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Eritrea - der zweite Blick
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eBook359 Seiten4 Stunden

Eritrea - der zweite Blick

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Über dieses E-Book

Eritrea steckt bis heute im Klammergriff des zur Diktatur verhärteten Afewerki-Regimes: Die ausgearbeitete demokratische Verfassung wurde nie in Kraft gesetzt, Medienfreiheit existiert nicht, der jahrelange Militärdienst wurde stets mit dem mal offen ausgetragenen, mal latent schwelenden Konflikt mit dem Nachbarn Äthiopien gerechtfertigt. Im Sommer 2019 schlossen Eritrea und Äthiopien nach zwanzig Jahren Kriegszustand ein Friedensabkommen, für das der äthiopische Regierungschef Abiy Ahmed gar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Kommt nun die Wende für Eritrea? Was hat sich in den vergangenen Jahren bereits für die Menschen im Land verbessert?
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum18. Juni 2020
ISBN9783858698773
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    Buchvorschau

    Eritrea - der zweite Blick - Hans-Ulrich Stauffer

    Glossar

    Einmal sehen ist besser als hundertmal hören

    Wie es zu diesem Buch kam

    »Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Immer wieder die gleiche Frage von Bekannten, politisch Interessierten oder Medienschaffenden. Eritreas Regierung und die von ihr verfolgte Politik stehen unter Beschuss. Zehntausende meist junge Eritreer und Eritreerinnen haben das Land verlassen und suchen in Europa und Nordamerika ein anderes Leben. Als Gründe nennen sie die Pflicht, einen oft jahrelangen, unbefristeten National Service leisten zu müssen, in ihrer Religionsausübung eingeschränkt zu sein sowie keine berufliche und wirtschaftliche Perspektive zu haben. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der UN-Menschenrechtsrat kritisieren politische Verfolgung und das Fehlen demokratischer Rechte. Weshalb wurde eine moderne, demokratische Verfassung ausgearbeitet, aber nie in Kraft gesetzt? Und warum wurde die Pressefreiheit aufgehoben? Warum sitzen ehemalige Führungskräfte nun im Gefängnis? Und das in einem Land, das einst als Hoffnungsträger galt. Ein Land, das in einem jahrzehntelangen Befreiungskampf Exemplarisches geleistet hatte.

    Einzelne westliche Regierungen kritisieren die mangelnde Kooperationsbereitschaft Eritreas in internationalen Belangen; Entwicklungshilfeorganisationen sind düpiert, weil Eritrea deren Arbeit stark reguliert. Die Medien zeichnen unterschiedliche Bilder des Landes. Die Fundamentalkritik an der Menschenrechtslage kontrastiert mit anerkennenden Berichten über Erreichtes: die Ernährungssicherheit, der Aufbau des Gesundheitswesens, die Bildungspolitik, das umsichtige Vorgehen beim Rohstoffabbau. Doch die Berichte vermögen kein umfassendes Bild zu zeichnen.

    Wer sich mit dem Land oder den nach Europa geflüchteten Eritreerinnen und Eritreern befasst, ist verunsichert und sucht nach Antworten auf die drängenden Fragen. »Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Ja, ich war mehrfach in Eritrea. Seit 1970 interessiere ich mich für die dortige Entwicklung, habe ich mich intensiv mit Land und Leuten befasst. Von 1972 an korrespondierte ich mit der eritreischen Befreiungsbewegung, später auch mit äthiopischen Oppositionsparteien und Befreiungsbewegungen. 1973, in der Zeit der Hungerrevolten und des Sturzes von Kaiser Haile Selassie, beteiligte ich mich an der Herausgabe einer ersten kleinen Publikation: Äthiopien – Eritrea: Der Kampf der Völker gegen Hunger, Feudalismus und Imperialismus. Das war die Zeit meiner universitären Ausbildung – und die Zeit der Post-68er-Drittwelt-Solidaritätsarbeit, in der ich mich während all der nachfolgenden Jahre weiter engagierte.

    1987 bereiste ich auf Einladung der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) während mehreren Wochen das Basisgebiet der Befreiungsfront in den Sahelbergen. In jenes Gebiet, in das sich die Guerilla während des Strategischen Rückzugs 1978 zurückgezogen hatte, gelangte ich vom Sudan über die »Never-kneel-down-Road«, eine der beiden von der Front angelegten Nachschublinien. Einmal in den Sahelbergen, konnten wir nur noch nachts reisen. Tagsüber beherrschte die äthiopische Luftwaffe den meist wolkenlosen eritreischen Himmel, nachts jedoch bewegten sich Hunderte von Lastwagen, Pickups, Panzern und Kamelen im Mondschein in der meist kargen Landschaft. Tagsüber standen Besuche und Gespräche auf dem Programm, so etwa in Orotta, dem Zentralspital im Basisgebiet, das in einem steinigen, engen Talboden lag und mit über einem Kilometer Ausdehnung das weltweit wohl längste Krankenhaus war. Getarnt unter mächtigen Akazienbäumen, eingegraben in den Boden und in die Bergflanken, war alles vorhanden: Krankenstationen, Gebärsäle, Operationsräume, in denen sogar Herzoperationen durchgeführt wurden, eine kleine Fabrik, in der ein paar Dutzend Basismedikamente hergestellt wurden. Hier sah ich die Kriegsversehrten, die Opfer von Napalmverbrennungen, die unter möglichst sterilen Bedingungen auf Genesung hofften. Ich besuchte die Radiostation, die Druckerei, Garagen, Schlossereien und Schreinereien, sah versteckte Tankstellen und Einkaufsläden, in denen die Bevölkerung das Nötigste kaufen konnte. Ich besuchte die unterirdische Fabrik, wo aus Plastikgranulat die »Fighter Sandals« gepresst wurden, und nahm gerührt ein Paar in Größe 41 als Geschenk an. Ich besuchte die Fabrik für Hygienebinden – ein Drittel der Mitglieder der Front waren Frauen. Ich besuchte Schulen, von der Primarschule bis zum Technischen College von Wina, und das Solomona-Waisenlager. Ich sah, wie unter schwierigsten Bedingungen eine Verwaltung aufgebaut worden war, die für die Mitglieder der Front wie auch für die Zivilbevölkerung eine Grundversorgung sicherstellte, und dies weitgehend ohne Hilfe ausländischer Staaten.

    Ein paar Tagreisen später an der Front von Nakfa, jenem Provinzhauptort, der von der äthiopischen Luftwaffe in Grund und Boden gebombt worden war: Nur das Minarett der Moschee stand noch, das zum Symbol des Widerstands geworden war. Zwischen all den zerstörten Häusern und Ställen: ein Feld mit Tomaten und Auberginen, angelegt von Verantwortlichen der Landwirtschaftsabteilung, bestimmt für die Selbstversorgung. Nachts dann im unterirdischen Guesthouse: An Schlaf war aufgrund des Beschusses durch die äthiopische Artillerie nicht zu denken. »Keine Sorge, das ist Routine, und sie wissen nicht, wo wir sind«, meinte unser eritreischer Begleiter. Am Tag in den vordersten Schützengräben, oben auf der Bergkrete. Zwei-, dreihundert Meter weiter unten im Tal die äthiopischen Stellungen. Vor dem Schützengraben die verwesten Leichen äthiopischer Soldaten, die zum Frontalangriff bergaufwärts befohlen worden waren. Bauernsöhne, deren Mütter, Väter, Frauen und Kinder wohl nie Genaueres über die Umstände ihres Todes erfahren würden.

    Über diese spektakuläre Reise berichtete ich in mehreren Tageszeitungen, Zeitschriften und an Veranstaltungen.

    Vier Jahre später, 1991, war Äthiopien, mit der größten Armee Subsahara-Afrikas, geschlagen. Der Befreiungskampf war nach dreißig Jahren zu Ende. Ein paar Wochen nach dem Einzug der Eritreischen Volksbefreiungsfront in Asmara besuchte ich das Land erneut. Es herrschte Hochstimmung, die Leute waren optimistisch. Die vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur – die Strom- und Wasserversorgung sowie das Transportwesen in Form der Überlandbusse – funktionierte ansatzweise. Die Melotti-Brauerei braute wieder Bier. Das Firmenschild der lokalen Niederlassung der Ethiopian Airways wurde mit Eritrean Airways überpinselt. Ich reiste in die Hafenstadt Massawa am Roten Meer, wo die Folgen der Luftangriffe unübersehbar waren, nach Keren, wo die Silberschmiede auf dem Markt ihre Arbeit wie eh und je verrichteten. Auf der Fahrt nach Dekemhare suchte ich einen idealen Standort für ein paar Panoramafotos … Panik beim Begleiter: Hier liegen Minen!

    Ausgerüstet mit einem Passierschein der EPLF, bestieg ich den Überlandbus und fuhr nach Zalambessa an der äthiopischen Grenze, überquerte diese zu Fuß und fand nach langem Warten am nächsten Tag eine Fahrgelegenheit nach Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, wo ich Gast der Relief Society of Tigray (REST) war. Ich durchreiste als einer der ersten Ausländer die jahrelang hermetisch abgeschottete äthiopische Nordprovinz, in der die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) – damals eine Verbündete der EPLF – aktiv gewesen war und die nun nach dem Zusammenbruch der äthiopischen Militärjunta die Macht ausübte. Der Passierschein öffnete mir alle Straßensperren bis in die äthiopische Hauptstadt, wo ich eine Woche später eintraf.

    Zwei Jahre später, im April 1993, wurde in ganz Eritrea das Referendum über die Unabhängigkeit des Landes abgehalten. Ich nahm als offizieller Beobachter daran teil und besuchte Wahllokale in Asmara, Nefasit und Massawa. Die Verkündung des Ergebnisses – 98,8 Prozent aller Stimmen für die Unabhängigkeit des Landes – erlebte ich in Asmara. Die ganze Stadt feierte die Nacht durch, die Independence Avenue wurde spontan zu einer riesigen Tanzfläche – Emotionen pur.

    1998 das Unbegreifliche: der Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea. Auslöser war der umstrittene Grenzverlauf in der Ebene von Badme im Südwesten Eritreas. Doch bereits zuvor hatte sich der Himmel zwischen den beiden Staaten verdunkelt: Revanchistische Forderungen nach einem direkten Meereszugang Äthiopiens durch Abtrennung der eritreischen Hafenstadt Asab hatten ebenso zur Eskalation beigetragen wie die Neuorganisation des bisherigen gemeinsamen Wirtschaftsraums und die Einführung einer eigenen eritreischen Währung. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand besuchte ich im Herbst 2000 erneut das Land. Die Reise führte von Asmara nach Nakfa – ein Wiedersehen nach dreizehn Jahren. Die Gegend war nicht wiederzuerkennen: Ein neues Verwaltungszentrum war entstanden, eine großzügige Anlage rund um einen Verkehrskreisel enormen Ausmaßes, an dem wohl jeder europäische Stadtplaner seine Freude hätte. Das unterirdische ehemalige Gästehaus wurde nun von einer eritreischen Bauernfamilie bewohnt, für uns stand ein neues Hotel zur Verfügung. Ein anschließender Abstecher – für den keinerlei Bewilligungen notwendig waren – führte in die vordersten Linien der Waffenstillstandszone am Mereb-Fluss. Beim gemeinsamen Injera-Essen die Frage, ob denn der Besucher aus Europa schon früher einmal in Eritrea gewesen sei? Zwei Worte genügten, und die Konversation kippte vom distanziert Interessierten ins Freundlichste: »1987. Nakfa.« »So you are a Fighter too!«, war die Reaktion.

    Anfang der 2010er-Jahre veränderte sich die Berichterstattung über Eritrea. Vom »Nordkorea Afrikas« war in den Medien die Rede, von politischer Repression, Verfolgung, Zwangsarbeit. Konnte ich mit meinem Erfahrungsschatz eine halbwegs vernünftige Erklärung zur Lage im Land geben? Eritrea war in der Defensive. Was war geschehen? Mehr als zwölf Jahre lang hatte ich die Entwicklung Eritreas und Äthiopiens nur aus der Ferne verfolgt: Zeitungsberichte, ein paar vertiefte Abhandlungen gelesen, Gespräche mit Eritreerinnen und Eritreern, die auf der Durchreise waren, geführt. Überlagert wurden diese bruchstückhaften Informationen jedoch von der Berichterstattung über die große Flüchtlingsbewegung, die Europa erreichte. Berichte über eine miserable Menschenrechtssituation, einen unbefristeten Einzug in den National Service, ein wirtschaftliches Desaster, eine diktatorische Führung – kurzum über ein Land am Rande des Abgrunds. Was sollte ich dazu sagen? Was war aus den hoffnungsvollen Ansätzen aus der Zeit des Befreiungskampfs geworden? Waren die immensen Anstrengungen, all die Opfer umsonst gewesen?

    Einmal sehen ist besser als hundertmal hören oder lesen, sagte ich mir. Im Januar/Februar 2014 kehrte ich zum ersten Mal nach vierzehn Jahren nach Eritrea zurück. Das Visum erhielt ich durch Vermittlung der Nationalen Konföderation der Eritreischen Arbeiter (NCEW), dem eritreischen Gewerkschaftsbund. Gespräche vereinbarte ich im Voraus keine, ich wollte einfach Eindrücke sammeln und soweit möglich im Land reisen. Rasch konnte ich die ersten Kontakte knüpfen. Meine früheren Erfahrungen – »1987. Nakfa.« »So you are a Fighter too!« – erwiesen sich auch dieses Mal als Türöffner. Im kleinen Kreis konnte ich Fragen nach dem Zusammenzug der Jugendlichen im 12. Schuljahr in Sawa stellen, der zentralen Schule in der Barka-Provinz für alle Schülerinnen und Schüler des ganzen Landes, in der nebst klassischen Schulfächern auch eine militärische Grundausbildung erfolgt. Zwei Stunden später diskutierte ich mit dem Erziehungsminister über das Bildungswesen. Ich reiste ans Rote Meer nach Massawa und Gurgusum – dazu benötigte ich eine Reisebewilligung, die über Nacht ausgestellt wurde. Die Fahrt im Minibus kostete 53 Nakfa, das ist der staatlich vorgeschriebene Preis. Der schlaue Chauffeur wusste jedoch, wie er sich ein Zusatzeinkommen verdienen konnte: Der Koffer musste auf das Dach, das kostete nochmals 50 Nakfa. Im Hotel wurde ich erst bei der Abreise nach der Reisebewilligung gefragt. Ich fragte, was wäre, wenn ich eine solche nicht hätte? Oh, das wäre kein Problem, lautete die Antwort. Daraus schloss ich, dass die Reisebewilligung – die im Übrigen nur für ausländische Besucher verlangt wird – eher ein bürokratischer Leerlauf als eine effiziente Überwachungsmaßnahme ist.

    Mehrfach wurde ich während dieses Besuchs gebeten, ja sogar aufgefordert, zu Hause zu erzählen, was ich in Eritrea gesehen hatte. Vielleicht könne ich dazu beitragen, an der verfahrenen Situation etwas zu ändern? So entstand die Idee, meine Erfahrungen und Eindrücke in Form eines Buches zusammenzutragen. Doch dazu reichten die vielfach spontan geführten und später transkribierten Gespräche sowie die tagebuchartig niedergeschriebenen Reiseeindrücke nicht aus. Ich beschloss deshalb, weitere Recherchen zu tätigen, und unternahm eine weitere Reise im Juli/August 2014. Mit mehr als zwei Dutzend Gesprächen mit Vertretern und Vertreterinnen von Regierung und Organisationen der Zivilgesellschaft, aber auch mit Gewerbetreibenden und Bauern, war die Agenda vollgepackt, dazu kam eine weitere Reise in den Süden. Vor und nach dieser zweiten Reise recherchierte ich in verschiedenen Archiven und im Netz und frischte mein Wissen auf. Dabei kam mir auch das über Jahre vom Afrika-Komitee in Basel aufgebaute Archiv sehr zugute.

    Im Oktober 2015 unternahm ich eine weitere Reise. Im Zentrum stand die Frage, was die jungen Menschen dazu bewegt, in Scharen das Land zu verlassen. Diese Reise führte mich in den Süden, an die Grenze zu Äthiopien, und erstmals ins westliche Tiefland, an die Grenze zum Sudan. Dies sind die Routen, die die jungen Eritreerinnen und Eritreer nehmen, wenn sie das Land verlassen. In Tessenei wie auch in Adi-Quala sprach ich mit Jugendlichen über ihre Beweggründe, das Land zu verlassen; in Asmara unterhielt ich mich mit Flüchtlingen, die freiwillig aus Israel zurückgekehrt waren.

    Die vorerst letzte Reise unternahm ich im Februar 2016. Während meines Aufenthaltes begleitete ich eine Gruppe schweizerischer Politikerinnen und Politiker. Wiederum kam es zu zahlreichen Gesprächen mit Ministern, lokalen Verantwortlichen, Vertreterinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Zufallsbekanntschaften. Dabei konnte ich viele neue Einsichten gewinnen. So stieß ich beispielsweise unterwegs auf Dorfversammlungen, in denen die Dorfbevölkerung kommunale Anliegen diskutierte und entschied – Demokratie auf unterer Stufe? Während dieses Aufenthalts vertiefte ich Einschätzungen früherer Reisen und verifizierte Namen und Schreibweisen.

    Insgesamt habe ich während all diesen Reisen gut hundert Gespräche geführt. Alltägliches aus dem Familienleben habe ich erfahren, allerlei aus dem Alltag, von der Schwierigkeit des Imports eines Autoersatzteils bis zu den Auswirkungen der Stromunterbrüche. Aber auch, dass Azemol als Generikum von Paracetamol im Land selbst hergestellt wird. Spontane Gespräche mit Passanten auf der Straße oder beim Einkauf eröffneten Einblicke in das tägliche Leben und die Alltagssorgen. Gespräche mit Angehörigen der Regierung waren meist leicht zu arrangieren, verliefen dann in der Regel aber etwas formeller. Nie hatte ich den Eindruck, dass sich Gesprächspartner vor dem Gespräch oder gar dem Kontakt mit mir fürchteten. Sicherlich, Fragen zu demokratischen Rechten, der demokratischen Legitimation der Regierung oder zur künftigen politischen Entwicklung wurden eher ausweichend beantwortet. Regierungsmitglieder umschifften heiklere Fragen nach dem partizipativen Einbezug der Bevölkerung in die politische Willensbildung oder nach dem Meinungspluralismus mit Hinweis auf die noch immer herrschende latente Kriegsgefahr. Intellektuelle übten durchaus Kritik an der gegenwärtigen Lage, baten aber, nicht zitiert zu werden. Manchmal blieben Fragen aber auch einfach unbeantwortet im Raum stehen.

    Ich habe recherchiert und versucht, mir ein Bild zu machen. Zu vielen Aspekten, so wage ich zu behaupten, ist mir dies gelungen; zu anderen verbleiben Fragen, Ungewissheiten. Die damalige UN-Koordinatorin in Eritrea, Christine Umutoni, äußerte bei einem Treffen Anfang 2016 eine interessante Einschätzung: Eritreerinnen und Eritreer hätten Schwierigkeiten, zu kommunizieren, was sie gut machten. Das deckte sich mit meinen Eindrücken, die ich während der verschiedenen Reisen gewonnen habe, und es mag mit ein Grund dafür sein, warum es so schwierig ist, ein differenziertes Bild in den Medien zu vermitteln. Die hiesige Berichterstattung zu Eritrea ist durch die Flüchtlingsbewegung geprägt, für die zuallererst die Pflicht zum Ableisten des National Service und fehlende demokratische Rechte verantwortlich gemacht werden. Ausgeblendet wird jedoch die unbequeme Situation, in der sich Eritrea befindet, da Äthiopien das Schiedsgerichtsurteil des Haager Gerichtshofs über den Grenzverlauf nicht akzeptiert und damit weiterhin eine latente Kriegsgefahr besteht. Ebenso wird ausgeblendet, dass Eritrea am Horn von Afrika eine stabile Größe darstellt. Zwei gleich große religiöse Glaubensgemeinschaften – Muslime und Christen – leben friedlich miteinander. Dieses Faktum darf nicht gering geschätzt werden und sollte auf keinen Fall durch destabilisierende internationale Aktionen gefährdet werden.

    Eritrea lag nach einer kurzen Aufbruchstimmung nach dem Ende des Unabhängigkeitskampfs wirtschaftlich in den letzten fünfzehn Jahren in einem Dornröschenschlaf. Doch heute betritt es als Rohstofflieferant die Weltbühne: Der Abbau von reichen Vorkommen an Kupfer, Zink, Gold und Kali läuft an. Als Investitionsland ist das Land bis jetzt uninteressant. Zu klein der Markt, zu limitierend die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Rechtfertigt das das Abseitsstehen und die Isolationspolitik westlicher Staaten? China und Russland warten nur darauf, weiter Fuß fassen zu können. Im gegenwärtigen geopolitischen Prozess der Gewichtsverlagerung von Europa nach Asien müsste sich eigentlich der Westen darum bemühen, Eritrea enger in seine Interessenssphäre einzubinden.

    Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung von Erfahrungen, Eindrücken, erlebten und recherchierten Entwicklungen. Bei der Darstellung historischer Abläufe oder gegenwärtiger Entwicklungen habe ich mich auf Quellen gestützt, die ich als vertrauenswürdig erachte. Spekulative oder nicht belegbare Aussagen habe ich vermieden. Ich habe versucht, ein Bild zu zeichnen, das auf eigenen Wahrnehmungen beruht. Politische Stellungnahmen bette ich ein in den Kontext der geschichtlichen Entwicklung des Befreiungskampfs und der Erkenntnisse, die ich daraus gewonnenen habe. Ortsnamen habe ich soweit wie möglich anhand der International Travel Map überprüft, Personennamen wurden rückbestätigt. Zahlenangaben, beispielsweise bezüglich Produktion, Einnahmen etc. haben ich mehrfach zu verifizieren versucht. Es ist durchaus möglich, dass andere Quellen andere Zahlen nennen. Mit diesen Diskrepanzen muss leben, wer sich zu Eritrea ein genaueres Bild machen will.

    Dieses Buch wäre ohne die Mithilfe zahlreicher Personen nicht entstanden. Ein Dank geht an alle meine Gesprächspartner. Wie oft öffneten sich Türen dank einer kurzen Empfehlung, wie oft kam es durch einen Verweis auf meine früheren Beziehungen zu Eritrea zu langen, offenen Gesprächen. Auch ohne große Vorankündigung hatte ich stets das Gefühl, in den verschiedenen Ministerien, Ämtern, Büros oder Werkstätten willkommen zu sein. Meine Gesprächspartner nahmen sich Zeit und gingen auf meine Fragen und Anliegen ein. Sie wünschten sich nicht mehr oder weniger als: Schreib, was du gesehen hast!

    Basel, im Januar

    Endlich Frieden!

    Vorwort zur 2. Auflage

    Juni 2018: Der neugewählte äthiopische Präsident Ahmed Abiy kündigt überraschend an, dass Äthiopien das Urteil des Internationalen Gerichtshofs zum Grenzstreit mit Eritrea anerkenne. Die 18-jährige bleierne Periode von »no war, no peace« endet, nicht nur zwischen Eritrea und Äthiopien. Eine unvorstellbare Dynamik setzt ein, die die ganze Region erfasst: In Somalia, Dschibuti, Sudan, Südsudan, ja selbst ins international isolierte Somaliland kommt Bewegung. Das UN-Embargo über Eritrea wird aufgehoben. In wenigen Monaten ist die Geschichte am Horn von Afrika neu geschrieben worden.

    In dieser vollkommen neuen Situation reiste ich im März 2019 erneut nach Eritrea. Ich wollte wissen, ob und was sich für das Land und die Bevölkerung verändert hat. Gibt es neue, hoffnungsvolle Entwicklungen? Wie wirkt sich der Friede auf die Bevölkerung aus? Zeigen sich bereits erste wirtschaftliche Ergebnisse? Wiederum standen zahlreiche Gespräche auf der Agenda. Und ich wurde nicht enttäuscht: Die Menschen blickten hoffnungsvoller in die Zukunft. Viele sprachen davon, dass eine zentnerschwere Last von ihnen gefallen sei, dass sie jetzt mit Familienmitgliedern jenseits der Grenze, in Äthiopien, nach schmerzvollen Jahren der Trennung wieder zusammentreffen können.

    Bereits bei einem vorherigen Besuch, im Februar 2018, konnte ich einen lang gehegten Reisewunsch realisieren: Ich konnte den Entwicklungstreiber Eritreas schlechthin, die Bisha-Mine, besuchen. Neben dieser Reise in den Südwesten des Landes konnte ich wiederum zahlreiche Gespräche führen. So kehrte ich von beiden Reisen mit zahlreichen neuen Eindrücken und Erkenntnissen zurück.

    Diese wie auch zahlreiche weitere Informationen sind in diese Neuauflage eingeflossen. Beobachtungen und Analysen von damals, die von der Zeit eingeholt worden sind, wurden für diese Aktualisierung entweder weggelassen, oder es wurde eine zeitliche Einbettung vorgenommen, sodass sie aus der damaligen Situation heraus verständlich werden.

    Die erste Auflage des im Frühjahr 2017 erschienenen Buchs ist auf ein erfreuliches Echo gestoßen. Vom Berner Oberland bis nach Hamburg und Berlin wurde ich zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen. Das Thema der Massenemigration einerseits, andererseits die Hintergründe des nicht alltäglichen Entwicklungswegs, den Eritrea eingeschlagen hat, interessieren viele Menschen. So bleibt zu hoffen, dass auch diese erweiterte und aktualisierte Auflage Leserinnen und Lesern, die sich mit der Entwicklung Eritreas befassen, neue Erkenntnisse bringt.

    Basel, im Februar 2020

    Eritrea 2015

    Erste Eindrücke

    Das Leben erwacht auf dem kleinen Asmara International Airport meist mitten in der Nacht. Dann kommen die Flüge von Kairo, Doha oder Istanbul an; eine Stunde später heben die Maschinen wieder ab und fliegen zurück. Die Passkontrolle verläuft so wie in anderen Ländern, für die ein Einreisevisum nötig ist: Schlange stehen, warten, während die Daten im Computer erfasst werden. In Eritrea kann niemand verlorengehen. Die wichtigste Klippe, die es im kurzen Wortwechsel zu umschiffen gilt: In welchem Hotel werden Sie sich aufhalten? Der Empfang ist weder herzlich noch unfreundlich. Nach einer Viertelstunde ist alles erledigt – ein erster Kontakt mit Verpflichteten, die hier ihren National Service leisten. Eine Zollkontrolle findet für ausländische Besucher nicht statt, wie viele Devisen eingeführt werden, will niemand wissen.

    In Asmara, der sauber herausgeputzen Hauptstadt, beginnt der Tag mit dem Gebetsruf des Muezzins am frühen Morgen. Schon bald herrscht Betriebsamkeit auf dem großen Markt an der Gondarstraße, der bisweilen immer noch mit dem alten Namen Mercato Torino genannt wird. Hier werden Nahrungsmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs verkauft, von der Seife über die Zahnbürste bis zur Glühbirne. Frisches Obst liegt sorgfältig dargeboten zum Kauf auf: Papaya, Mango, Orangen, Bananen, Limonen. Gemüse ist reichhaltig vorhanden: Kohl, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, Rüben, Kürbis, grüne Peperoni, Lattich, Salat, Zucchetti, Krautstiel. Getrocknete Datteln, Mais, Weizen, Sorghum, Durrah, Linsen. Gewürze in allen Formen, vor allem die gemahlenen Paprikaschoten zur Zubereitung von Berbere, werden im Büchsenmaß verkauft – eine Messerspitze allein ist schon scharf genug. Zahlreiche Käuferinnen prüfen die Ware, diskutieren mit den Verkäuferinnen und Verkäufern, machen einen Witz und lachen, man scheint sich zu kennen.

    Zwischen den Handelskontoren mit ihrem museumsreifen Mobiliar liegt ab und zu eine kleine Bar, eine Teestube oder ein Bäcker. Der Tee wird mit einem kleinen Zitronenschnitz serviert. Der Kaffee braucht keinen Vergleich zu scheuen: Espresso, Macchiato, alles schmeckt. Obwohl Kaffee in Eritrea am regenreichen Abhang des Hochplateaus zum Roten Meer angebaut wird, stammen die meisten Bohnen aus Äthiopien. Das Glas Tee kostet 7 Nakfa, der Kaffee 15 Nakfa. Vom nahen Bäcker stammen die Minipizzen, die gerne zu Kaffee und Tee verzehrt werden, 10 Nakfa das Stück. Beim Bäcker liegen unterschiedliche Brote auf, doch am begehrtesten sind die großen Wecken. Neuerdings wird auch ein Sorghum-Brot angeboten. Damit soll die Abhängigkeit vom importierten Weizen verringert werden.

    7 Nakfa für einen Tee, 10 Nakfa für einen Kaffee, 25 Nakfa für eine 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser, abgefüllt in Eritrea. Eine Flasche des guten eritreischen Rotweins »Shaleku« kostet 240 Nakfa, ein Kilo gerösteter äthiopischer Kaffee 250 Nakfa. Dies bei einem Monatslohn von 1500 bis 2000 Nakfa für städtische Angestellte. Das Leben im städtischen Eritrea ist nicht billig. Ein Hauptgang in einem der meist freundlichen Restaurants kostet rasch einmal 200 Nakfa oder mehr. Und doch: Die meisten Restaurants sind voll besetzt. Wie ist das möglich, wenn doch der Lohn nicht mehr als ein Trinkgeld ist? Die Erklärung: Wer Zugang zu Devisen hat, kann sich das alles leisten. Verwandte auf Besuch oder Überweisungen aus dem Ausland öffnen die Türen und den Zugang zu ansonsten unerreichbaren Gütern.

    Um den Markt sind die Handelskontore der Getreidehändler angelegt. Mit Pickups, Transportfahrrädern und Schubkarren werden 50 Kilogramm schwere Getreidesäcke angeliefert oder abgeholt. Ein Blick in die Lager zeigt prallvolle Säcke, bis unter das Dach gestapelt. Die Versorgungslage scheint gut zu sein, auch wenn in den letzten beiden Jahren die Regenfälle unregelmäßig waren. Doch auf dem Markt haben die Getreidepreise in den letzten Jahren spürbar angezogen. Darunter leiden alle, die keine Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland erhalten. Die Löhne sind seit Jahren eingefroren, die Nahrungsmittelpreise haben sich vervielfacht. Das erfüllt viele mit Sorgen. Die Ernteaussichten sind 2015/16, als ich das Land nach jahrelangem Unterbruch erstmals wieder besuche,

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