Brexit: zwischen Wahn und Sinn: Ein Klippe für Grossbritannien und Europa
Von Gerald Hosp
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sich London und Bern gegenseitig als Vorbild nehmen?
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Brexit - Gerald Hosp
Gerald Hosp
Brexit:
Zwischen Wahn und Sinn
Eine Klippe für Grossbritannien und Europa
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 NZZ Libro, Schwabe AG
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2018 (ISBN 978-3-03810-362-2)
Lektorat: Marcel Holliger, Zürich
Titelgestaltung: GYSIN [Konzept + Gestaltung], Chur
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03810-410-0
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe AG.
Inhalt
Einleitung
Wie es dazu kam
Als das Vereinigte Königreich im Chaos versank
Das stete Reiben an Europa
Der Niedergang des Empire
Das erste Europa-Referendum
Im Herzen oder am Rand
«Herumreiten auf Europa»
Es reicht nicht
Augenschein: Ein Blick nach Teesside
Wer für den Brexit gestimmt hat
Eine unheilige Allianz
Von Globalbritannien und Kleinbritannien
Der arktische Vorläufer
Dunkelrote bis rosarote Linien
Massanzug versus Zwangsjacke
Alte Freunde und neue Verbündete
Der Sprung ins Ungewisse
Augenschein: Der grosse Fang
Was hat die EU je für uns getan?
Kosten, Kosten, Kosten
«Irrelevant für Reformen»
Vom Nutzen eines Schocks
Von Rot zu Blau
Das Dilemma mit dem Trilemma
Die EU lässt einen nicht mehr los
Verletzte Gefühle und harte Interessen
Chaos in London
Reisende soll man ziehen lassen
Grossbritannien ist nicht die Schweiz, oder?
Der Chequers-Plan und die Prinzipien
Das Dogma der Unteilbarkeit
Chancen für Europa
Schlussbetrachtung
Anmerkungen
Literaturnachweis
Quellenverzeichnis
Dank
Einleitung
«You could unleash demons of which ye know not.»
David Cameron, früherer britischer Premierminister
In Westminster, rund um den neogotischen Parlamentsbau, pocht das politische Herz des Vereinigten Königreichs. Der Londoner Bezirk ist auch gemeinhin ein Sinnbild für die Verschmelzung von Politikern, Medienschaffenden und Lobbyisten, die sich in einer Blase bewegen. Grossbritannien ist das Paradebeispiel einer repräsentativen Demokratie, in der politische Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgehen. Das Referendum zum Austritt Grossbritanniens aus der EU hat das politische System in zweifacher Weise erschüttert: Erstens durch das Ergebnis an sich und, zweitens, durch die Volksbefragung als selten gebrauchtes Instrument, um eine politische Entscheidung zu treffen. Was sich einst buchstäblich am Rand des politischen Systems befand, ist in die Mitte vorgedrungen. Das Westminster-Parlament ist nicht weit vom Büro von Stuart Wheeler im Londoner Stadtteil Mayfair entfernt. Nähe und Distanz zum Regierungsviertel zeichnen das politische Wirken des hochbetagten Wheeler aus, der im Jahr 2000 für eine der grössten Geldspenden in der Geschichte des Landes an die Konservative Partei verantwortlich war. Er wechselte danach zur Anti-Establishment-Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) und engagierte sich für eine der Bewegungen, die für den Austritt Grossbritanniens aus der EU warben. Wheeler half mit, die Finanzierung von «Vote Leave» zu sichern. Der mit spitzbübischem Charme ausgestattete Wheeler hatte sein Geld mit der Gründung eines Unternehmens verdient, das ein Wetten auf Finanztitel erlaubt. Er gilt als passionierter Spieler. Seit mehreren Jahren agitiert er gegen die EU-Mitgliedschaft Grossbritanniens. «Wir haben unser Land erfolgreich geführt, ohne dass wir seit 1066 erobert worden wären», sagte Wheeler mit der festen Überzeugung eines Inselbewohners wenige Monate vor dem Referendum im Juni 2016. Es sei frustrierend anzusehen, dass Grossbritannien von einer nichtgewählten und undemokratischen EU-Kommission gelenkt werde. Das bevorstehende EU-Referendum sei der Höhepunkt für einen Euroskeptiker wie ihn, meinte Wheeler.
Was für die einen ein Höhepunkt war, schätzten die anderen als Tiefpunkt der britischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Am Anfang des Referendums stand die sogenannte Bloomberg-Rede des damaligen Premierministers David Cameron im Jahr 2013. Cameron wollte damit die Grabenkämpfe in der Konservativen Partei um die Europafrage beilegen. In der Rede stellte er die Idee eines Referendums über einen möglichen Austritt vor. Er versprach der britischen Bevölkerung, sie vor die Wahl eines Austritts oder einer Mitgliedschaft in einer nach britischen Vorstellungen reformierten EU zu stellen. Dass dies ein gewagter Schritt ist, war Cameron durchaus bewusst. Camerons Berater Craig Oliver erinnert sich in einem Buch über die Geschehnisse an ein Gespräch mit dem Premierminister auf dem Weg zur Rede. Oliver fragte Cameron nach einem guten Grund, keine Volksbefragung abzuhalten. Der Tory-Politiker antwortete: «Es könnten Dämonen von der Leine gelassen werden, die man noch nicht kennt.» Und Dämonen wurden losgelassen.
Die politische Diskussion auf der Insel entfernte sich nach der Brexit-Entscheidung meilenweit davon, Ironie oder gar Selbstironie als Instrument einzusetzen, was sonst übliche Versatzstücke in Grossbritannien sind. Vielmehr wurden vonseiten der hartgesottenen Brexit-Anhänger überall Betrüger, Verräter und Meuterer vermutet, wenn nicht der härteste aller harten Brexits angestrebt würde. Und auf der anderen Seite wurde der tägliche Weltuntergang ausgerufen und jede negative Nachricht für Wirtschaft und Gesellschaft mit dem EU-Austritt in Verbindung gebracht. Positive Meldungen wurden häufig mit dem Zusatz «trotz Brexit» versehen. Das Land bleibt auch nach der Abstimmung mit wechselnden Mehrheiten gespalten. Das Bekenntnis zu einer Anschauung wurde wichtiger als die Diskussion über die realpolitischen Auswirkungen, die Leichtigkeit war schnell abhandengekommen. Die Europafrage war aber beileibe kein Schnellzug, der auf einmal durchs Land raste, sondern vielmehr ein Bummelzug, der schon lange Zeit unterwegs war.
Als ich im September 2014 den Posten als Wirtschaftskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in London angetreten hatte, war der Gedanke, dass ein EU-Referendum tatsächlich zustande kommen könnte, noch weit entfernt. Gleichzeitig war es der Zeitpunkt eines anderen Referendums in Grossbritannien, das in den vergangenen Jahren für Furore gesorgt hatte: die Volksbefragung zur Unabhängigkeit Schottlands. Die schottische Bevölkerung sollte die Frage beantworten, ob die seit 1706 bestehende Union mit England aufgelöst werden solle. Zu dieser Zeit erschien das Vereinigte Königreich als ein Hort der politischen Abgeklärtheit. Die Wucht des schottischen Nationalismus wurde in einen direktdemokratischen Rahmen gelenkt, Emotionen wurden in einen Urnengang gepresst. Dass die britische Regierung ein schottisches Referendum zuliess und gelobte, sich an das Ergebnis zu halten, zeugte von einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren, das anderen Ländern durchaus Vorbild sein könnte. Dazu gehört auch, dass sich die Bevölkerung mit 55,3 Prozent der Stimmen gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen hat. Ein wichtiger Grund für das Ergebnis waren die unabsehbaren wirtschaftlichen Folgen einer Unabhängigkeit. Die Schotten entschieden sich so, wie man es sich erwartet hatte: mit dem Portemonnaie und pragmatisch. Was für das schottische Referendum noch gegolten hatte, wurde zwei Jahre später auf den Kopf gestellt.
Die britische Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft deutete zudem auf Grösseres hin. Es erschien, als ob Agenten des Zeitgeists die Geschicke des Referendums führten. Die Brexit-Entscheidung wird häufig im selben Atemzug wie die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 genannt. In beiden reifen angelsächsischen Demokratien kamen Politiker an die Macht oder wurde für Ansichten gestimmt, die den Nationalstaat in den Vordergrund rückten, die Globalisierung infrage stellten und den sogenannten politischen und wirtschaftlichen Eliten die Legitimation absprachen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach der Finanzkrise, die langfristigen Auswirkungen offener Grenzen sowie ein im Untergrund schlummernder Kulturkampf waren Bestandteile eines neuen politischen Cocktails, der in vielen Ländern, durchaus auch erfolgreich, angeboten wurde. Aufgrund des politischen Systems in den Vereinigten Staaten und der Natur eines Referendums hatten die Urnengänge in den USA und in Grossbritannien den Charakter einer Schicksalsentscheidung. Haben Donald Trump und Theresa May nun denselben Stellenwert für eine Renaissance des Nationalstaats wie einst das frühere amerikanisch-britische Duo Ronald Reagan und Margaret Thatcher für eine marktwirtschaftliche Revolution? Ein Vergleich der Trump-Wahl und der Brexit-Abstimmung zeigt neben Gemeinsamkeiten auch grosse Unterschiede. Während der frühere amerikanische Immobilientycoon «America first» zu seinem Motto gemacht und eine protektionistische Politik an seine Fahnen geheftet hat, sind die Brexit-Anhänger breiter aufgestellt: Sogenannte Thatcher-Liberale denken, dass die EU das Vereinigte Königreich zurückhält und an seiner Entfaltung hindert. Ihre Position ist eher, dass sich das Land der Globalisierung noch nicht weit genug geöffnet habe. Für den EU-Austritt Grossbritanniens stimmten gleichzeitig viele konservative Nationalromantiker, die ein Zeichen setzen wollten gegen Globalisierung, Freihandel und Zuwanderung. Ihnen gemeinsam war die Klammer, die «Kontrolle zurückzubekommen».
Die Entscheidung der Briten vom 23. Juni 2016 hinterliess bei vielen Europäern vom Kontinent, besonders bei denen, die sich selbst gerne als anglophil betrachten oder die im Königreich wohnten, ein Gefühl der Ablehnung, der Enttäuschung und der Täuschung. Wie kann nach mehr als 40 Jahren ein Bund aufgelöst werden, der mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft auch ein Bekenntnis zu europäischen Werten ist? Eine Antwort liegt darin, dass für die Briten Appelle an Gemeinschaftssinn und Solidarität, wie sie in Kontinentaleuropa gerne ins argumentative Feld geführt werden, schal klingen. Die europäische Integration ist für die Briten kein Selbstzweck, auch das Hohelied auf die Union als Friedensprojekt hat für ihre Ohren keinen besonderen Klang. Paul Collier, einer der bekanntesten britischen Ökonomen, nannte die EU einen «Traum alter Männer». Die Währungsunion und die Personenfreizügigkeit wertet der Ökonom als Symbolpolitik ab.
Dies ist wahrlich kein neues Phänomen, sondern zeigt das schon immer unterkühlte Verhältnis Grossbritanniens zur EU auf. Selbst ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft ist keine Besonderheit. Das Land trat erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Zwei Jahre danach stimmten die Briten bereits über einen Austritt aus dem europäischen Verbund ab. Initiiert hatte das – erfolglose – Referendum die sozialdemokratische Labourpartei. 1984 setzte die damalige Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt durch: Dem Nettozahler Grossbritannien wurde auf die EU-Beitragszahlungen ein Abzug gewährt. Das Königreich ist zudem weder Mitglied der Währungsunion noch des Schengenraums. Der Oxford-Ökonom Kevin O’Rourke spricht von einem halbherzigen Mitglied und führt dies auch auf das imperiale Vermächtnis zurück.
Die Diskussion um den Brexit lief und läuft zwischen Wahn und Sinn ab. Den Briten wird nachgesagt, pragmatisch zu sein und Entscheidungen mit Augenmass zu treffen. So erlag Grossbritannien im 20. Jahrhundert nicht den Schalmeienklängen totalitärer Ideologien, vielmehr hütete London das Feuer der liberalen Demokratie. Es ist eines dieser Klischees, das im Grunde positiv ist und deshalb auch wenig angezweifelt wird. Wie verträgt sich aber das Bild des kühl abwägenden und auf Zurückhaltung getrimmten Briten mit der hitzig geführten Diskussion um den EU-Austritt? Die aggressiven britischen Boulevardmedien sind Teil eines anderen Grossbritanniens, das grell, hemmungslos parteiisch und auf Konfrontation aus ist. Die Medien sekundieren dabei das auf einem Mehrheitswahlrecht aufbauende politische System, das immer wieder ein Garant für radikale Richtungswechsel ist. So erfolgte in Grossbritannien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein einschneidender Wandel von einem sozialistischen Wirtschaftsmodell zu einer durch Privatisierung und Regulierung angetriebenen Zurückdrängung des Staats. Trotz allem wird dadurch nicht erklärt, wieso ein Teil der Brexit-Befürworter so darauf erpicht ist, jede Brücke zur EU niederzubrennen, auch wenn dies mit einer Attacke auf britische Institutionen verbunden ist, die eigentlich durch den Brexit gestärkt werden sollen. In der Debatte kamen gute und schlechte Argumente dafür auf, dass der Brexit die grosse Befreiung ist oder der Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs, dass der Brexit einen Aufbruch in eine neue Welt bedeutet oder einen Rückfall in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit. Eines ist gewiss: So mancher Dämon wurde losgelassen.
Wie es dazu kam
In the nightmare of the dark
all the dogs of Europe bark.
W.H. Auden
Als das Vereinigte Königreich im Chaos versank
«Wir wollen noch ein Referendum», brüllt ein junger, bärtiger Mann ins Megafon. Direkt gegenüber dem Parlament in Westminster in London steht unter dem strengen Blick der Statue des einstigen Premierministers Winston Churchill eine Menge zusammen, einer Selbsthilfegruppe gleich. Das Megafon wird herumgereicht. Jeder, der will, darf über seine Gefühle zum Referendum sprechen, das mit einer Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geendet hat. Die Volksbefragung, die einen starken Einschnitt in die britische Geschichte bedeutet, ist an diesem Samstag erst zwei Tage alt. Der junge Mann redet sich in Rage: «Ich bin ein stolzer Londoner. Wir sind liberal. Wir lieben die EU. Wir lieben die Migranten.» Die Menge, die vor allem aus Jüngeren besteht, applaudiert.
Das Vereinigte Königreich hat am 23. Juni 2016 mit knapp 52 Prozent für den Brexit gestimmt. England und Wales waren mehrheitlich für den Austritt. In der Hauptstadt London, in Nordirland und in Schottland überwogen hingegen die Stimmen für den Verbleib in der EU. Die 15-jährige Jadelyn kommt auf dem Platz vor dem Parlament an die Reihe. Mit zitternder Hand nimmt sie das Megafon und sagt mit leicht verweinten Augen, ihre Zukunft sei zerstört, die Pensionisten seien mit leeren Versprechen und Lügen geködert worden. Das Zuwanderungsproblem sei aufgebauscht. Im Gespräch erzählt der Teenager mit den blau gefärbten Haaren, dass die Grosseltern für den Brexit gestimmt hätten. Sie hätte nicht wählen gehen können. Um ihren Protest auszudrücken, ist Jadelyn aus Surrey südöstlich von London nach Westminster gekommen. Michael English ist ebenfalls erbost. Der 52-jährige Mitarbeiter einer Reiseagentur sorgt sich um die Zukunft seiner zwei kleinen Töchter. Aus seiner Sicht hat seine ältere Tochter den besten Grund für das Bleiben in der EU geliefert, indem sie einmal gesagt habe: «Ich möchte nicht allein sein.» Auch English schiebt den älteren Mitbürgern die Schuld in die Schuhe.
Im Londoner Regierungsviertel Whitehall ist keine Europaflagge zu sehen. Stattdessen flattern neben dem Union Jack, dem britischen Hoheitszeichen, Regenbogenfahnen, als ob Grossbritannien einem bunten Bündnis beigetreten sei. Bei den Flaggen handelt es sich um ein Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung, die an diesem Wochenende den Höhepunkt der Veranstaltung Pride in London feiert. Eine einsame Europaflagge steht ausgerechnet vor einem altehrwürdigen Pub, dem Barley Mow im Stadtviertel Marylebone. Die Frau hinter der Theke sagt lakonisch, dass man sich noch nicht dazu entschlossen habe, die Flagge wegzuräumen. Dies sei so endgültig.
Brexit-Befürworter triumphieren verhalten. Gareth Fielding sagt, er sei mit dem Ergebnis zufrieden, aber nicht voller Freude. Fielding hat ein eigenes Beratungsunternehmen in der Finanzbranche, hat für einige Zeit in der Schweiz gelebt und ist zum Zeitpunkt des Referendums Mitglied der rechtspopulistischen Partei United Kingdom Independence Party (Ukip) gewesen, die den EU-Austritt vorangetrieben hatte. Er hätte es vorgezogen, Teil einer auf einen Handelsblock reduzierten Union zu bleiben, sagt er. Die Zuwanderung sei unkontrollierbar geworden, die Kosten der Union seien gestiegen und die EU-Gesetzgeber ausser Rand und Band. Grossbritannien habe immer mehr an Bedeutung verloren. Wenn sich die EU nicht verändern wolle, sei es eben Zeit zu gehen. Der joviale und traditionsbewusste Fielding meint auch, dass es jetzt eine Menge zu tun gebe. Es werde weder schnell noch leicht vonstattengehen. Aus Fielding spricht das Selbstbewusstsein einer Nation, die auf historische Grösse zurückblickt.
Was sich in den ersten Tagen nach der Volksabstimmung abspielte, war bereits ein Vorbote für die kommenden stürmischen Wochen, Monate und wohl auch Jahre für Grossbritannien. Das Brexit-Referendum war kein Schlusspunkt in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung des Vereinigten Königreichs mit der EU. Vielmehr wurden neue Gräben aufgerissen, die sich schon im Abstimmungskampf zeigten und danach nicht wieder zugeschüttet werden konnten: Alt gegen Jung, wirtschaftlich vernachlässigte Gegenden gegen prosperierende, kosmopolitische Städte, Gutausgebildete gegen Schlechtausgebildete. In den Wochen nach der Volksbefragung gab es mehrere Nachbeben, die das jahrhundertalte institutionelle Gefüge Grossbritanniens aufwühlten. Der konservative britische Premierminister David Cameron, der sich so sicher war, einen EU-Austritt abwenden zu können, gab am Tag nach dem Urnengang seinen Rücktritt bekannt. 14 Monate zuvor, im Jahr 2015, hatte Cameron noch völlig überraschend eine absolute Mehrheit im Unterhaus in der Parlamentswahl errungen. Dieser Urnengang schien ohnehin in einer politischen Parallelwelt stattgefunden zu haben. Keiner