Polflug: Bericht von Andrée und dem »Adler«
Von Walter Bauer
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Über dieses E-Book
Walter Bauer
Walter Bauer (1904-1976) absolvierte von 1919 bis 1925 eine Lehrerausbildung in Merseburg. Von 1926 bis 1928 übte er Gelegenheitsarbeiten aus und studierte einige Semester Germanistik an der Universität Halle. Ab Ende der 1920er Jahre erschienen Bauers erste literarische Arbeiten. Er erfuhr besondere Förderung durch den Verlagslektor Max Tau, der ihn 1965 in einem Interview als eine seiner wichtigsten Entdeckungen bezeichnete. Angesichts seiner tiefen Enttäuschung über die gesellschaftliche Entwicklung der jungen Bundesrepublik wanderte Bauer 1952 nach Kanada aus. 1954 begann er ein Studium der Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Toronto, das er nach Absolvierung eines Aufbaustudiums 1959 mit dem Magistergrad abschloß. In Kanada schrieb Bauer weiter in deutscher Sprache; seine Werke erschienen in westdeutschen Verlagen. Von 1959 bis 1976 war er Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Toronto, ab 1967 als Associate Professor. Walter Bauers umfangreiches Werk umfaßt Romane, Erzählungen, Biographien, Kinderbücher, Essays, Lyrik und Hörspiele. Er war korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und 1956 der erste Preisträger des Albert-Schweitzer-Buchpreises. Seit 1994 wird zu seinem Andenken der Literaturpreis Walter-Bauer-Preis verliehen.
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Buchvorschau
Polflug - Walter Bauer
Inhalt
Adlerflug
Nachrichten und langes Schweigen
Die Insel
Niemandsland
Die Erde von Vitö
Zeittafel
Adlerflug
Am 18. Mai 1897 gegen Abend bei klarem Licht verließen die Schiffe den Hafen von Göteborg. Andrée, Strindberg und Fraenkel fuhren auf dem schwedischen Kanonenboot »Svensksund«, das auch Ballonhülle, Gondel, Ballonnetz und Schleppseile trug. Alles übrige befand sich auf dem langsameren Frachter »Virgo«. In den Gedanken von Tausenden, die ihnen Leb wohl zuwinkten und die Fahrt der Schiffe den Fluß hinab zum offenen Meer sahen, hatte Andrée den Pol schon erreicht. Zwischen Aufbruch und Wiederkehr lag für sie nur ein Atemzug.
Ende Mai trafen beide Schiffe bei dichtem Schneetreiben im norwegischen Tromsö ein, dem gleichen Ort, von dem vier Jahre früher, 1893, Nansen mit der »Fram« in die eisige Freiheit der Arktis aufgebrochen war. Nansen hatte gesiegt. Andrée wollte siegen.
Als sich die Schiffe durch schwere See nach Spitzbergen kämpften, trug Andrée noch immer die Last unbelohnten Vertrauens und noch nicht aufgelösten Mißtrauens zu seinem Plan. Diese Last war um ein Jahr älter und schwerer geworden. Im vorigen Sommer hatte er den Versuch seines Polfluges aufgeben müssen.
Jetzt war er wieder aufgebrochen, endgültig. Er wußte, daß man zweimal nicht aufgeben kann. Zu gut erinnerte er sich der Angriffe und Schmähungen nach der sieglosen Rückkehr. Nun lag das alles weit hinter ihm. Keine Reden, keine Dankesbezeugungen, keine Erklärungen mehr. Jede der langen, sausenden Wogen schien ihm vertraut. Jede Eisscholle, die lautlos an den Schiffen vorübertrieb, brachte ihn dem Wagnis näher. Der scharfe Wind voll reiner Kälte wehte zu ihm: Ich komme vom Pol. Die Schreie der Sturmvögel zuckten durch den grauen Himmel. Was sagten sie ihm?
Auch er wollte siegen. Aber: War er davon noch wirklich, ohne einen Hauch von Zweifel, überzeugt? Auch er, wie Nansen, hatte einen Traum. Aber: War sein Traum nur dünnes Gespinst, das der Tag zerriß, oder enthielt er Wirklichkeit, womöglich Triumph? Und: Besaß er noch die volle Freiheit des Handelns wie vor einem Jahr? Damals hätte er noch zurückgekonnt. Das war jetzt unmöglich. Wer sich der Welt mit einem Abenteuer von solchem Ausmaß vorstellt, wird von ihr gezwungen, es durchzuführen, oder er versinkt als Narr. Andrée war schon zu sichtbar, als daß er noch hätte aufgeben können. Zu viel Hilfe, zu viel Vertrauen schon hatte er empfangen, um plötzlich erklären zu dürfen, er habe eine grundlose Narrheit verfolgt.
Es war keine Narrheit. Mit seinem Plan eines Ballonfluges von Spitzbergen über das arktische Eis stand er in der großen Nachfolge aller Unternehmungen, die den Sieg über den Pol erreichen wollten und das menschliche Wissen immer weiter nach Norden geschoben hatten. Mit Pytheas von Massilia hatte die Reihe angefangen. Am vorläufigen Ende stand, vom Ruhm umflammt, Nansen. Wie immer Andrées Wagnis ausgehen sollte – sein Name würde neben den Namen von Cabot, Hudson, Barents, John Ross, Franklin, de Long stehen – den Namen aller, die als Sieger oder Besiegte versucht hatten, Buchstaben um Buchstaben des Wortes »Unerforscht« im Norden der Welt auszulöschen. Mit seinem Wagnis begann, er ahnte es, eine neue Epoche der Polarforschung. Schiffe und Schlitten würden bald überflüssig sein. Die Arktis wurde fortan ohne Opfer aus der Luft überwunden. Er war der erste. In seinen besten Augenblicken fühlte Andrée, der als Ingenieur nur der Berechnung vertraute und mit zweiundvierzig Jahren Träumen nicht mehr anhing, sich emporgerissen. Er war ein Vorläufer. Er wollte den anderen voraus vom Traum in die Wirklichkeit springen. Hier und da waren in anderen Ländern Leute am Werk, Einzelgänger wie er. Er wußte davon. Lilienthal schwang sich von der Höhe eines Hügels empor und begriff als erster das Geheimnis der Luftströmungen. Ein Realschuldirektor in Kiel hatte den Plan eines Ballonfluges zum Pol ausgedacht. Hermitte und Besançon wollten mit einem Ballon den Pol in fünf Tagen erreichen. Die französische Recherche-Expedition von 1838 hatte zum erstenmal einen Fesselballon zu Beobachtungen aus der Luft verwandt. In Amerika versuchte sich Maxim Hiram an einem Flugzeugmodell. Die Zeit war reif. Nicht mehr lange konnte es dauern, und der Mensch schwebte im Raum. Andrée hatte die Stunde begriffen. Er hatte es auf sich genommen, als Narr angesehen zu werden. Die Majorität ist für den ersten Morgenhauch einer neuen Epoche immer blind. Er wollte siegen. Er konnte es.
Wenn er Strindberg und Fraenkel sah, die ihn auf dem Polflug begleiten wollten und für die er sich verantwortlich fühlte, wollte