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LAND UNTER
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eBook308 Seiten4 Stunden

LAND UNTER

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Über dieses E-Book

Herbst 2060: In Deutschland ist es heiß. Nach einem Anschlag auf die Deiche hat die Nordsee große Teile des Landes überflutet. Der Staat ist pleite, die Wirtschaft stagniert und Millionen müssen in prekären Jobs arbeiten. Enno ist in seine Heimat nach Ostfriesland zurückgekehrt. Gemeinsam mit seinen Freunden Hose, Tine und Warner, dem alten Piet und der Schlepperkapitänin Chris lebt und arbeitet er in den Ruinen der überschwemmten Städte.
Eines Tages erfährt Enno von den Hintergründen des Anschlags. Dadurch gerät er ins Visier eines gewissenlosen Spekulanten und eines Berliner Clanchefs … "Land unter" mischt Zukunfts-, Kriminal- und Heimatroman. Das Buch entführt den Leser in eine Welt, in der der Klimawandel bereits stattgefunden hat. Vor diesem Hintergrund erzählt es eine vielstimmige Geschichte über Freundschaft und Familie, Vertrauen und Solidarität, Geheimnisse und Gier.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum13. Juli 2020
ISBN9783957658869
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    Buchvorschau

    LAND UNTER - Dieter Rieken

    2057

    1·Der fliegende Holländer

    Als Enno über das Balkongitter ins Boot stieg, griff eine Böe nach ihm und ließ ihn beinahe straucheln. Der Wind brachte den Stoff der Kapuze so heftig zum Flattern, dass es wie ein Trommelwirbel in seinen Ohren klang.

    Nicht gerade das ideale Wetter, um zur Anlage rauszufahren, dachte er, während er sich auf der Achterducht niederließ und den Motor startete. Aber es war ja nicht sein erster Einsatz bei stürmischem Wind und rauer See. Enno hoffte nur, dass Nummer 12 ihn nicht mit einer aufwendigen Reparatur überraschte. Der Wetterdienst hatte einen Sturm angekündigt, und dieser würde sicher bald eintreffen.

    Er ärgerte sich über die Stiche hinter den Schläfen. Während er das Boot durch die von Back- nach Steuerbord vorüberziehenden Wellen lenkte, verfluchte er das Bier, das er gestern Abend im Heaven getrunken hatte. »Irgend so 'n Billigbier«, hatte ihm Hose, sein bester Freund und Betreiber des Heaven, achselzuckend mitgeteilt. »Ist von Chris. Sie sagt, es gibt im Moment nichts anderes.« Das hatte Enno als Erklärung gereicht. Gutes Bier war überall schwer zu bekommen, es sei denn, man war dazu in der Lage, überhöhte Preise zu bezahlen. Die meisten Leute hier draußen lebten aber von der Hand in den Mund. Darum kaufte die Schlepperkapitänin Chris, die Ennos Nachbarschaft seit Kurzem mit Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln versorgte, in der Regel ausschließlich Waren ein, die ihre Kunden sich auch leisten konnten.

    Er zog den Ärmel der Öljacke hoch, wischte die Feuchtigkeit vom Display des PUC, des Personal Universal Communicators an seinem Unterarm, und vergewisserte sich, dass er sich nicht umsonst so früh aufgemacht hatte. Nein, die Message war eindeutig: ein Auftrag der Stufe eins. Golden Blades 7, Gondel Nummer 12. Kein Kontakt zum Umweltüberwachungssystem. Die Sache war ganz einfach: Dringlichkeitsstufe eins verlangte eine umgehende Erledigung; Enno war der für Golden Blades 7 zuständige Wartungstechniker; und er hatte den kürzesten Weg bis zur Offshore-Windkraftanlage.

    Wenn er den Auftrag nicht gewollt hätte, wäre ihm schon eine Begründung eingefallen, ihn abzulehnen. In diesem Fall hätte das Predictive-Maintenance-Team in der Hafenstadt Achim den nächstbesten Techniker benachrichtigt. Doch Enno machte sich nichts vor: Er hatte einen Flexkontrakt. Für Bereitschaft gab es nur die Sockelvergütung, also fast nichts. Und er war diese Woche erst einmal im Einsatz gewesen. Davon konnte er nicht leben. Also hatte er den Auftrag bestätigt, noch bevor er richtig wach gewesen war.

    Der Nordwestwind blies jetzt so stark, dass er den jungen Mann fast über Bord schob. Zugleich zwang er ihn dazu, immer wieder den Kurs zu korrigieren. Das störte Enno aber nicht. Vielmehr genoss er die Herausforderung, vor die ihn das Wetter stellte. Außerdem liebte er das auf wenige Farbtöne reduzierte Panorama, das ihm ein Morgen wie dieser bot. Das aufgewühlte Wasser sah aus wie Granit, der von Schieferstreifen durchzogen war. Ein Wolkenband verdeckte die noch tief stehende Sonne und sorgte dafür, dass sich die Kolorierung des Himmels kaum von der des Meeres absetzte. Am Horizont gingen Wasser und Wolken beinahe nahtlos ineinander über. Nur die Wellenkämme waren mit Gischt gesäumt und bildeten einen scharfen Kontrast zu den verschiedenen Grauschattierungen.

    Er war froh, dass es nicht regnete. Ein bisschen schämte er sich für diesen Gedanken, denn ihm war klar, dass den Landwirten nach vier Monaten Dürre jeder Tropfen willkommen gewesen wäre. Regen hätte die Überfahrt jedoch sehr unangenehm gemacht. Enno besaß eine Persenning und ein flexibles Gestänge, mit dem er sie leicht aufspannen konnte. Er benutzte die Konstruktion aber nur als Sonnenschutz. Bei diesem Wetter hätte sie ohnehin nicht lange gehalten.

    Während er sich Golden Blades 7 näherte, zeigte das Display des PUCs eine Windgeschwindigkeit von knapp vierzig Knoten an. Über siebzig Stundenkilometer, überschlug Enno im Kopf, Stärke acht also. Er bemühte sich, durch die Nase zu atmen, weil ihm jedes Mal, wenn er die Lippen öffnete, eine Böe die Luft aus dem Mund riss. »Das verschlägt dir den Atem«, nannte Hose dieses Phänomen. Enno lächelte, als er sich an das Wortspiel seines Freundes erinnerte.

    Zwischen den Türmen der Windkraftanlage fing seine Kapuze wieder an, laut zu flattern. Immerhin war er jetzt wach, und die Kopfschmerzen hatten sich ein wenig gelegt.

    Bei Nummer 12 angekommen, schnallte er sich den Rucksack um, in dem sich Werkzeug und Ersatzteile befanden, wickelte die Befestigungsleine um das Handgelenk und kletterte die Leiter zum Einstieg hinauf. Er erreichte die Plattform, die den Turm zur Hälfte umrundete, und machte das Boot an einem Ring fest. Anschließend presste er sich gegen die Wand und schob den linken Arm durch einen der Haltegriffe. Mit der freien Hand öffnete er den Reißverschluss der Öljacke. Trotz der frühen Stunde war es schon so warm, dass er in der Wetterschutzkleidung ins Schwitzen kam.

    Über den PUC stellte er Kontakt zur Steuerung des Windrads her. Auf dem Display verfolgte er, wie sich die Luke der Gondel öffnete und der Motor der Winde ansprang. Enno legte den Kopf in den Nacken. Mit bloßem Auge konnte er dort oben keine Bewegung feststellen. Dadurch wurde ihm einmal mehr bewusst, wie riesig die Windräder waren. Die Gondel, die den Rotor trug, befand sich hundertzwanzig Meter über ihm. Aus seiner Perspektive wirkte sie wie ein Spielzeug. Dabei war sie fast so groß wie ein Haus und wog mehrere Hundert Tonnen.

    Es dauerte ein paar Minuten, bis er den Lasthaken erkennen konnte, der sich zu ihm herabsenkte. Das Wartungspersonal nahm für den Aufstieg in der Regel die Leiter im Innern des Turms. Enno pfiff darauf. Es war ja nicht verboten, die Winde als Fahrstuhl zu nutzen. Er stieg mit einem Fuß in den schweren Haken, sicherte sich ab und ließ sich hinauftragen.

    Er hatte noch keine zehn Meter hinter sich gebracht, da begann es zu hageln. Zum Glück hielt der Schauer nicht lange an. Anderenfalls hätte Enno wieder hinunterfahren und das Boot abdecken müssen.

    Auf dem Weg nach oben versuchte er, die Gebäude in der näheren Umgebung auszumachen. Als Erstes entdeckte er Warners Leuchtturm. Kurz darauf waren die oberen Stockwerke des Hochhauses zu sehen, in denen er sich selbst vor zwei Jahren eingerichtet hatte. Auf halber Höhe meinte er, das Hotel Fährhaus, in dem Kalli, Monika und ihr Bruder lebten, und das Dach der Ludgerikirche zu erkennen, die das Heaven beherbergte. Doch er war nicht sicher. Die Gebäude waren zehn, fünfzehn Kilometer entfernt – nicht mehr als verwaschene Kleckse, die sich kaum vom Graublau des Wassers und des Himmels abhoben.

    Bevor er den Einstieg erreichte, richtete er den Blick in die Ferne. Das Festland lag hinter dem Horizont. Obwohl er es besser hätte wissen müssen, enttäuschte es ihn jedes Mal, dass die Küste selbst aus dieser Höhe nicht zu sehen war.

    Vor drei Jahren stand hier noch ein Deich, vergegenwärtigte er sich. Die Inseln waren längst überflutet gewesen, aber er hätte hinter den mit Stahl und Beton bewehrten Schutzwällen zumindest ein paar Häuser, Bäume und Felder im Blick gehabt. Stattdessen Wasser, so weit das Auge reichte.

    Der Anschlag hatte alles verändert.

    Enno kannte die Fakten. Er hatte sich jahrelang mit dem Terrorangriff und seinen Auswirkungen beschäftigt.

    Am Abend des neunzehnten Dezember 2055 um kurz nach acht hatten die Redaktionen mehrerer Nachrichtenkanäle die Mitteilung erhalten, dass in achtundvierzig Stunden ein Anschlag auf die Schutzwälle an der Nordseeküste verübt werden würde. Die Ankündigung stammte von einer Gruppe, die sich »Der Rechte Weg« nannte. Niemand hatte je zuvor von ihr gehört. Es gab jedoch gute Gründe, die Drohung ernst zu nehmen. Stil und Wortwahl ließen vermuten, dass es sich um militante Islamisten handelte. Die arabische Welt, in der seit Jahrzehnten Krieg und Chaos herrschte, brachte alle paar Monate eine radikale Gruppierung hervor, die mit politisch oder religiös motivierten Anschlägen von sich reden machte.

    Knapp sechzehn Stunden später, am Mittag des zwanzigsten Dezember, detonierten sechs der ursprünglich zwölf Sprengsätze – die anderen hatte man gefunden und entschärft. Sie rissen klaffende Löcher in die Deiche zwischen Den Haag und Hamburg. Weil die Evakuierung noch nicht abgeschlossen war, löschte die Flutwelle, die alle tiefer gelegenen Landesteile überrollte, innerhalb einer Stunde ein Drittel der Einwohner der Niederlande aus. In Deutschland tötete sie weitere zwei Millionen Menschen. Das Wasser überschwemmte den Norden Niedersachsens, den Stadtstaat Bremen und große Teile Hamburgs. Als es zum Stehen kam, hatte Deutschland eine neue Küstenlinie, die sich von Meppen im Westen bis nach Lüneburg im Osten erstreckte.

    Der Terroranschlag war der schwerste und folgenreichste, der Europa je getroffen hatte. Er beschäftigte die Medien bis heute. Dokus und Expertenrunden kauten jedes Detail wieder und wieder. Bis auf die Täter, deren Identität niemals zweifelsfrei geklärt werden konnte, gab es vermutlich nichts, das der Öffentlichkeit verborgen geblieben war.

    Die ersten Bilder der Flutkatastrophe stammten von den Drohnen der großen Sendeanstalten. Enno hatte sie ein paar Minuten nach den Explosionen empfangen. Er saß zu diesem Zeitpunkt mit seiner Mutter und rund zwanzig anderen Menschen im Glockenturm in Jever und wartete auf Rettung.

    Seitdem hatte er keine Doku über den Anschlag, die Hintergründe und die Folgen verpasst. Eine Zeit lang hatte er jede freie Minute damit verbracht, sich die Clips anzusehen, die von den Betroffenen während der Flutkatastrophe aufgenommen und ins Netz gestellt worden waren. Es war ein Kaleidoskop des Grauens.

    »Vielleicht tu ich mir das an, weil ich mich schuldig fühle«, hatte er Hose einmal erklärt. »Meine Mutter, ein junges Paar aus der Nachbarschaft, ein Freund aus Bremen, vier Arbeitskollegen … So viele Tote! Und man selbst kommt mehr oder weniger durch Zufall davon. Schon komisch, dass man deswegen Schuld empfindet, oder? Weil es einem besser ergangen ist als den anderen.«

    Enno verdrängte die Gedanken an den Anschlag und konzentrierte sich auf die Arbeit. Der PUC bot ihm Zugriff auf alle Diagnosetools, die er brauchte. Dennoch fand er den Fehler erst nach einer halben Stunde: Schmutz im Stecker eines der Glasfaserkabel im Verteiler. Darum empfing die Leitstelle in Achim keine Daten mehr über Temperatur, Luftfeuchtigkeit und andere Umweltbedingungen in der Gondel. Enno ärgerte sich, dass er die Anschlüsse nicht früher überprüft hatte. Wegen des Abriebs war Staub in den Gondeln ein ständiges Problem – und das vorgeschriebene Wartungsintervall für die Steckverbindungen viel zu lang.

    Nachdem er die Endflächen der Glasfasern gereinigt hatte, funktionierte die Übertragung wieder. Er schloss den Verteiler ab, loggte sich in das Wartungsprotokoll ein und hinterließ einen Vermerk. Anschließend zog er sein Ölzeug an und machte sich mithilfe der Winde auf den Weg nach unten.

    Seit seiner Ankunft war eine knappe Stunde vergangen. Die Temperatur war auf siebenundzwanzig Grad gestiegen. Der Tag würde wieder heiß werden. Es war jedoch nicht die Hitze, die Enno beunruhigte, sondern das aufziehende Unwetter. Während er in Nummer 12 beschäftigt gewesen war, hatte der Wind eine Geschwindigkeit von achtundvierzig Knoten erreicht. Die vorübertreibenden Schaumstreifen waren so dicht, dass man die Rotorblätter von Golden Blades 6, des nächstliegenden Windparks, nicht mehr erkennen konnte. Der Sturm hatte das Meer zu mächtigen Wellenbergen anschwellen lassen, die in hohem Tempo durch die Türme walzten. Das Motorboot hob und senkte sich mit jeder Woge um mehrere Meter. Zwischen den Kämmen warf es sich an der Leine hin und her wie ein gefangenes wildes Tier.

    Während er den Lasthaken hinauf schickte, überlegte Enno, ob er das Unwetter nicht besser in der Gondel aussitzen sollte. Für den Fall, dass widrige Umstände einen Techniker zu einem längeren Aufenthalt zwangen, gab es dort Wasser, Essensrationen und sogar ein Notbett. Die Zeit könnte er sich mit PUC Video vertreiben. Er entschied sich anders. In den Gondeln konnte es sehr warm und stickig werden. Dagegen ließ es sich zu Hause, in den schattigen Räumen direkt über dem Wasser, an heißen Tagen gut aushalten. Sturm hin oder her.

    Von einer Böe getrieben, taumelte er auf den Ring zu, an dem er festgemacht hatte, und ließ sich auf die Knie nieder, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Er öffnete den Roringstek und zog das bockende Boot näher zu sich heran. Enno schmunzelte über sich selbst, weil er so unvernünftig war, sich bei diesem Wetter wieder aufs Wasser hinaus zu wagen.

    Da riss ihn ein heftiger Ruck von der Plattform herunter. Er fiel vier oder fünf Meter und landete kopfüber im Boot. Noch bevor er den Schmerz richtig wahrnehmen konnte, verlor er das Bewusstsein.

    Als er die Augen aufschlug, war er desorientiert. Er fand sich auf dem Rücken im Wartungsboot liegend wieder. Ein Bein hing über die Backbordseite nach draußen und fühlte sich nass an.

    Er erinnerte sich an das Unwetter und den Sturz. Der Sturm hatte sich gelegt. Das Tosen der Wellen war einem Plätschern gewichen, und das Boot schaukelte sanft. Die Sonne brannte ihm ins Gesicht. Soweit er das aus seiner Position überblicken konnte, war am Himmel keine Wolke mehr zu sehen.

    Zum Glück hatte er sich nichts gebrochen, dachte er, als er das Bein ins Trockene zog. Bei der Bewegung durchzuckte seinen Kopf ein stechender Schmerz – schlimmer als der von heute früh. Enno betastete die Stirn und spürte eine Schwellung. Als er die Hand zurückzog, klebte Blut an den Fingern.

    Als Nächstes fiel ihm auf, dass er sich nicht mehr in der Nähe des Windparks befinden konnte. Das stetige Rauschen, das die Rotorblätter erzeugten, war verschwunden. Enno wollte sich aufrichten, um festzustellen, wie weit die Strömung ihn abgetrieben hatte. Dabei wurde ihm schwarz vor Augen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, und blinzelte ein paarmal. Es gelang ihm aber nicht, den Oberkörper zu heben. Der Himmel und die Sonnenscheibe über ihm begannen zu flimmern, die Welt um ihn herum geriet ins Wanken. Für einen Moment meinte er, ein Haus vorbeischweben zu sehen. Es hatte eine weiß lackierte Holzfassade mit zwei in der Sonne aufblitzenden Fenstern und grünen Fensterläden. Davor stand eine silberne Regentonne.

    Ein fliegendes Haus? Er konnte das Rätsel nicht mehr klären, weil er erneut ohnmächtig wurde.

    Er erwachte in einem Zimmer, das nicht seins war, auf einem Sofa, das er nicht kannte. Vor ihm, auf einem Beistelltisch, stand ein Glas, das zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Daneben lag ein Streifen Tabletten. Als Enno den Arm hob, um sich an die pochende Stirn zu fassen, spürte er in Höhe des Ellenbogens einen Widerstand. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er unter einer Decke lag. Mit den Fingern ertastete er Mull und Pflaster. Offenbar hatte jemand die Kopfwunde versorgt.

    Er schloss die Augen und horchte in sich hinein. Ihm war schwindelig, doch es ging ihm besser als vorhin. Die Schmerzen waren noch da, hatten aber ihren Stachel verloren.

    Sein nächster Blick traf den Rucksack mit dem Werkzeug und den Ersatzteilen. Er stand auf der anderen Seite des Raumes, an ein Regal gelehnt, das vollgestopft war mit Büchern. Das Ölzeug hing auf einem Haken an der Seite eines Schrankes. Zwischen den Möbelstücken befand sich eine blau lackierte Tür. Linkerhand gab es einen Tisch und zwei Holzstühle. Die rechte Wand war von zwei Fensternischen unterbrochen. Dazwischen stand ein Klimagerät. Von der Decke baumelte eine Lampe. Sie pendelte in einem unregelmäßigen Rhythmus vor und zurück.

    Bevor Enno die Bewegung der Lampe mit seinem Schwindel in Beziehung setzen konnte, vernahm er zur Linken Geräusche: das Streichen von Stoff auf Stoff und ein leises Schmatzen.

    »Schön, dass Sie wieder wach sind«, erklang eine männliche Stimme. Als er sich umdrehen wollte, sagte sie: »Bewegen Sie sich lieber nicht. Sie haben viel Blut verloren, vielleicht eine Gehirnerschütterung, was weiß ich. Sie sollten liegen bleiben, bis Sie wieder bei Kräften sind.«

    Von der Kopfseite des Sofas her schob sich ein Gesicht in Ennos Blickfeld, mit Falten und Altersflecken übersät, von weißem Haupt- und Barthaar eingerahmt, darin zusammengekniffene Augen. Es verzog sich zu einem Lächeln, beinahe gequält, als bereitete die Änderung der Mimik dem alten Mann Schmerzen.

    »Wie lange sitzen Sie da schon?«, fragte Enno.

    Die großen Ohren des Alten bewegten sich ein wenig nach oben und wieder zurück, bevor er antwortete: »Keine Ahnung. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«

    »Waren Sie das? Der Verband?«, wollte Enno wissen.

    Der Mann nickte.

    »Danke. Wissen Sie, wo mein Boot ist?«

    Sein Gegenüber nickte weiter. »Liegt draußen im Garten.«

    Die Antwort brachte Enno auf seine wichtigste Frage: »Wo bin ich hier überhaupt gelandet?« Er musste davon ausgehen, dass er weit nach Osten abgetrieben und von dem Fremden an irgendeiner Küste aufgelesen worden war.

    Das Gesicht des Mannes verschwand. Dann kam er um den Tisch herum, schob das Glas zur Seite und ließ sich Enno gegenüber auf der Platte nieder. Er beugte sich seufzend vor und stützte seinen Oberkörper mit den Unterarmen auf den Knien ab.

    »Ich habe Sie in der Nähe der Windräder rausgefischt«, antwortete er. »Ich weiß ja nicht, wo Sie wohnen. Darum bin ich hier erst mal vor Anker gegangen.«

    Enno brauchte eine Weile, bevor er die Aussage verarbeitet hatte. Konnte es sein, dass sie noch auf See waren?, fragte er sich. Vor seinem geistigen Auge sah er das Bild eines fliegenden Hauses an sich vorüberziehen. Er erinnerte sich deutlich an eine Regentonne.

    »Ist das hier ein Schiff?«, erkundigte er sich.

    Die Augen des Alten blitzten amüsiert auf. Er schüttelte den Kopf. »Ein schwimmendes Haus. Eine Art Hausboot.«

    »Und Sie haben einen Garten«, wiederholte Enno, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.

    »Ein Gewächshaus, ein paar Blumentöpfe, so etwas. Ich nenne es gerne meinen ›Garten‹.«

    Die Vorstellung, dass es mitten in der Nordsee, wenige Meter entfernt, frisches Obst oder Gemüse geben sollte, faszinierte Enno. Vom Sofa aus konnte er leider nicht aus dem Fenster sehen.

    Er besann sich seiner Manieren. »Mein Name ist Osterkamp. Ich arbeite für die Golden Blades Corporation als Wartungstechniker.« Er streckte seinem Gastgeber die Hand so weit entgegen, wie es ihm auf dem Rücken liegend möglich war.

    Der Alte nahm sie und drückte sie fest. Er hatte offenbar nicht vor, sich seinerseits vorzustellen. Stattdessen stand er auf und bot Enno an, ihn nach Hause zu bringen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich in Ihr Boot und nehme mein Haus in Schlepp. Ich hab nämlich kaum noch Strom«, erklärte er.

    »Keine Einwände«, sagte Enno. Zwar irritierte ihn die Eile des Mannes, aber er akzeptierte sie. Er nannte ihm die Koordinaten des Hochhauses.

    Enno war erstaunt zu hören, dass sein Gastgeber keinen PUC besaß. Dadurch war er gezwungen, ihm Lage und Aussehen des Gebäudes zu beschreiben: »Acht Kilometer westlich vom Leuchtturm, da kucken ein paar Stockwerke aus dem Wasser. Oben drauf ein Flachdach, Antennen, eine Solaranlage und ein gelbes Sonnensegel.«

    »Ich hatte angenommen, Sie wären von der Plattform gekommen.«

    Die Erwähnung der Offshore-Plattform erinnerte Enno daran, wie er während einer Trainingsmaßnahme einmal mit einer Achtzig-Prozent-Kollegin ins Gespräch gekommen war. Diese hatte ihm ein anschauliches Bild vermittelt, was es bedeutete, auf einer Versorgungs- und Umspannungsplattform zu wohnen. GBC versorgte die Monteure und Techniker, die mit Fixkontrakt arbeiteten, mit hochwertigen Lebensmitteln, hin und wieder sogar mit echtem Fleisch. Das hatte für ihn verlockend geklungen. Auf der anderen Seite gab es dort ausschließlich Sammelunterkünfte. Diese waren eng, und der Mangel an Privatsphäre machte den Frauen und Männern vor Ort zu schaffen.

    »Ich hab einen Flexkontrakt, sechzig Prozent, keine Präsenzpflicht«, erklärte er sein Arbeitsverhältnis. »Das Leben auf so einer Plattform wär auch nichts für mich.«

    Was dann geschah, war seltsam. Eben hatte der alte Mann ihm noch aufmerksam zugehört, da wurden seine Augen glasig. Seine Schultern rutschten nach vorne, und er erstarrte.

    Enno wartete darauf, dass er aufsah und etwas sagte – dass er irgendetwas tat. Er sprach ihn laut an. Er winkte sogar, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Als all das zu keinem Ergebnis führte, wurde er unruhig. Nach weiteren zwei oder drei Minuten aktivierte er den PUC, um sich über Telemed mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst verbinden zu lassen. Doch das Gerät reagierte weder auf Sprach- noch auf manuelle Befehle. Kaputt?, wunderte Enno sich. Eigentlich hätte es nicht nur wasserdicht, sondern auch schlagfest sein sollen.

    Da hob der Alte den Kopf. Sein Blick war wieder klar. Er stand auf und machte sich, als sei nichts geschehen, auf den Weg zur Tür. Vermutlich wollte er das Wartungsboot wie geplant zu Wasser lassen.

    Enno atmete hörbar aus. »Sie haben mich ganz schön erschreckt«, rief er dem Mann hinterher.

    Dieser hielt inne und wandte sich zu seinem Gast um. Sein Gesicht war ernst. Mehr als ein kurzes Brummen, mit dem er Verständnis für Ennos Reaktion signalisierte, war ihm nicht zu entlocken.

    Durch den Sturz hatte Enno eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen. Laut Telearzt sollte er im Bett bleiben und Tabletten schlucken. Eine Drohne brachte ihm das Medikament.

    Es war vor allem Hose, der sich um ihn kümmerte, bis es ihm besser ging. »Schön, dich wieder öfter zu sehen«, sagte der schlaksige Mann. »Du hast dich echt lang genug von uns abgekapselt.« Mit »uns« meinte er sich und seine Freundin Kirstin, die sie kurz »Tine« nannten. Die beiden wohnten auf einem Schiffswrack neben der Kirche, knapp fünf Kilometer vom Hochhaus entfernt.

    Enno musste zugeben, dass er es ebenfalls schön fand, ein vertrautes Gesicht um sich zu haben. Wenn Hose in der Küche Wasser aufsetzte – »Eerstmaal en Köppke Tee« –, sich zu ihm ans Bett setzte und sie über Bekannte tratschten, war es wie früher.

    Und als Enno eines Abends auf seine Mutter zu sprechen kam und ihm die Stimme versagte, legte ihm Hose einen Arm um die Schultern, hielt ihn fest und sagte: »Ich weiß, wie sich das anfühlt. Dat kummt sachts all up Stee«. Enno glaubte nicht, dass jemals alles wieder in Ordnung kommen würde. Trotzdem empfand er Hoses Worte als tröstlich.

    Hose hieß eigentlich Holger Tammen. Er stammte aus einer alteingesessenen Norder Familie. Enno war seit der fünften Klasse mit ihm befreundet. Schon damals hatte es nichts gegeben, was sie sich nicht gegenseitig anvertrauten, und wenig, was sie nicht miteinander teilten.

    In Ennos Augen war Holger ein Riese. Weil er als Jugendlicher zu klein gewesen war, hatte er Hormonspritzen bekommen und war danach gewachsen, bis er eine Größe von zwei Metern und zehn erreicht hatte. Seine allzu hagere Statur kompensierte er mit einer rotblonden Mähne, die seitdem so etwas wie

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