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Yorricks Coup
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eBook524 Seiten6 Stunden

Yorricks Coup

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Über dieses E-Book

Laura und Solitaire stellen sich ihrer bislang größten Herausforderung. Im Gefolge des Feldzugs der Armada von 1588 heften sie sich an die Fersen eines spanischen Verräters, der seine Kameraden beim Untergang der Gran Grifón vor Fair Isle im Stich ließ, mit einem Sack Golddukaten untertauchte und als Engländer Yorrick in der deutschen Hanse Unterschlupf fand.
In der Folge wurde er zum Mythos und Urvater einer angesehenen "Bruderschaft", die nach seinem Tod allmählich zur kriminellen Vereinigung verkommt, lange in der Versenkung verschwindet, um in jüngerer Zeit als Thule Tingvall politisch runderneuert wiederaufzuleben.
"Stammland" des Tingvalls sind die entlegenen Archipele am nordwestlichen Rand Europas: Hebriden, Orkneys und Shetlands. Die werden damit zu bevorzugten "Trittsteinen" auf der von Leichen gepflasterten Route der Försters auf der Jagd nach einer Chimäre namens Bluebell.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum14. Aug. 2020
ISBN9783740776725
Yorricks Coup
Autor

Paul Werner

Geboren 1945 in Altensteig, Nordschwarzwald, wuchs Paul Werner in Wuppertal auf. Als Berufsoffiziersanwärter verließ er 1967 nach fast drei Dienstjahren die Bundesmarine. Anlass seiner Demission war der seines Erachtens damals von Politik und Justiz unter den Teppich gekehrte Mord an dem Studenten Benno Ohnesorg. In Würzburg und Bonn studierte er englische und russische Philologie auf das Höhere Lehramt. Ein weiteres Ziel, das er 1972 trotz des inzwischen erlangten Staatsexamens wieder verwarf. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit, als Seiteneinsteiger Konferenzdolmetscher der EU-Kommission in Brüssel zu werden. Studierte parallel zu seiner Arbeit aus zuletzt acht "passiven" Sprachen ins Deutsche und Englische auch sechs Semester Jura an der Fernuni Hagen und hielt sich beruflich längere Zeit jeweils in verschiedenen europäischen Metropolen und Kulturen wie London, Kopenhagen, Athen, Moskau und Istanbul auf. Mit einer Dänin verheiratet, besuchte er Skandinavien und nicht zuletzt Norwegen regelmäßig zu Wasser und zu Lande. Nachdem er sich schon während seiner Militär- und Studienzeit immer mal wieder mit Gelegenheitsartikeln für alle möglichen Gazetten versucht hatte, widmete er sich vom Zeitpunkt seiner Pensionierung an fast ausschließlich der Abfassung von maritimen Essays und Abenteuerromanen mit kriminalistischem Einschlag (siehe Verzeichnis). Paul Werner ist geschiedener Vater dreier erwachsener, "durch und durch dänischer" Töchter, wohnt selbst jedoch in Heidelberg.

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    Buchvorschau

    Yorricks Coup - Paul Werner

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel

    Die Kanzel des Todes

    Das Kap des Zorns

    Der Fels des Verrats

    Zweites Kapitel

    Hole-in-One

    Die schwimmenden Balkone

    Die Mutter der Stürme

    Drittes Kapitel

    Der Alptraum

    Das Thule Tingwall

    Löwe und Lamm

    Viertes Kapitel

    Die Ornithologen

    Das steinerne Schiff

    Der Wolfsrachen

    Funftes Kapitel

    Ozean der Zeit

    Der Hohlweg

    Die Handwerker

    Sechstes Kapitel

    Quendale Manor

    Ein tödliches Dilemma

    Gruß von Teofilo

    Siebtes Kapitel

    Die Mirrie Dancer

    Der Shetland-Shuttle

    Das Logo

    Achtes Kapitel

    Marstein Feuer

    Norwegian Wood

    Die lebendige Fackel

    Neuntes Kapitel

    Gefechtsstationen

    Bratteli Mitte

    Sweet Bluebell

    Zehntes Kapitel

    Die Hundekurve

    Die Halbtaucherin

    Don Rostov

    Elftes Kapitel

    Der Bungalow

    Pandoras Büchse

    Anruf genügt

    Zwolftes Kapitel

    Der Kriegsrat

    Die Yakamoz

    Ultima Thule

    Dreizehntes Kapitel

    Ungebetene Gäste

    Der Schläfer erwacht

    Ragnarök

    Epilog

    ERSTES KAPITEL

    1. Die Kanzel des Todes

    Der Mann am Steuer des offenen Motorboots schlägt die Kapuze seines Anoraks mit einem jähen Ruck seines Kopfes nach hinten und lässt sich so vorsichtig auf die für sein Hinterteil deutlich zu klein geratene Sitzschale sinken, als fürchte er, sie könnte sich unter seinem Körpergewicht verbiegen oder gar brechen. Der zu dieser Jahreszeit penetrant herabrieselnde norwegische Landregen macht überraschend doch mal Pause. Die allmorgendlichen Dunstschleier über dem engen Lysefjord weichen milchigem Grau, das auch jetzt, im anbrechenden Frühjahr, nicht bereit scheint, sich anstandslos von der langen winterlichen Finsternis zu trennen.

    Als der Mann seinen Parka ablegt, tritt darunter die Uniform eines norwegischen Polizisten zutage. Sein bestes Mannesalter hat er offenkundig bereits hinter sich. Mit seinem grauen, dichten Oberlippenwulst von Schnurrbart ähnelt er auf einige Entfernung dem älteren Josef Stalin. Von dem winzigen Anleger des Weilers Bratteli kommend, ist der „Georgier", wie ihn seine Kollegen deshalb auch gerne scherzhaft nennen, auf dem Weg nach Stavanger, wo er um zwölf Uhr mittags seinen Kollegen vom Morgendienst ablösen wird. Bis dahin gilt es, in der Stadt noch einige private Besorgungen zu machen. In Gedanken geht er gerade zum wiederholten Male die wichtigsten Posten der Einkaufsliste durch, die ihm wie üblich von seiner Frau zusammengestellt wurde und die er dann wie üblich in der Eile des Aufbruchs auf dem Küchentisch vergessen hat.

    Seine wenigen freibleibenden Valenzen befassen sich indes mit seinem Dienstplan für die laufende Woche, der einen ärgerlichen Schönheitsfehler aufweist. Um sich von der lästigen Sonntagsbereitschaft befreien zu können, die ihm turnusmäßig wieder mal zufällt, muss er sich inzwischen immer ausgefallenere Vorwände einfallen lassen, da ihm alle naheliegenden längst ausgegangen sind.

    In Gedanken versunken und immer noch ein wenig schläfrig vom eher abgebrochenen als vollendeten Morgenschlummer, gestattet er dem Heck seines leichten GFK-Bootes, sich nicht zuletzt dank des fehlenden Kiels mit der Umdrehungsrichtung des Propellers zu solidarisieren und einen leichten Schlenker nach Steuerbord zu vollführen, der das Boot unmerklich näher an die Felsen entlang des nördlichen Fjordufers heranrückt. Ob seiner Enge, seiner relativ gradlinigen Ausrichtung und seines Mangels an Abzweigungen gleicht der „Lyse eher einem allerdings sehr trägen Flusslauf als einem landesüblichen Fjord. Und obgleich hier durchaus Platz für alle ist und der morgendliche Bootsverkehr sich heute sehr in Grenzen hält, tut der „Georgier dennoch gut daran, seine Gedanken nicht allzu weit schweifen zu lassen.

    Jetzt, da er sich fast schon an der Stelle befindet, an der über ihm in etwa sechs hundert Meter Höhe ein von Erosion wie mit dem Messer aus dem steil aufragenden Fels geschnittenes Plateau fast bis zum Fjordufer hinausragt, scheint ihm, als dringe mit einem Male ein halb erstickter Schrei an sein Ohr. Ein Schrei wie der seltsam krächzende Ruf eines in großer Höhe kreisenden Raubvogels, gefolgt von einem unheimlichen, rasend schnell anschwellenden Rauschen gleich dem eines mit beigeklappten Schwingen auf seine Beute herabstürzenden Adlers. Kaum bleibt dem verblüfften „Georgier" Zeit, seinen Kopf in den Nacken zu werfen und nach oben in die Wolken zu blinzeln, als direkt neben ihm auch schon ein Gegenstand mit hartem, dumpfem Schlag auf die Klippen prallt und in tausend Teile zerschellt.

    Als hätte ein immer zu Streichen aufgelegter Kobold, um den ahnungslosen Bootsfahrer dort unten zu Tode zu erschrecken, eine Schaufensterpuppe zusammen mit einem Eimer Farbe von dem Felsplateau gestoßen, das die Norweger Preikestol, sprich „Kanzel" nennen, breitet sich sofort ein großer, dünner roter Teppich auf den Klippen aus. Bruchstücke des zerschmetterten Objekts werden über die Reling ins offene Boot katapultiert. Unzählige kleinere und größere Farbspritzer zieren plötzlich die Uniform des Polizisten und lassen ihn wie einen gerade vom mörderischen Einsatz an einem nahöstlichen Kriegsschauplatz zurückkehrenden Soldaten erscheinen.

    Dies alles geschieht in Sekundenbruchteile und jedenfalls viel rascher, als der von den Ereignissen geradezu überrollte „Georgier" angemessen zu reagieren imstande ist. Der Uniformierte scheint zunächst wie gelähmt, unfähig, auch nur sein den Klippen inzwischen gefährlich nahe gekommenes Boot abzufangen und wieder auf Kurs zu bringen. Dass es sich letzten Endes doch noch vom Ufer entfernt, ist nur dem glücklichen Umstand zu danken, dass der Mann sich instinktiv, wenn auch viel zu spät, weit nach links lehnt, um der Farbdusche zu entgehen, die ihn ja längst ereilt hat und sich dabei am Steuerrad festklammert.

    Mit dem dadurch gewonnenen, geringfügigen räumlichen Abstand kehrt, so scheint es, das Blut in Gehirn und zentrales Nervensystem des „Georgiers" zurück. Er beruhigt sich leidlich und beginnt, das gerade Erlebte fieberhaft zu verarbeiten.

    Natürlich war ihm sofort bewusst, dass es sich bei den „Gegenständen nicht um eine Schaufensterpuppe und einen gleichsam explodierten Eimer Farbe handelt, sondern um einen Menschen, der sich entweder aus eigenem Antrieb von der Kanzel gestürzt oder versehentlich von deren Kante abgerutscht und ins Bodenlose gefallen ist. Die „Farbflecken sind Blutspritzer und die ins Boot katapultierten „Scherben" Knochensplitter.

    Ein weiterer jener verrückten sogenannten Base Jumpers vielleicht? Adrenalin-Junkies, die zum Teil von weither nach Norwegen kommen, um hier mit ihren Wing Suits von irgendwelchen Felsvorsprüngen wie diesem abzuspringen und mit atemberaubender Geschwindigkeit adlergleich dahinjagend der Schwerkraft zu trotzen. Oder, wenn’s mal weniger gut läuft, wie der aufgeblasene Frosch in der Fabel auf dem Boden aufzuschlagen und zu zerplatzen. Kurz vor seinem Aufprall, so hat der Polizist mal im Stavanger Aftonbladet gelesen, erreicht ein aus 600 Meter Höhe fallender menschlicher Körper von Normalgröße und durchschnittlichem Gewicht die Marschgeschwindigkeit eines ICE auf freier Strecke. Kein Objekt ist dazu gemacht, innerhalb von Sekundenbruchteilen von 300 km/ h auf Null reduziert zu werden, der menschliche Körper mal schon gar nicht.

    Das Treiben dieser Leute, meist junger Männer oder Frauen um die zwanzig, war in jüngerer Zeit schon häufig Gegenstand langer und zum Teil hitziger Erörterungen nicht nur in der Chefetage des örtlichen Polizeireviers, sondern auch im Osloer Parlament. Sollte man das Base Jumpen in Norwegen grundsätzlich verbieten und Felsabbrüche wie die Kanzel mit Geländern oder Gittern versehen?

    Einem solchen Vorgehen steht das Interesse der rührigen und einflussreichen norwegischen Tourismusindustrie entgegen. Die hat seit den segensreichen Ölfunden Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre zwar an Bedeutung eingebüßt, bildet aber dennoch weiterhin das zweite Standbein der heimischen Volkswirtschaft. Und entschärfte, sozusagen kindersichere Kanzeln locken keine Touristen, die den Nervenkitzel suchen.

    Der „Georgier" hat sein Boot inzwischen gewendet und gestoppt. Das Gehirn des Mannes blubbert im Leerlauf ähnlich ratlos dahin wie der Motor seines Bootes. Viel zu tun im Sinne menschlich gebotener und strafrechtlich relevanter Hilfeleistung ist hier sichtlich nicht mehr, so viel steht fest. Bleibt nur das makabre Aufräumen. Er bückt sich und hebt ein Stück Hirnschale auf, das gegen den Steuerstand geprallt und dann zu seinen Füßen liegen geblieben ist. Er wirft es auf die Klippen zu den anderen dort ausgebreiteten sterblichen Überresten und wünscht den Forensikern im Stillen viel Spaß beim Knochensammeln. Dann streicht er sich seufzend durch den Schnurrbartwulst.

    Sein Handy findet hier kein Netz, also muss er so der so erst in die Stadt, um den Vorfall ordnungsgemäß zu Protokoll zu geben. Was soll’s. Das Opfer läuft nicht mehr weg und Flatterband zur Absicherung des Fundortes führt er nicht mit. Er startet durch und drückt den Gashebel ganz durch, so dass sich der Bug des Bootes jäh aufbäumt und Kurs auf den Hafen von Stavanger nimmt.

    Auf dem Revier angekommen, erregt der „Georgier" ungewohnt große Aufmerksamkeit. Schließlich ist er immer noch von oben bis unten mit Blut bespritzt, dem auf den ersten Blick nicht anzusehen ist, ob es sich um Fremdblut oder um sein eigenes handelt. Seine nüchterne, wiewohl etwas ungelenke Aussage trägt rasch wieder zur Beruhigung bei. Kanzelspringer sind zwar Gott sei Dank keine ganz alltägliche Erscheinung, aber eben auch nicht so unerhört selten, dass sie die öffentliche Aufmerksamkeit der Hiesigen über das normale Maß hinaus fesseln könnten.

    „Vor circa einer halben Stunde, sagen Sie?" fragt ihn der Dienststellenleiter und blickt auf seine Uhr, als sei der Zeitpunkt des Aufpralls des Opfers von alles entscheidender Bedeutung für den Erfolg der weiteren Ermittlungen. Falls es denn überhaupt zu solchen kommt.

    „Gut, hören Sie, Ingvarsen. Sie bleiben am besten selbst an der Sache dran, haben ja sowieso gleich Dienstbeginn, oder? Eben. Aber lassen Sie sich schleunigst eine andere Unform geben. Wenn Sie sich so blutüberströmt in der Öffentlichkeit sehen lassen, fragen sich die Leute, ob denn schon wieder Halloween ist. Johansen kann dann etwas früher nach Hause, kommt seiner jungen Ehe hoffentlich zugute. Ich schlage vor, Sie und der Kollege Gallejo steigen auf die Kanzel, um dort eventuelle Spuren zu sichern. Bisschen Bewegung wird Ihnen nicht schaden, schätze ich. Die Kriminaltechnische sammelt derweil die Leichenteile da unten am Fjordufer ein, bevor sich die Ratten darüber hermachen. Wir müssen den Springer vor allem erst einmal identifizieren. Unfall oder Selbstmord, was ist Ihr erster Eindruck?"

    Ingvarsen zuckt mit den Schultern.

    „Er hat wohl einen Todesschrei ausgestoßen, daher würde ich schon mal nicht auf Selbstmord tippen. Aber schlüssig ist das natürlich nicht."

    „Er?"

    „Nun ja, nur so ein Bauchgefühl. Anzusehen war der Leiche das Geschlecht nicht. Jedenfalls nicht vom Fjord aus."

    „Verstehe. Die Forensiker werden das schon herauskriegen. Männlein und Weiblein voneinander zu unterscheiden, so viel darf man ihnen wohl zutrauen. Sie wissen ja, was ich von denen halte. Deren Job möchte man haben, eh, Ingvarsen?"

    „Nein, danke, Chef. Wasserleichen, Brandleichen, Springer, Zuganhalter, muss ich alles nicht haben. Da kehrt sich mir der Magen um."

    Zwei weitere Stunden später sind Ingvarsen und Gallejo, beide in Bergsteigermontur, auf dem Weg zur Kanzel. Ingvarsen ist kurzatmig und nicht schwindelfrei und hasst solche Bergtouren. Beim nächsten Mal, so nimmt er sich vor, wird er dergleichen Zwischenfälle ignorieren und so tun, als wüsste er von nichts. Die Entwicklung von Eigeninitiative, das hat er schon mehrfach im Laufe seiner Beamtenkarriere erfahren müssen, führt selten zu etwas Gutem.

    „Verdammt, Pepe, du spanische Bergziege, mach gefälligst etwas langsamer, nimm‘ Rücksicht auf die ältere Generation. Wie ist der Typ überhaupt da raufgekommen, möcht‘ ich wissen. Jemand muss ihn doch bis zum Einstieg gefahren und dabei gespürt haben, dass es sich um einen Springer handeln könnte. Ich meine, das merkt man doch, irgendwie."

    Der als Bergziege titulierte Gallejo hält kurz inne und dreht sich zu seinem älteren und deutlich korpulenteren Kollegen um.

    „Sag‘ du’s mir, Lars-Peter, sag‘ du’s mir. Außerdem, du sprichst dauernd von ‚ihm‘. Woher willst du wissen, dass es sich um einen Mann handelt? Ist ja auch egal. Vielleicht hat jemand das spätere Opfer unten mit dem Boot abgesetzt und sich nicht weiter drum gekümmert. Hauptsache, das Fahrgeld stimmte."

    Die beiden Polizisten sind so dick vermummt, dass ihnen das Sprechen nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung schwerfällt. Bei jedem Atemzug stoßen ihre von Wollschals fast völlig verdeckten Münder kleine, sich rasch verflüchtigende Reifschwaden aus. So gleichen sie dampfgetriebenen Robotern aus der Frühzeit der Bionik mit Ventilen, die sich kurz öffnen und genauso schnell wieder schließen, um Überdruck vorzubeugen.

    Dies ist nicht ihr erster Aufstieg zur Kanzel. Pepe Gallejo, der innerlich immer noch grinsen muss, wenn er auf die Frage nach seiner Nationalität gewohnheitsgemäß „Norweger, hört man das nicht" antwortet, ist hier sogar Stammgast. Sein Vater stammt aus einem Pyrenäendorf, kam vor einem halben Jahrhundert als Gastarbeiter nach Norwegen und blieb. Seine norwegische Frau schenkte ihm zwei Söhne, Pablo und Pepe, mit denen er bis zu seinem Tode noch jede Sommerferien in den heimatlichen Pyrenäen zu verbringe pflegte, um seine spanischen Verwandten zu besuchen, aber auch, um den beiden Jungs die Schönheiten des Kletterns im Gebirge näherzubringen. Seine Erfahrung im Bergsteigen hat Pepe bei den Kolleginnen und Kollegen den Spitznamen Fjällräven eingetragen. Das ist die schwedische Entsprechung unseres Polarfuchses, im eigentlichen Wortsinne jedoch Bergfuchs.

    Nun zuckt er mit den Schultern und schreitet mit sicherem, festem Tritt weiter. Der „Georgier" gibt sich Mühe, Schritt zu halten und flucht dabei leise vor sich hin, was seine Kurzatmigkeit nur noch verschlimmert. Die Route hoch zur Kanzel ist nicht gerade mit dem Durchsteigen der Eiger-Nordwand zu vergleichen, eher eine Art Schnupperkraxeln für mäßig ambitionierte Wanderer, die sich auch mal das eine oder andere zünftige Bergsteiger-Selfie gönnen möchten. Und dabei in aller Regel bald feststellen, dass sie weder über das richtige Schuhwerk noch über die wetterfeste Kleidung verfügen, die sie dort oben hinreichend gegen Kälte und Wind schützen würde. Außerdem unterschätzen sie häufig den Grad körperlicher Fitness, der für die zügige Bewältigung solcher Anstiege unerlässlich ist und geraten schnell in arge Atemnot.

    Die Gedanken zusammenhalten und stets darauf achten, wohin man seinen Fuß setzt, ist auch beim Gang zur Kanzel durchaus angeraten. Zumal jetzt, im März, da mit wachsender Höhe die Temperatur rasch absinkt und die Felsen vielfach noch überfroren und höllisch glatt sind.

    „Warum zum Teufel seilen die nicht einfach jemand mit dem Hubschrauber ab? Ginge doch viel schneller," fragt Pepe, ohne sich umzudrehen.

    Lars-Peter schüttelt missbilligend den Kopf.

    „Schön wär’s. Der Heli würde mit seinem Abwind die Kanzel ruck-zuck blankfegen und etwaige Spuren oder eventuelle Hinterlassenschaften in alle Himmelsrichtungen verwehen."

    Lars-Peter nickt wie zur Selbstbestätigung. Unter den gegebenen Umständen musste man das Ganze wohl noch als Glücksfall abbuchen. Hätte sich der Fjord wie so oft zu dieser Jahreszeit in richtig dichte Zuckerwatte gehüllt oder wäre der „Georgier" nur etwas früher oder wenig später losgefahren, hätte vermutlich niemand von dem Klippensturz erfahren. Die zerschmetterten Gebeine wären von Regen und Schmelzwasser weggewaschen oder durch Ratten vernichtet worden.

    Aus der Landschaft oder dem Stadtbild herausragende Höhen, seien es natürliche wie besonders charakteristische Felsformationen oder künstliche, wie Brücken, Türme oder Hochhausdächer üben bekanntermaßen eine unwiderstehliche Faszination auf potenzielle Selbstmörder aus. Menschen, unter ihnen nicht wenige Prominente, die sich mit einem solchen letzten spektakulären Akt aus dem Leben verabschiedeten, hat es zu allen Zeiten gegeben: Königs Ägis von Athen, zum Beispiel, oder die Dichterin Sappho von Lesbos. Auf manchen kleineren Inseln wie Levkas entsprach es durchaus den Gepflogenheiten, Verbrecher, die durch Freveltaten wie vor allem Mord ihr Leben verwirkt hatten, zur Strafe von hohen Klippen zu stoßen. Auf anderen Archipelen erwartete man von den zur Belastung gewordenen Alten, dass sie sich freiwillig ins Meer stürzen, anstatt der leistungsfähigen Jugend die knappen Nahrungsmittel streitig zu machen.

    Kein Wunder, dass Springer immer mal wieder auch in Stavanger auftauchen. Meist kommen sie allein, manchmal aber auch grüppchenweise. Unlängst erst verabredeten sich zwei Jugendliche, die einander nie zuvor begegnet waren, via Internet hier zum ersten und, wäre es nach ihnen gegangen, gleichzeitig letzten Date. Dank der Wachsamkeit der Hiesigen, die im Laufe der Zeit ein ähnliches Gespür für Selbstmordkandidaten entwickelten, wie etwa die Leute von Beachy Head an der englischen Kanalküste, konnten die beiden Teenager letzten Endes daran gehindert werden, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ob die beiden danach anderswo ihr Glück fanden, ist nicht überliefert, muss also unter der Rubrik „Und wenn sie nicht gestorben sind …" abgeheftet werden.

    Ein erstes aussagekräftiges Indiz im Hinblick auf die Entlarvung von potenziellen Springern liefert die jeweilige Jahreszeit. Wer als Backpacker im Frühjahr, Herbst oder gar mitten im Winter hier auftaucht, muss sich nicht wundern, wenn er oder sie so misstrauisch beäugt wird wie Rambo, der als Amerikaner, man glaubt es kaum, einen heruntergekommenen Grottenweiler des Mittleren Westens zu Fuß durchquert. Auffallend leichtes Gepäck oder eine der Jahreszeit offensichtlich nicht angemessene Kluft wie Happy Pants und kurzärmeliges Hawaiihemd geben weitere unverkennbare Anhaltspunkte ab.

    Die Fürsorge der Leute von Stavanger und Umgebung ist wie gesehen nicht unbedingt altruistischen Motiven geschuldet. Springer schaden dem örtlichen Ansichtskarten-Image. Mit Freaks aus aller Herren Länder, die kaum Nennenswertes verzehren, wild campen und sich auf der Kanzel das gruselige Gänsehautfeeling geben, lässt sich schlecht für das Norwegen der sündhaft teuren Hurtigruten werben.

    „Basislager von Gipfelseilschaft. Lars-Peter und ich sind gleich oben. Wie sieht’s bei euch da unten aus?"

    Das Funkgerät an Pepes Schulter knackt und rauscht. Dann meldet sich das „Basislager" vom Ufer des Fjords 600 Meter weiter unten.

    „Gipfelseilschaft von Basislager. Spurenlage … unübersichtlich. Wir sammeln gerade Kleidungsfetzen und Knochensplitter für die Asservatenkammer. Wird wohl mal wieder ein Puzzle für die Damen und Herren vom CSI. Mich blicken gerade hundert Kronen an und behaupten, das Opfer sei männlich. Hält einer von euch beiden Geizhälsen mit einem Hunderter dagegen?"

    Die beiden Cops oben im Fels lächeln sparsam. Sie kennen den grimmigen Humor ihres Kollegen. Aber selbst an dem scheint die makabre Spurensuche nicht ganz wirkungslos abzuperlen.

    „Basislager von Gipfelseilschaft. Verstanden. Nicht zu wetten aufgelegt. Irgendwelche weiteren zweckdienlichen Hinweise?"

    Jetzt ist es am Kollegen vom Basislager, verächtlich zu lachen. Doch er wird schnell wieder ernst.

    „Gipfelseilschaft von Basislager. Den Kleidungsstücken nach zu urteilen, handelt es sich um eine gut situierte Person, sehr gut bei Kasse sogar, wenn man den Schuhen trauen darf."

    Pepe und Lars-Peter nicken. Schuhe sind bisweilen das einzige Beweisstück, das halbwegs unzerstört bleibt und erste mehr oder minder zuverlässige Rückschlüsse auf Geschlecht, Alter, Herkunft und allgemeine Lebensumstände des jeweiligen Opfers zulässt.

    „Gipfelseilschaft von Basislager. Wie weit habt ihr noch zur Kanzel?"

    „Basislager von Gipfelseilschaft. ETA Kanzel … dreizehnhundert fünfunddreißig, wenn alles gut geht. Wir melden uns dann wieder. Ende." Lars-Peter denkt nach.

    „Vielleicht war die Person ja auch nicht allein."

    Pepe schüttelt den Kopf.

    „Ein Augenzeuge hätte uns doch benachrichtigt, wäre uns vielleicht sogar irgendwo über den Weg gelaufen. Wieso hätte er oder sie keinen Alarm geschlagen?"

    „Wie denn? Mit dem Handy hast du da oben kein Netz. Und wer weiß, vielleicht hatte die Person gar kein Interesse daran, sich zu manifestieren."

    „Du denkst an … ein Verbrechen, Mord?"

    „Wieso nicht? Immer eine überlegenswerte Option. Ein sanfter Stoß zur rechten Zeit und fertig ist die Kleinarbeit. Wer hat noch gleich behauptet, dass es keinen perfekten Mord gibt? Das ist Unsinn. Die meisten Mörder werden erwischt, weil sie viel zu kompliziert vorgehen und sich dabei selbst ein Bein stellen. In der Einfachheit liegt der Schlüssel des Erfolgs. Und Mörder, die demgemäß handeln, tauchen halt gar nicht erst in der Statistik auf. Das heißt aber nicht, dass es sie nicht gäbe. Man nennt das die Dunkelziffer …"

    Jetzt sind sie endlich an der Kanzel angelangt. Die letzten Schritte erfordern besonders große Aufmerksamkeit. Höhenangst wie die des „Georgiers" ist da eine schlechte Ratgeberin.

    Bevor sie das Felsplateau betreten, zückt Pepe sein Handy und schießt eine Serie von Fotos. Zwar liegt kein Schnee auf dem Plateau, aber das kriminaltechnische Labor in Stavanger ist bekannt für seine exzellente Ausrüstung, mit deren Hilfe es oft noch das nackte Gestein zum Sprechen bringt. Immer vorausgesetzt, dass die Fotos, die man ihm überlässt, die erforderliche Mindestqualität aufweisen.

    Im Übrigen ist die Kanzel leer. Kein mit Steinen beschwerter Abschiedsbrief, keine zurückgelassene Brieftasche oder Pass, nichts. Also wohl eher kein Freitod?

    Schon wendet sich Pepe seufzend ab, um den Rückweg anzutreten und dem Basislager über Funk zu melden, dass auf der Kanzel tote Hose herrsche. Doch sein Kollege packt ihn am Arm und hält ihn zurück.

    „Siehst du das da vorn?"

    Ingvarsen zeigt mit der rechten Hand auf die Mitte der Abbruchkante des Plateaus. Jetzt sieht es offenbar auch Pepe und nickt.

    „Ja. Sieht aus wie eine … Rune, ein ‚X‘. Ich mache mal für alle Fälle ein Bild."

    Er geht weiter bis zum Rand. Er weiß natürlich längst, dass sein Kollege nicht schwindelfrei ist und sich am liebsten vor Einsätzen wie diesem drückt. Phobien überwindet man nicht unbedingt, indem man sich wieder und wieder den die panische Angst auslösenden Situationen oder Objekten aussetzt. Das führt bei manchen zu einem Gewöhnungseffekt, bei anderen hingegen versagt die Methode. Aber was geht’s Pepe an. Er hat jetzt die Kante fast erreicht und richtet das Handy auf die krude Zeichnung am Boden. Dann geht er zurück und zeigt seinem Kollegen auf dem kleinen Display, was er aufgenommen hat. Es handelt sich tatsächlich um ein offenbar mit roter Kreide auf den Granitfelsen geritztes liegendes „X, in dessen pfeilartigen Hohlräumen je ein großbuchstabiges „T aufrecht steht. Lange wird es diesen Witterungsverhältnissen nicht mehr standhalten. Umso besser, dass sie es auf Platte gebannt haben.

    „Als hätte jemand die Absprungstelle markieren wollen."

    „Ja, nach Art der alten Zinken des Rotwelsch von Bettlern und Landstreichern. Stammt sicher nicht vom Opfer. Warum hätte es sich die Mühe machen sollen? Ein doppeltes ‚T‘? Außerdem ist es meines Erachtens gar kein ‚X‘. Eher ein liegendes doppeltes ‚Y‘. Siehst du das, wenn ich es so herum halte?"

    Der „Fjällräven" dreht den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, lässt sich aber nicht umstimmen.

    „Also für mich ist das ein ’X‘."

    Die beiden werfen noch einen letzten Blick auf die Kanzel und wenden sich dann zum Gehen. Den größten Teil der Zeit, die sie für den Rückweg brauchen, vertreiben sie sich mit der Diskussion darüber, ob es sich nicht doch um ein doppeltes ‚Y‘ handelt und weshalb jemand versuchen sollte, ihnen ein ‚X‘ für ein ‚U‘ vorzumachen.

    2. Das Kap des Zorns

    Wie auf unsichtbaren Schienen gleitet die Caroline Bunter sanft stampfend und leise tuckernd durch die mondlose, nahezu windstille Nacht. Wenige Stunden vor dem Morgengrauen kehrt Pete Murdochs Fischkutter in seinen Heimathafen Stornoway auf der Hebrideninsel Lewis und Harris zurück. Der Doppelname des Eilandes stammt entweder von einem Witzbold oder ist Ausdruck eines faulen Kompromisses, mit dessen Hilfe ein jahrzehntelang schwelender Streit darüber, ob das Inselchen nun Lewis oder Harris heißen sollte, endlich zur Zufriedenheit der beiden bis aufs Blut miteinander verfeindeten Parteien geschlichtet werden konnte.

    Der niedrige Freibord des Fahrzeugs lässt ahnen, dass Petes Fischzug erfolgreich war. Die in Vierergruppen ausgestrahlten weißen Blitze des Leuchtturms von Cape Wrath hoch droben hinter dem Heck des Kutters leuchten dessen Skipper gleichsam heim. Zugleich übt der Ruhepuls des sich unablässig wiederholenden Lichtsignals anscheinend eine besänftigende Wirkung auf die gefürchteten „blauen Männlein" aus, die hier im North Minch ihr Unwesen treiben. Minch, so nennen die Hiesigen dieses nie ganz geheuer wirkende Stück Nordatlantik zwischen den nordwestlichen Highlands und den nördlichen Inneren Hebriden.

    Wer in diesem Gewässer von zweifelhaftem Ruf einer ungefährdeten Passage sicher sein will, sollte einer alten Legende zufolge mindestens so schlagfertig wie navigatorisch bewandert sein. Der in den North Minch einfahrende Seemann läuft nämlich Gefahr, von jenen blauen Männlein gemobbt und gefoppt zu werden und letzten Endes vielleicht gar Schiff und Leben zu verlieren. Von ihm ablassen werden die poesievernarrten blauen Männlein jedenfalls erst, wenn der Seemann eine von ihnen vorgegebene Verszeile kunstgerecht, das heißt, mit passendem Versmaß und Reim ohne langes Nachdenken wie einen Schwerthieb zu parieren weiß. Beispiel gefällig? Blaues Männlein: Warte, warte nur ein Weilchen … Seemann: … dann kommt Haarmann mit dem Beilchen ...

    Kein Ding? Wie man’s nimmt. Entscheidend ist generell zwar weniger die Qualität des Reims als die Schlagfertigkeit seines Schmieds. Dennoch soll es Fälle gegeben haben, in denen makabre Reime wie der obige als zu kontroversiell abgelehnt und das Fahrzeug trotzdem zum Kentern und Sinken gebracht wurden. Pete hingegen wähnt sich da nach Jahren der Schullektüre von Autoren wie Burns oder Byron auf der sicheren Seite. Schließlich ist er auch sprachlich gut ausgestattet, beherrscht das schottische Gälisch ebenso wie das Englische und hat sogar mal am altskandinavischen sogenannten „Norn" geschnuppert, wie es lange auf den Shetlands gepflegt wurde. Insofern ist er guter Dinge, notfalls einen ordentlichen Reim aus dem Ärmel schütteln und seinen reichen Fang sicher in den Hafen bugsieren zu können.

    Gerade vertraut er die Caroline Bunter kurz dem Autopiloten an, um nach seinem geliebten Päckchen Lucky Strike zu suchen, das er vor kurzem irgendwo abgelegt haben muss, als er plötzlich innehält. Etwas, das eben noch Teil des nächtlichen Ambientes war, ist mit einem Male scheinbar so verschwunden wie seine Zigaretten. Genau! Die regelmäßigen vier Blitze! Der Leuchtturm von Cape Wrath wurde bereits vor vielen Jahren auf Automatik umgestellt und schaltet sich im Morgengrauen dank der die einsetzende Helligkeit registrierenden Fotozellen von selbst ab. Doch vom Morgengrauen ist diese randständige Gegend Europas zurzeit noch eine ordentliche Anzahl Längengrade entfernt. Und nie ist die Nacht so finster wie kurz vor der Dämmerung, pflegte sich schon Petes Großvater, der zahnlose alte Brian, in den Bart zu murmeln und Großmama Nelly dabei vieldeutig zuzuzwinkern. Etwas im Staate Dänemark ist oberfaul.

    Als ihm die ablandige Brise ein paar leise, trockene Knacklaute wie das Schnabelklappern von Störchen zuzuraunen scheint, stoppt Pete die Caroline Bunter auf, reckt seinen Kopf aus dem geöffneten Schott des Führerhauses und lauscht angestrengt in die Nacht. Nichts, was das Geräusch des langsam im Leerlauf drehenden Motors übertönen würde. Oder doch? Ein verwehter Schrei wie der eines hungrigen Fischadlers, so scheint ihm jedenfalls. Was war das? Bloße Einbildung eines übernächtigten Gehirns? Ein Todesschrei? Beim Gedanken an die blauen Männlein läuft es ihm kalt den Rücken hinab. Vielleicht steckt ja doch ein Fünkchen Wahrheit in diesem Ammenmärchen?

    Dann blitzt die sich um ihre Achse drehende Fresnel-Linse auf dem Kap urplötzlich wieder auf, als hätte sie sich ein Beispiel an Pete genommen und sich eine kleine Auszeit gegönnt. Eins-zweidrei-vier. Dann kurze Dunkelheit und wieder vier Blitze. Alles in allem ein dreißig Sekunden-Takt. Anfangs hatte der blutjunge Pete immer nur die Dauer der Lichtphase ausgezählt und nicht verstanden, wieso das Ergebnis nie mit den Angaben in Seekarte und Handbuch übereinstimmte. Bis Brian ihn irgendwann aufgeklärt und zugleich eindringlich gewarnt hatte.

    „Ein schlimmer Fehler. Die falsche Auszählung von Feuern hat schon so manchen unerfahrenen Seemann sein Boot gekostet."

    Das war lange vor der Erfindung des GPS, als Leuchttürme ein lebenswichtiger Bestandteil der Seefahrt und noch nicht zum heutigen folkloristischen Beiwerk verkommen waren. Wer in früheren Jahren des Nachts auf eine Küste zulief und sich der Kennungen der Leuchtfeuer nicht absolut sicher war, dem konnte man nur raten, beizudrehen und mit der Weiterfahrt bis zum Tagesanbruch zu warten.

    Pete zieht den Kopf wieder ins Führerhaus und gibt Gas. Soll er mit einer Meldung dieses vorübergehenden Aussetzers die Pferde scheu machen? Jetzt, da das Feuer wieder reibungslos zu funktionieren scheint? Dass außer ihm noch irgendwer drüben auf den menschenleeren Highlands um das Kap oder hier auf dem verwaisten North Minch den Zwischenfall bemerkt hat, ist eher unwahrscheinlich.

    Was ihm freilich Kopfzerbrechen bereitet, sind diese merkwürdigen Klapper-Geräusche, die vom Kap an seine Ohren drangen. Die klangen entfernten Schüssen nämlich zum Verwechseln ähnlich …

    Gewiss, die in einem Radius von etwa zwanzig Meilen landeinwärts vom Kap so gut wie unbewohnte Gegend wird des Öfteren für militärische Manöver und sogar Bombenabwürfe genutzt. Vielleicht hat man bei einer Nachtübung das Licht des Leuchtturms kurz abgeschaltet, um beteiligten Kampfflugzeugen bewusst die Annäherung im Tiefflug zu erschweren? Die aber wären wohl zu hören gewesen. Und einen unangemeldeten Eingriff in die Sicherheit des zivilen Seeverkehrs in Gestalt des wenn auch kurzen Abschaltens des Leuchtfeuers würden sich selbst die englischen Streitkräfte nicht so ohne weiteres erlauben dürfen.

    Nicht nur Kampfjets, sondern auch etwaigen Geschütz- oder Fahrzeuglärm hätte Pete auch auf diese Entfernung in der Stille der Nacht hören müssen. U-Boote verkehren ebenfalls zuhauf hier und bilden eine ständige Gefahr für die Fischer, die bei ausgebrachten Netzen praktisch bewegungsunfähig sind. Werden die Netze dann vom Turm oder Periskop eines passierenden U-Boots versehentlich aufgespießt und mitgeschleift, dann bringt dies den Kutter im Handumdrehen zum Kentern und Sinken. Von einem U-Boot auf Schleichfahrt hätte man allerdings vermutlich nichts gesehen oder gehört.

    Pete seufzt und greift zum Mikrofon seines Funkgeräts.

    „Sécurité, Sécurité, Sécrutié. Küstenwache von Caroline Bunter, Rufnummer …"

    Pete setzt einen niedrigstufigen öffentlichen Routine-Rundruf auf Kanal 16 ab, mit dem Skipper unterwegs wahrgenommene potenzielle Gefahrenquellen und Anomalien wie etwa vom Strom vertriebene Tonnen oder defekte und erloschene Feuer zu melden pflegen, damit alle anderen gewarnt sind und so rasch wie möglich Abhilfe geschaffen werden kann. Es dauert eine Weile, bis die Küstenwache reagiert. Pete, nun lediglich zwei Seemeilen von Stornoway Harbour entfernt und damit in Riechweite der heimischen Fleischtöpfe, teilt seine Beobachtungen mit und erwähnt nach kurzem Zögern auch die seltsamen Geräusche, ohne sie allerdings von sich aus als Schüsse zu qualifizieren. Soll sich die Küstenwache gefälligst selbst ein Bild machen.

    „Danke, Caroline Bunter, wir übernehmen. Gute Heimkehr und Ende."

    Obwohl dieser Austausch von Funksprüchen gegen fünf Uhr morgens stattfindet, wird es dennoch Mittag, bis ein Militärhubschrauber über Stornoway einschwebt und der dem Helikopter entsteigende Heeres-Offizier sich nach dem inzwischen seinen versäumten Schlaf nachholenden Pete Murdoch erkundigt. Als man den eine halbe Stunde später telefonisch erreicht, ist er zwar alles andere als begeistert, lässt sich aber breitschlagen, mit den Militärs zum Kap Wrath zu fliegen und ihnen seine Beobachtungen noch einmal selbst genau zu schildern.

    Während er den zwei Offizieren im Drillich und einem Beamten in der dunkelblauen Uniform des Northern Light Board, NLB, noch im Helikopter kurz und knapp Rede und Antwort steht, kann Pete sich der Faszination des unter ihnen wie ein riesiges Meeresungeheuer aus grauer Vorzeit rasend schnell durchs Wasser jagenden Hubschrauberschattens nur schwer entziehen.

    Da er nie in den Diensten Ihrer Majestät stand, weiß Pete mit den Rangabzeichen schon der Marine wenig anzufangen, von denen des Heeres ganz zu schweigen. Aus der Art und Weise des Umgangs der beiden Offiziere miteinander erhellt jedoch auch für ihn als Laie, dass der eine Vorgesetzter des anderen sein muss. Wahrscheinlich ein Hauptmann und ein Leutnant. Höherrangige Offiziere dürften sich mit solchen Lappalien wohl kaum abgeben.

    Schließlich setzt der Helikopter innerhalb des von einer halbhohen Mauer umgebenen Leuchtturm-Perimeters auf. Der Pilot wartet, bis die vier Männer von Bord gesprungen sind und hebt dann sofort wieder ab. Pete blickt ihm so sehnsüchtig nach, als sei er gerade für immer auf Alcatraz abgesetzt worden.

    „Keine Angst," beruhigt ihn der Hauptmann.

    „Er kommt in genau einer Stunde zurück und bringt Sie wieder nach Stornoway. Wir sind ihnen sehr verbunden, dass Sie bereit waren, uns Ihre Zeit zu opfern."

    Dann stellt sich der NLB-Beamte vor.

    „Steve McCullough von der zuständigen Behörde."

    Pete nickt. Er braucht keine langen Erläuterungen. Doch hier, das spürt auch er, liegt Kompetenzgerangel in der Luft. Während nämlich für den reibungslosen Betrieb der meisten Feuer an den Küsten der britischen Inseln das sogenannte Trinity House, ein von der Krone beliehenes Privatunternehmen mit langer Tradition verantwortlich zeichnet, unterliegen die schottischen Leuchtfeuer dem Northern Light Board, seines Zeichens eine staatliche Behörde. Da die ganze Gegend um Cape Wrath jedoch zu Lande wie zu Wasser und in der Luft militärisch sensibles Areal darstellt, haben die Streitkräfte Ihrer Majestät hier ebenfalls immer ein Wörtchen mitzureden.

    Und wenn es um die Ermittlung ungeklärter Vorfälle wie diesen mit einem gewissen Spionagepotenzial geht, dürften Vertreter des Inlands-Aufklärungsdienstes MI 5 auch ihr Ohr auf der Schiene haben.

    Die einzigen, die ihre Nase offenbar unter gar keinen Umständen in diesen Fall stecken sollen, in dem es ja immerhin um Totschlag oder Mord gehen könnte, sind die örtliche Polizei und Scotland Yard, obwohl gerade die am ehesten geeignet wären, die Sache rasch aufzuklären. Beamtenlogik, denkt Pete und spuckt abschätzig auf den Rasen.

    „Hab‘ eigentlich noch nie darüber nachgedacht, obwohl ich schon einige Zeit hier Dienst tue," wendet sich der Hauptmann unvermittelt an McCullough.

    „Ist dieser Turm auch ein Produkt Ihrer berühmten Stevenson-Familie?"

    „Unserer Stevenson-Familie? Sie meinen die Stevenson als Schotten? Ich dachte immer, die Familie gehört zum gemein-britischen Kulturerbe. Wie dem auch sei, klar, der Leuchtturm hier auf Cape Wrath wurde ebenfalls von den Stevensons erbaut. Fragen Sie mich aber nicht, von welchem. Ich weiß zuverlässig nur, dass es sich nicht um Robert Louis handeln kann, der einzige, der sich nie mit Leuchttürmen abgab und doch die Familie erst sozusagen auf die Landkarte brachte."

    Der Hauptmann lacht.

    „Das schwarze Schaf fällt eben leichter auf, eh?"

    „Kann man so sagen. Hatte mit der Seefahrt insgesamt wenig am Hut, der Mann. Hielt es lieber mit dem alten spanischen Motto, demzufolge man gut daran tut, das Meer zu rühmen und an Land zu bleiben."

    „Verstehe. Kluger Mann. Apropos Spanien," wendet sich der Hauptmann an den Leutnant.

    „Ich war letztes Jahr vier Wochen zu gemeinsamen NATO-Manövern mit Franzosen, Spaniern und Portugiesen in Algeceiras. Liegt ja gleich gegenüber dem Felsen von Gibraltar. Sie können sich nicht vorstellen, was wir uns von den spanischen Kollegen so alles anhören mussten. Wegen Gibraltar, meine ich. Früher ging mir das Thema am Allerwertesten vorbei. Aber nach diesen Diskussionen mit den Spaniern hoffe ich, dass keine britische Regierung je den Union Jack auf dem Affenfelsen einholt wie zuletzt den von Hongkong. Der Felsen ist und bleibt englisch, basta. Stört es jemand, wenn ich rauche?"

    Die anderen verneinen höflich und schlendern zum Leuchtturm. Am eher enttäuschend gedrungen wirkenden weißen Turm angekommen, der mit seinem schwarzen Hut am Tage von Ferne wie ein hypertrophierter Pilz wirkt, der hier am Kap ob einer Laune der Natur aus dem Boden geschossen ist, sehen sie sich ein wenig um. Es weht nun eine ordentliche auflandige Brise, der drei der Männer beim Gehen so gut es eben geht den Rücken zukehren. Lediglich Pete scheint wind- und wetterfest genug, dem Wind ins Auge blicken zu können.

    Während McCullough umständlich ein großes Schlüsselbund aus der Tasche zieht und wie ein Gefängniswärter nach dem richtigen Schlüssel für die Leuchtturmtür sucht, erkunden die beiden Offiziere leise miteinander flüsternd die nähere Umgebung.

    Pete schlurft unschlüssig hinter ihnen her und kommt sich dabei wie ein Hündchen vor, das man mit dem Versprechen in den Park zu locken wusste, ihm Stöckchen zum Apportieren zuzuwerfen, jetzt aber, da sich zeigt, dass hier gar keine Stöckchen herumliegen, schlechterdings in Vergessenheit geriet.

    Es dauert nicht lange, bis der Leutnant in die Hocke geht und seinen Kollegen auf etwas aufmerksam macht. Pete geht unaufgefordert ebenfalls näher heran.

    „Patronenhülse. Kaliber .38, würde ich schätzen."

    Der Leutnant hat einen Kugelschreiber gezückt und die leere Hülse daran aufgespießt. Er richtet sich auf und präsentiert das corpus delicti stolz der imaginären Geschworenenbank.

    „Legen sie sie bitte hier hinein," sagt der Hauptmann und hält dem Kollegen einen kleinen durchsichtigen Plastikbeutel geöffnet vor die Nase.

    „Noch mehr davon?" fragt er dann und leuchtet am helllichten Tage mit seiner Taschenlampe das halbhohe Gras ab. Hat wohl zu viel CSI Miami geguckt, denkt Pete im Stillen.

    „Hier, noch eine. Und da drüben."

    Die Offiziere sind wieder fündig geworden und freuen sich darüber wie Kinder beim österlichen Eiersuchen.

    „Fußspuren?"

    Der Leutnant weist auf das hier und da plattgedrückte Gras und geht, den Blick starr auf den Boden gerichtet, wie ein Indianerscout voraus. Schnell durchquert er die einzige Tür im Mauerwerk, das den unmittelbaren Leuchtturmbereich von der rund zwei hundert Meter senkrecht ins Meer fallenden Klippe trennt. Dann winkt er seinen bedächtig folgenden Vorgesetzten wieder heran.

    „Ich zähle zehn oder zwölf

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