen war das eine komische Situation. [...] Man tut nichts Gutes, wenn man jemanden lobt, aber einen anderen, der es genauso verdient hätte, nicht lobt, dann macht man etwas falsch. Das lernte ich dadurch.«⁴⁰

    Derweil fällt die Reminiszenz Gretchens an diese Situation übrigens weitaus weniger kritisch bzw. dramatisch aus als die ihres Hauptdarsteller-Kompa­gnons. Annegret Klaphake analysierte die damalige Situation deutlich weniger ernst.⁴¹

    Nachdem Hans-Gert sehr gute Kritiken für seine Darstellungen erhalten hatte und sich seine Leistungen in der Oberstufe zudem deutlich gesteigert hatten, konnte er am 5. März 1966 zusammen mit seiner Mitschülerin Ellen Radke den Konsul-Penseler-Preis des Artland-Gymnasiums in Empfang nehmen. Dieser wurde der jeweils besten Schülerin und dem besten Schüler eines Abiturjahrgangs überreicht. Bereits zuvor war der Bersenbrücker aufgrund seiner guten Leistungen von der mündlichen Abschlussprüfung befreit worden. Darüber hinaus hatte die Schulleitung ihm, dem Jahrgangsbesten mit Ellen Radke, die Ehre zuteilwerden lassen, die Abschlussrede während der Entlassungsfeier zu halten. Für diese wählte der damals 20-jährige Hans-Gert sodann das Thema »Der Mensch in der Entscheidung unserer heutigen Welt«. In dieser Rede, die, wie er retrospektiv notiert, »viele meiner Grundsätze, die mich auch später durch mein Leben begleitet haben, zum Ausdruck bringt«, ging der Abiturient auf den damaligen innen- wie außenpolitischen Kontext ein, bewarb seine christliche Philosophie sowie deren Werte, analysierte die globalisierte Welt und betonte nicht zuletzt die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1