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Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf»
Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf»
Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf»
eBook446 Seiten6 Stunden

Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf»

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Über dieses E-Book

Die zahlreichen phantastischen Figuren, Gestalten und Symbole, die der Dichter E.T.A. Hoffmann zu seiner berühmten Geschichte verwoben hat, werden durch Aniela Jaffé in überzeugender Deutung erschlossen.
Der uralte Konflikt zwischen Phantasiewelt und Wirklichkeit ist das zentrale Thema ihrer psychologischer Deutung.
In E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der Goldne Topf» wird eine Lösung angedeutet, die der heutigen Zeit nahe steht.
Es zeigt sich, dass die deutschen Romantiker des 19. Jahrhunderts als Vorläufer der heutigen Tiefenpsychologen angesehen werden können: Sie waren bestrebt, die irrationalen Bilder der Phantasie und des Traums in ihr Weltbild einzuordnen und sie auch zu entschlüsseln.

SpracheDeutsch
HerausgeberDaimon
Erscheinungsdatum1. Juni 2020
ISBN9783856309633
Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf»
Autor

Aniela Jaffe

Biografie: Aniela Jaffé (1903–1991) war Analytikerin in Zürich und langjährige Mitarbeiterin C.G. Jungs. Als Herausgeberin von "Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung" ist sie einem großen Leserpublikum bekannt geworden. Sie hat mit ihren zahlreichen Publikationen maßgeblich dazu beigetragen, dass seine Psychologie einem breiteren Kreis näher gebracht wurde. Ihr Interesse galt nicht nur der Analytischen Psychologie, wie viele ihrer Bücher bezeugen, sondern auch der Literatur und Parapsychologie. Biography: One of the most distinguished interpreters of C.G. Jung’s ideas today, Aniela Jaffé was born in Berlin and studied psychology at the University of Hamburg. With the outbreak of World War II, she emigrated to Zürich, where she later trained with the psychiatrist/analyst C.G. Jung. Frau Jaffé’s reputation as a lucid and authoritative writer has been substantiated through her collaboration with Jung on the biographical work, "Memories, Dreams, Reflections", her editing of his collected "Letters", and numerous independent works, including The Myth of Meaning. She practiced as an analyst in Zürich until her death in 1991.

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    Buchvorschau

    Bilder und Symbole aus E.T.A. Hoffmanns Märchen «Der goldne Topf» - Aniela Jaffe

    Vorwort

    Das Märchen »Der Goldne Topf« von E.T.A. Hoffmann (1776-1829) ist keine anonyme, zeitlose Erzählung wie die meisten bekannten Volksmärchen. Vielmehr handelt es sich um ein dichterisches Kunstwerk, um gestaltete Phantasien, in denen die seelische Problematik des Dichters ebenso zum Ausdruck kommt wie diejenige seiner Epoche, der deutschen Romantik.

    Der romantische Mensch war fasziniert von der Fülle seiner inneren Gesichte; seine Sehnsucht galt einer traumhaften Jenseitswelt. Er schuf Meisterwerke der Dichtung, der Philosophie und Musik. Doch die äußere Realität und ihre Forderungen galten ihm wenig. So konnte es nicht ausbleiben, daß diese Einseitigkeit im Sinne einer Kompensation sehr konkrete und oft unheilvolle Folgen hatte, die sich noch in politischen Ereignissen unserer Zeit nachweisen lassen.

    Hoffmann selbst konnte den Sinn seiner großartigen Bilderwelt nur ahnen. Erst C.G. Jungs Erforschung der Symbolik archetypischer Bilder eröffnete den Zugang zu ihrem menschlich-psychologischen Verständnis.

    Dem Versuch einer Sinnfindung durch Deutung des Märchens mit Hilfe dieses »Schlüssels« ist das vorliegende Buch gewidmet.

    Mein Dank gilt dem Daimon-Verlag, der es unternahm, eine dritte Auflage des Buches herauszubringen.

    Aniela Jaffé

    Sommer 1986

    I. Einleitung

    »Es gibt selten einen Menschen, der den göttlichen Funken des großen Könnens nicht teuer bezahlen muß.«

    C.G. Jung

    Jedes Kunstwerk hat einen persönlichen und einen kollektiven Ursprung: es ist Ausdruck eines Menschen und Ausdruck einer Zeit. Aus diesem Grunde, d.h. um den Bildern und Symbolen aus E.T.A. Hoffmanns Märchen »Der Goldne Topf« auch einen realen Hintergrund zu geben, wurden der Arbeit einige kurze Bemerkungen über das Leben des Dichters, sowie über die Zeit der Romantik vorangestellt. Doch sollen diese zeitgeschichtlichen und biographischen Vorbemerkungen nur als eine allgemeine Orientierung gelten. Sie können die Frage nach dem Menschen Hoffmann und nach seiner Zeit nur in Umrissen und fragmentarisch beantworten¹. Erst im Verlaufe der Arbeit wird das Wesen des Dichters deutlicher hervortreten, denn es spricht aus jeder Zeile seines Werkes, und auch das psychologische Problem der romantischen Epoche wird immer wieder auftauchen, bis es sich – gegen Ende der Märchenbesprechung – in seinem ganzen Umfang zeigt und dann auch ausführlich dargelegt werden soll².

    Um das Verständnis des Märchens zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen, wurden als Erweiterungen oder Erklärungen Parallelstellen aus Hoffmanns eigenen Schriften, sowie aus der romantischen Literatur herangezogen; und wenn auch auf Vollständigkeit der Zitate von vorneherein verzichtet werden mußte, so erscheinen in ihnen doch deutlich genug die Psychologie des Dichters und der Geist seiner Zeit. – Es sei aber betont, daß die Auswahl der Stellen nicht nach literarischen oder ästhetischen Gesichtspunkten erfolgte, sondern ausschließlich nach dem Gesichtspunkt ihrer psychologischen Inhalte. Denn das Ziel der vorliegenden Arbeit ist kein literarhistorisches, sondern ein psychologisches³. Ihre Fragestellung gilt dem archetypischen Hintergrund der Hoffmannschen Bilderwelt, und es wurde der Versuch unternommen, diesen mit Hilfe der Psychologie C.G. Jungs aufzuzeigen und zu erklären.

    Die Tatsache, daß ein Märchenstoff der künstlerischen Formung für würdig erachtet wurde, ist echt romantisch. Denn die Romantik machte dem Vernunfts- und Bewußtseinskult des 18. Jahrhunderts ein Ende. Märchen und Traum kamen wieder zu ihrem Recht. Die Inhalte des Unbewußten, das mit seinen lange verleugneten Kräften und Bildern wieder empordrang, fanden ihren Ausdruck in den geistigen Strömungen der Zeit und führten bei einzelnen Menschen zu dem Versuch einer Wandlung der seelischen Einstellung. Die Wendung zu diesem neuen, unbekannten Schicksal war im europäischen Raum von einem historischen Geschehen begleitet, das die Massen ergriff, alte Grenzen und Traditionen sprengte und in einer blutigen Erobererwelle bis nach Moskau vordrang. Die Romantiker wurden als Einzelne von dem gleichen Strom ergriffen und vor die Frage nach dem Sinn und der menschlichen Lösung jenes Geschehens gestellt, damit dieses nicht wieder in sich selber verlaufe oder von vorne beginne⁴.

    Den romantischen Dichtern und Denkern eröffnete sich das Unbewußte als eine innere Schau. Angesichts der Fülle von Bildern und Inhalten gerieten sie wie in einen Rausch; aber sie ahnten nicht, daß ihnen mit dem inneren Reichtum zugleich die Aufgabe gestellt war, die das Unbewußte jedem stellt, dem es sich offenbart: nicht nur das Licht aus dem Dunkel zu holen, sondern sich das Erkannte zum eigenen, zum menschlichen Problem zu machen; das Bewußtgemachte nicht nur zu beschreiben oder zu besingen, sondern es auf der Erde, im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Die Romantiker haben dem Unbewußten mehr als ein Geheimnis abgelauscht; aber diese eigentlich menschliche Aufgabe haben sie nicht gelöst. Sie konnten sie wohl auch nicht lösen, denn die Berührung mit dem Unbewußten traf sie gänzlich unvorbereitet und darum ungeschützt. Im religiösen Sinne waren sie Entwurzelte und hatten jede Tradition verloren, die als Wegweiser in dem dunklen Reiche hätte gelten können, oder die ihnen Halt und Erklärung gegeben hätte für ihre inneren Gesichte. So gerieten sie in eine Faszination und Abhängigkeit von ihrem eigenen Hintergrund. Solange sie jung waren, genossen sie diesen Zustand als einen Gefühlsüberschwang sondergleichen. Sie wollten oder konnten das Grenzenlose, das immer zugleich mit dem Erleben des Unbewußten gegeben ist, nicht opfern; sie verwechselten Maßlosigkeit und Freiheit und sahen die Gefahr nicht, in der sie schwebten: die Gefahr, ihr Bewußtsein an die inneren Mächte zu verlieren. Die Ursache der von ihnen vielleicht dunkel gespürten Abhängigkeit projizierten sie in die Welt und kämpften dort um ihre Ungebundenheit von Beruf, Pflichten, Ehe und Haus. Aus diesem Grunde machten sie sich die Welt der äußeren Wirklichkeit zu ihrem ärgsten Feind, und es tat sich eine immer breitere Kluft auf zwischen der sie lockenden Welt des Traumes, des Märchens, der Zeitlosigkeit und der ebenso gültigen anderen Wirklichkeit der Erde, des Raumes und der Zeit. Weil sie wie Kinder die Gaben des Unbewußten nahmen, ohne in den oft rätselhaften Bildern auch ein persönliches Problem zu erkennen, mußten sie sich selber verloren gehen. Sie hatten das Wunderland Atlantis geschaut, aber die entscheidende Frage nicht gestellt. An der Klippe der Lebenswende jedoch, wo es für den Einzelnen kein Ausweichen mehr gibt vor der Aufgabe der Selbstverwirklichung, begannen die Tragödien der romantischen Lebensläufe⁵: Kleist beging Selbstmord, Hölderlin verfiel in Geisteskrankheit, so wie später auch Lenau und Büchner. Brentano, Zacharias Werner, Wackenroder und viele andere suchten Zuflucht aus einem zerrinnenden und bedrohten Leben im Schoße und in der Sicherheit der katholischen Kirche. Wilhelm Schlegel rühmte sich in hohem Alter eitel und läppisch seiner Jugendlichkeit, und Novalis, der beliebteste unter den Romantikern, starb in jugendlichem Alter, lange vor der Reife seiner Persönlichkeit.

    Unerbittlich zerbrach das Leben dieser Menschen, so als sei ihre Unbewußtheit in geheimer Weise eine Schuld gewesen. Sie lebten in einer gefährlichen Einseitigkeit; und je weiter sie sich ins Unbedingte verlieren wollten, desto tiefer wurden sie unbewußt in die Dinge verstrickt und litten an der unvollkommenen Lebenswirklichkeit. Denn wo blieb die von ihnen abgespaltene Seite? ihr Körper? ihre Wirklichkeit? – Sie erschraken vor ihrem eigenen Spiegelbild! Sie waren sich selber fremd; wie Heimatlose gingen sie über die Erde; sie suchten das Unerreichbare, und einmal begegneten sie alle auf ihren Wanderungen – sich selber, jener unheimlichen und warnenden Gestalt des Doppelgängers, dem Anderen, der sie zur Ganzheit führen wollte. Fast alle romantischen Dichter haben in ihrem Werk den Doppelgänger ein oder mehrmals dargestellt, und diese Gestalt erscheint als ein Zeichen für die Spaltung ihres Wesens.


    1 Es sei auf die reichhaltige Literatur über E.T.A. Hoffmann verwiesen; ich benutzte vor allem die ausgezeichnete Biographie von Walter Harich: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers. Zwei Bände. 3. Aufl. Berlin, 1920. – Vgl. auch Georg Ellinger: E.T.A. Hoffmann. Sein Leben und seine Werke, Hamburg und Leipzig, 1894. – Besondere Anregung verdanke ich den Büchern: Gustav Egli, E.T.A. Hoffmann. Ewigkeit und Endlichkeit in seinem Werk, Zürich, Leipzig, Berlin, 1927. – K. Ochsner , E.T.A. Hoffmann als Dichter des Unbewußten. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik, Frauenfeld-Leipzig, 1936. – E. von Schenk, E.T.A. Hoffmann. Ein Kampf um das Bild des Menschen. Berlin, 1939.

    2 Vgl. diese Arbeit, das Kapitel »Die deutsche Romantik«.

    3 Vgl. C.G. Jung: »Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk« Ges. Werke VIII, p. 75: »Nur der Teil der Kunst, welcher im Prozeß der künstlerischen Gestaltung besteht, kann Gegenstand der Psychologie sein, nicht aber jener, der das eigentliche Wesen der Kunst ausmacht. Dieser zweite Teil kann, als die Frage, was Kunst in sich selbst sei, nie Gegenstand einer psychologischen, sondern nur einer ästhetisch-künstlerischen Betrachtungsweise sein.« – Vgl. »Psychologie und Dichtung«, Ges. Werke XV, p. 100 »…das Schöpferische aber … wird sich menschlicher Erkenntnis auf ewig verschließen. Es wird sich immer nur in seinem Erscheinen beschreiben, und es wird sich ahnen, aber nicht greifen lassen. Kunstwissenschaft und Psychologie werden aufeinander angewiesen sein, und das Prinzip der einen wird das der anderen nicht aufheben.«

    4 Etwa in dem Sinne, wie Heinrich Heine es einmal ausspricht: »… jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.« (Die romantische Schule. Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Leipzig, G. Fock, o. D. Bd. VII, p. 123.)

    5 Vgl. dazu den zweiten Band von Ricarda Huchs Werk über die Romantik: Ausbreitung und Verfall der Romantik (8. und 9. Aufl. Leipzig, 1920), insbesondere die Kapitel: »Romantische Lebensläufe«, sowie »Kampf und Niederlage«. Vgl. ebd. p. 341: »,Was hätte aus uns allen werden können, und was ist aus uns geworden!‘ soll Brentanos Klage im Sterben gelautet haben. Die Worte lassen sich auf viele einzelne Romantiker und auf die Bewegung überhaupt anwenden. Sie war voll Hoffnung, Reichtum, Zuversicht, als sie auftrat, sie brachte unübersehbare Fülle von Anregung auf allen Gebieten, aber während sie überall hin Samen streute, hat sie sich keine Denkmäler in reifen Werken gesetzt…«

    Das Leben E.T.A. Hoffmanns

    Auch E.T.A. Hoffmann, einer der späten Romantiker, war durch das Schicksal seiner Gespaltenheit gezeichnet. Er wurde zwischen Traum und Wirklichkeit umgetrieben; sein Leben war von Ruhelosigkeit und Angst erfüllt, und sein Werk ist ein Ausdruck dieses Leidens. Mit heroischem Kraftaufwand kämpfte er sozusagen an zwei Fronten; nach außen den Kampf mit der Realität, um die Existenz; und seine Niederlagen hießen: Armut, Hunger und Krankheit. – Nach innen hatte er sich gegen ein übermächtig andrängendes Unbewußtes zu wehren, das ihn bis an die Grenze des eigenen Abgrundes trieb und in quälende Angst vor dem Wahnsinn versetzte. Dafür sind sein Werk und seine Tagebücher ein erschütterndes Zeugnis.

    Hoffmann wurde 1776 in Königsberg, dem »Paradies der Sonderlinge«⁶, als Sproß einer alten Juristen- und Pfarrersfamilie geboren. Als er vierjährig war, wurde die Ehe seiner Eltern geschieden, und er verlebte eine trostlose Jugend bei seiner Mutter, die wieder in ihr elterliches Haus zurückgekehrt war. In Königsberg besuchte er das Gymnasium und begann auch das Studium der Rechte, da es ihm trotz vielfältiger musikalischer und malerischer Interessen überhaupt nicht in den Sinn kam, einen anderen Beruf zu ergreifen, als den ihm durch die Familientradition vorgezeichneten des Juristen. Daß damals Kant an der Königsberger Universität lehrte, hat ihn nicht interessiert; er hat seine Vorlesungen nie besucht.

    Mit neunzehn Jahren erlebte er seine erste leidenschaftliche Liebe; sie galt seiner Musikschülerin Cora Hatt. Hoffmanns Familie sah die Beziehung zu jener beträchtlich älteren, unglücklich verheirateten Frau nur sehr ungern, und so beschloß der Familienrat die Entfernung des jungen Mannes aus Königsberg. Er wurde zu Verwandten nach Glogau in Schlesien geschickt, wo er seine juristischen Studien beendete. In Berlin bestand er ein ausgezeichnetes Abschlußexamen. In Glogau nahm ihn die bürgerliche Atmosphäre seiner Familie ganz gefangen. Seine hochfliegenden künstlerischen Pläne gab er auf, sogar das Klavier ließ er aus seinem Zimmer entfernen. Er verlobte sich mit seiner gebildeten, etwas älteren Cousine und glaubte sich nun auf dem rechten Wege zu Wohlstand und Bürgerlichkeit. 1799, also mit dreiundzwanzig Jahren, kam er als Assessor an die Regierung nach Posen. Dort verflachte sein Leben in dem lauten Kreise einer oberflächlichen Geselligkeit. Aber sein eigener Dämon bereitete ihm sein Schicksal: für irgend ein Faschingsfest zeichnete er Karikaturen von Militärpersonen und wurde daraufhin zur Strafe in die Verlassenheit eines polnischen Provinz­nestes an der Weichsel versetzt. Die Verlobung mit seiner Cousine hatte er aus nicht klar ersichtlichen Gründen gelöst. Wahrscheinlich wohl aus einem Gefühl, daß noch Anderes, Beunruhigenderes in ihm lebte, das in einer zu wenig spannungsreichen Beziehung sich niemals hätte entwickeln können. Nun heiratete er – fünfundzwanzigjährig – wohl um in seinem Exil nicht völlig allein zu bleiben, ziemlich überstürzt Michalina Rohrer, eine hübsche junge Polin. Die Ehe mit dieser eher einfachen, aber instinktnahen Frau gab Hoffmann die Atmosphäre von Geborgenheit und Wärme, die ihm not tat. Anscheinend mußte Michalina im Laufe der Jahre immer mehr zurücktreten; doch finden sich in Hoffmanns Testament Worte einer letzten Bejahung dieser Lebensbeziehung, die auf ihre Weise alle Schwierigkeiten überdauert hatte⁷. Eine kleine Tochter – das einzige Kind – starb ihnen mit zwei Jahren.

    Die drei Jahre in dem kleinen Städtchen Plock bedeuteten für Hoffmann die Verbannung, und er hörte nicht auf, sich um seine Versetzung zu bemühen. Doch war es gerade dort, in seiner Einsamkeit, wo er den Weg zur Kunst zurückfand. Er schrieb an einen Freund: »… in dieser Abgeschiedenheit steige ich herab oder lieber hinauf in die unbesuchtesten Regionen, wo die Muse ihren geweihten Jüngern das Buch der Geheimnisse aufschlägt. In Prosa so viel: ich studiere mit Eifer die Theorie der Musik …«

    1804 kam für ihn, wie er meinte, die Erlösung durch seine Versetzung nach Warschau, an die dortige preußische Regierung. Aber bereits knapp zwei Jahre später, nachdem Preußen in der Schlacht von Jena geschlagen war, besetzten die Heere Napoleons Warschau, und die dortige preußische Regierung wurde aufgelöst. Damit war Hoffmann stellungslos. Trotzdem blieb er in Warschau, um in der lang ersehnten Ungebundenheit und aller beruflichen Pflichten ledig ganz seiner Musik zu leben, die er bisher nur nebenbei hatte treiben können. Er widmete sich vollständig der von ihm gegründeten »Musikalischen Akademie«, als deren Kapellmeister er tätig war. – Sehr bald wurde aber seine Armut immer drängender, so daß er sich entschloß, nach Berlin zu gehen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Das nächste Jahr verbrachte Hoffmann dort in Armut und Not. Er war nun aus der bürgerlichen Bahn herausgerissen: ehemaliger Regierungsrat und stellenloser Musiker. Aber in seinem kleinen Dachzimmer tauchte er ganz in jene andere Welt, in die der Musik ein, wo er sich weit heimischer fühlte als in der Beamtenwelt des Juristen. Er komponierte damals sechs Hymnen an die Jungfrau Maria.

    1808, mit 32 Jahren, fand er endlich die von ihm ersehnte Anstellung als Künstler. Er wurde Kapellmeister am Bamberger Theater. Dies dauerte aber nicht lange, denn er überwarf sich sehr bald mit dem Direktor und den Schauspielern, verlor die Stelle und mußte nun seinen Unterhalt durch Musikunterricht verdienen, bis er wieder an einem andern Theater unterkommen konnte.

    In Bamberg erfüllte sich sein Schicksal in der leidenschaftlichen Liebe zu der jungen Julia Marc; und unter dem Druck der inneren Not entdeckte er den eigentlich schöpferischen Quell in seinem Innern: es entstanden seine ersten Dichtungen.

    Nach zwei Jahren, als die Julia-Tragödie beendet war, hielt es ihn nicht länger in Bamberg, und er nahm gern die ihm angebotene Stelle als Musikdirektor bei einer Truppe an, die am Theater von Dresden und Leipzig spielte. In Bamberg hatte Hoffmann den Einzug Napoleons erlebt. Die Dresdener und Leipziger Zeit stand ganz im Zeichen der Gefahr und Unruhe, die der entscheidenden Schlacht bei Leipzig vorausging. Dresden selber wurde einmal zum Kampfplatz, und Hoffmann geriet mitten in die Schlacht, wobei er seine Ruhe und Kaltblütigkeit beweisen konnte⁹.

    Die aufreibenden Anforderungen eines Musikdirektors überstiegen auch diesmal wieder die Kräfte seiner sensiblen Künstlernatur. Er entzweite sich auch hier mit dem Direktor der Truppe und kündete die Stelle zu Beginn des Jahres 1814. Inzwischen war er kein Unbekannter mehr, sondern der »Ritter Gluck«, das Märchen vom »Goldnen Topf«, die »Kreisleriana« und die »Fantasiestücke« waren neben seiner Berufsarbeit entstanden und hatten ihn berühmt gemacht. Trotzdem fühlte er sich dem Leben als Künstler mit seinen drückenden Geldsorgen und dem Kampf mit den Verlegern nicht gewachsen, sondern trat den Rückzug an zur bürgerlichen Geborgenheit, die er einst als härteste Fessel empfunden hatte. Was er jetzt ersehnte, war eine möglichst subalterne Stelle als Beamter, die ihn ernährte, und die ihm zugleich Zeit und Kraft ließe für seine künstlerische Arbeit. Der Wunsch, zur Staatskrippe zurückzukehren, wurde ihm erfüllt. Man ließ aber den begabten und tüchtigen Juristen nicht in einer untergeordneten Stelle, sondern er kam zum Kammergericht nach Berlin mit dem Titel »Rat« und mußte sich zu seinem größten Leidwesen wieder in die Akten vertiefen. Die dichterische Arbeit lief nun nebenher, in den Nächten und den häufigen Tagen der Krankheit. Er scheute sich auch nicht, die Müdigkeit und die Erinnerung des Tages mehr und mehr durch Alkoholgenuß zu vertreiben, um seinen inneren Gesichten ganz nahe zu kommen. In Berlin verbrachte er die letzten acht Jahre seines Lebens. Er erlebte dort die Uraufführung seiner Oper »Undine«, ein Ereignis, das für ihn die größte künstlerische Genugtuung bedeutete. Mit dem Schauspieler Devrient verband ihn eine seltsame und innige Freundschaft, die über dem Wein geschlossen wurde, und die ihn zeitweilig über jede menschliche Grenze hinausriß. Die Beziehung zu der Schauspielerin Johanna Eunicke wurde zu einem resignierten und vielleicht tröstlichen Nachklang seiner Leidenschaft. Um aus seinen ewigen Geldnöten herauszukommen, schrieb er hauptsächlich Unterhaltungsliteratur, die ihres unheimlichen und spannenden Charakters wegen einen weiten Leserkreis fand. Zwei Jahre vor seinem Tode, als sein Leben schon ausgebrannt schien durch Krankheit, Trunksucht und eine geradezu ungeheure Arbeitsüberlastung, entstanden noch einmal zwei bedeutende Werke: »Kater Murr« und die »Prinzessin Brambilla«. 1822 starb er, mit sechsundvierzig Jahren, gelähmt, an einem Rückenmarksleiden.

    Die Gegensätzlichkeit im Leben Hoffmanns zwischen Künstlertum und Beamtentum ist die äußere, sichtbarste Schicht seiner tiefen Zerrissenheit und romantischen Heimatlosigkeit. Er manifestierte diese Doppelheit auch noch in seinem Namen, indem er aus dem Ernst Theodor Wilhelm, wie er eigentlich hieß, aus Verehrung für Mozart einen Ernst Theodor Amadeus machte. Mit ersterem Namen Unterzeichnete er amtlich, während letzterer zu seinem Künstlernamen wurde.

    Hoffmanns eigene Worte vom »eisernen Zwang der Wirklichkeit«¹⁰ oder von der »Zentnerlast der Gegenwart«¹¹ sprechen eine deutliche Sprache. Wahrscheinlich ahnte er aber nicht, daß ihn gerade die äußere Mühsal wie mit unzähligen unsichtbaren Fäden an das Leben und an die geordnete Welt der Realität band, aus der ihn sonst seine inneren Gesichte leicht in die Verlockung des eigenen Abgrundes hätten treiben können.

    Die Tragödie seiner Spaltung begann eigentlich schon mit seinen Eltern: denn obwohl sie Vetter und Cousine waren, stellten sie den denkbar größten Gegensatz dar. Der Vater war ein unsteter, etwas exzentrischer Mensch, dessen musikalische Begabung nicht zum echten Künstlertum reichte. Er ertrug die engen Formen des bürgerlichen Lebens nicht und ging später an der Ungebundenheit seiner Boheme-Natur zugrunde. Die Mutter stammte aus einer Familie, die sich angeblich durch »peinliche Ordnungsliebe und höchste Dezenz in allen äußeren Formen« auszeichnete¹². Nachdem die Ehe der Eltern auf Grund dieser Unvereinbarkeit der Lebenseinstellung geschieden war, gab es für das Kind, das in der mütterlichen Familie blieb, nur noch die Atmosphäre einer sterilen Pedanterie innerhalb der wohlgeordneten Ehrbarkeit. Ein so frühzeitig miterlebter Bruch der elterlichen Beziehung schafft keinen Boden, in welchem sich ein Kind verwurzeln kann; denn keine Welt hält stand: weder das väterliche Reich des Geistes und des Bewußtseins, noch die mütterliche Welt der Erde und des Unbewußten. Der Mangel an Geborgenheit und Verwurzelung legt bei einem sensiblen Kind den Grund zu größter innerer Unruhe; das instinktive Mißtrauen in seine eigene Natur treibt es und vertreibt es hier sowohl wie dort, und es entsteht der Zweifel an sich selber und an der eigenen Wirklichkeit. Aus einer solchen Realität kann es sich nur in den Traum flüchten und in der Traumwelt am ungestillten Hunger nach Welt und Leben leiden.

    Mit elf Jahren knüpfte sich ein Faden in Hoffmanns Leben an, der bis zu seinem Tode fortgesponnen wurde: die Freundschaft mit dem etwa gleichaltrigen Theodor Hippel. Sie begann mit den üblichen Knabenstreichen, durchlief dann eine Zeit schwärmerischer Hingabe und wurde von Hoffmann mit unerschütterlicher Treue als eine eher einseitige Beziehung bis zu seinem Tode durchgehalten.

    Hippel war eine ziemlich farblose Persönlichkeit; er wollte sich Hoffmann mehr als einmal entziehen, teils aus innerer Unbeteiligtheit, teils, weil ihn seine kinderreiche Ehe, sein Beruf als Rittergutsbesitzer und später als Vortragender Rat beim Minister Hardenberg viel zu sehr in Anspruch nahm und ausfüllte, als daß er es hätte auf sich nehmen können, den verworrenen Pfaden seines Freundes in das innere Reich und in das Reich der Kunst zu folgen. Hippel selber fühlte wohl auch, daß die Intensität von Hoffmanns Gefühl nicht ihm, dem Menschen, galt, sondern etwas Größerem, von dem er selber nichts ahnte. Die zum Teil überschwänglichen Briefe Hoffmanns an Hippel füllen einen ganzen Band. Als er bereits in die leidenschaftliche Beziehung zu seiner Musikschülerin Cora Hatt verstrickt war, konnte er seinem Freunde schreiben: »… daß Du mich mehr interessierst – Bester, daß Du mir mehr am Herzen liegst als alles Übrige in der Welt, daß ich alles aufopfern möchte, um Dir zu folgen, um mit Dir zusammen den ganzen Umfang des beseligenden Glücks der Freundschaft genießen zu können …«¹³ Solche Worte müssen nur dann höher als eine übliche Jugendschwärmerei gewertet werden, wenn das dahinterstehende Gefühl die Jugend überdauert. Den Beweis dafür liefert Hippel selber in seinen Erinnerungen an Hoffmann. Siebenundzwanzig Jahre nach jenem Briefe besucht er den todkranken Dichter und schildert erschüttert den Trennungsschmerz des Freundes, der ihn nicht gehen lassen kann, und sich schließlich »bitterlich weinend« von ihm verabschiedet¹⁴.

    Das Verbindende zwischen Hoffmann und Hippel mag darin zu suchen sein, daß Hoffmann bei seinem Freund ein Ohr fand für seine Luftschlösser und für die nie endenden Klagen über seine äußeren Bedrängnisse. Hippel half ihm, wo er konnte: er verschaffte ihm die Stelle in Warschau und später diejenige in Berlin. Aber die Wurzel dieser Freundschaft reichte wohl noch tiefer: Hoffmann war an die innere Welt gebunden; aber Hippel, dem von seiner Familie eine glänzende Laufbahn bereitet wurde, fiel die äußere Welt leicht. Er war derjenige, auf den Hoffmann in seinem ungestillten Lebenshunger die Realität projizieren konnte. Hippel bedeutete für ihn jene charakteristische Figur des »Anderen«, mit dem zusammen man zur Ganzheit wird, der die eigene minderwertige Seite verkörpert, und der darum das Geheimnis des Lebens zu besitzen scheint. Hoffmann, der von der Tiefe her angerührt war, konnte sein Gefühl einem solchen Archetypus¹⁵ nicht entziehen; es brach hervor in mächtiger Emotion, während Hippel nichts von solchen Faszinationen und Verstrickungen ahnte.

    Noch einmal – in Berlin – hat in Hoffmanns Leben die Beziehung zu einem Manne eine große Rolle gespielt: die innige und seltsame Freundschaft zu dem congenialen Ludwig Devrient, dem bedeutendsten Schauspieler seiner Zeit. Er wurde als ein Mensch von »unberechenbarer, fast dämonischer Genialität«, von »wüstem, zerfahrenen Wesen« geschildert¹⁶, dabei schwerblütig und kaum aus seiner Schweigsamkeit herauszubringen. Bei seinem Spiel gab er sein Ich völlig auf und identifizierte sich mit der dargestellten Rolle; so konnte es geschehen, daß er manches Mal, wenn er den König Lear spielte, vor dem Dämon seiner Maske und des Wahnsinns dermaßen erschrak, daß er ohnmächtig wurde oder unfähig war, weiter zu spielen.

    In Devrient fand Hoffmann einen Zechgenossen und den gleichen, aus der Welt der Vernünftigkeit herausstrebenden Geist. Beide fühlten sich verloren in der Enge des bürgerlichen Lebens und sprengten seine Grenzen, indem sie sich hemmungslos den Einfällen ihrer Launen und Tollheiten überließen. Wahrscheinlich haben sie es als eine Wohltat empfunden, miteinander in die »Verrücktheit« gehen zu dürfen, in vollem Vertrauen auf die Genialität und den menschlichen Wert des anderen. Als zwei Gleichgesinnte steigerten sie sich in ihrer eigenen Dämonie. Daß sie sich dabei mehr und mehr von den Bezirken der Menschlichkeit entfernten, übersahen sie jedoch, und damit auch die Gefahr, in die sie sich begaben. – Im Gegensatz zu Hoffmann machte sich Devrient sein Leiden nie zum Problem. Er starb wenige Jahre nach seinem Freund, als Mensch und Künstler völlig zerbrochen.

    Hoffmann brauchte diese Freundschaften, um in ihnen Resonanz und Spiegelung zu erleben. Seine eigentliche Tiefe und sein schöpferischer Kern wurden aber durch diese Beziehungen nicht getroffen. Nur einmal schrieb er nach einem schön verlaufenen Wiedersehen mit Hippel im Jahre 1804, also achtundzwanzigjährig, an diesen: »… auf mich hat unser Beysammensein diesmahl mit besondrer energischer Kraft gewirkt; ich fühle mich emporgehoben über die Kleinigkeiten die mich hier umgeben – eine bunte Welt voll magischer Erscheinungen flimmert und flackert um mich her – es ist als müsse sich bald was großes ereignen – irgend ein KunstProdukt müsse aus dem Chaos hervorgehen! – ob das nun ein Buch – eine Oper – ein Gemählde seyn wird – quod diis placebit…«¹⁷ – Es scheint, als ob durch den Freund das Unbewußte in seiner ursprünglich chaotischen Natur konstelliert worden sei; aber es ereignete sich damals gar nichts, und das flimmernde Chaos sank wieder in sich zurück. – Erst fünf Jahre später, kurz vor seinem entscheidenden Erlebnis, hatte Hoffmann eine Vision des Unbewußten, die nun aber wie eine Art Initiationstraum gestaltet war. Er schrieb damals eine kurze Skizze »Ritter Gluck«, in der bereits die faszinierende Atmosphäre Hoffmannscher Seltsamkeiten lebt. Der geisteskranke Musiker und Komponist, der sich selbst für den Ritter Gluck hält, berichtet über das Erlebnis der schöpferischen Gestaltung: »Es ist eine breite Heerstraße, da tummeln sich alle herum und jauchzen und schreien: Wir sind Geweihte! Wir sind am Ziel! – Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume: wenige sehen das Tor einmal, noch wenigere gehen durch! – Abenteuerlich sieht es hier aus. Tolle Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Charakter – eine mehr wie die andere. Sie lassen sich auf der Heerstraße nicht sehen: nur hinter dem elfenbeinernen Tor sind sie zu finden. Es ist schwer, aus diesem Reiche zu kommen, wie vor Alzinens Burg versperren Ungeheuer den Weg. – Es wirbelt – es dreht sich. – Viele verträumen den Traum im Reiche der Träume – sie zerfließen im Traum – sie werfen keinen Schatten mehr; sonst würden sie am Schatten gewahr werden den Strahl, der durch dies Reich fährt; aber nur wenige, erweckt aus dem Traum, steigen empor und schreiten durch das Reich der Träume – sie kommen zur Wahrheit! Der höchste Moment ist da: die Berührung mit dem Ewigen, Unaussprechlichen!«¹⁸

    In dieser Vision hatte sich ihm das Unbewußte mit seiner Fülle, aber zugleich mit seiner Gefahr und der Forderung nach Bewußtmachung offenbart. In dem eigenartigen Bild der körperlosen Gestalten, die in jenem Traum zerfließen, die dem Unbewußten verfallen, war Hoffmann vor sein eigenes Problem gestellt. Es wird uns im Schicksal des Helden aus dem Märchen vom »Goldnen Topf« aufs neue begegnen.

    Es war, als habe ein großes Ereignis seinen Schatten vorausgeworfen, denn etwa ein Jahr später erwähnte Hoffmann in seinem Tagebuch zum ersten Male Julia Marc. Hinter die zweite Eintragung setzte er die unbeholfene Zeichnung eines kleinen Schmetterlings¹⁹. Anscheinend hatte er in diesem Augenblick seine Seele gefunden; er begegnete ihr in einer Projektion.

    Was sich während der folgenden zwei Jahre von außen gesehen abspielte – die äußeren Daten dieser Beziehung – war die banale und traurige Geschichte eines Künstlers, der seine Musikschülerin liebt; diese lernte aber gleichzeitig einen ebenso reichen wie unsympathischen Kaufmann kennen, mit dem sie sich verlobte und den sie heiratete. Was aber in Hoffmann selber – man könnte auch sagen: in Wirklichkeit – geschah, hatte eine psychische Tragweite, die über alle biographischen Notizen und Einzelheiten weit hinausführte. Dieses innere Drama währte bis zu seinem Tode; er hat es in seinem dichterischen Werk niedergelegt, das in den ihm noch verbleibenden zehn Jahren entstand. Hoffmann erlebte in dieser von Anfang an hoffnungslosen Beziehung innere Aufwühlung und Verzweiflung. Sein sonst sehr trockenes Tagebuch wird in jenen Jahren von einem Aufschrei nach dem andern unterbrochen. Immer häufiger findet sich die kleine Zeichnung für Trunkenheit, nämlich ein bald geflügeltes, bald ungeflügeltes Glas, und diejenige für Selbstmordgedanken: eine Pistole, die manchmal in ein Auge zielt. Selbst davon erschreckt schrieb er dazu: »Schon zum zweitenmal das verhängnisvolle Zeichen!!!!«²⁰ Die Angst vor dem Wahnsinn begann ihn zu verfolgen. Schon ganz zu Beginn der Bekanntschaft mit Julia heißt es in seinem Tagebuch: »… exaltirte humoristische Stimmung – gespannt bis zu Ideen des Wahnsinns, die mir oft kommen. Warum denke ich schlafend oder wachend so oft an den Wahnsinn? – …«²¹ Und später: »… exaltirt bis zum Wahnsinn«²² oder: »Ktch bis zum Wahnsinn zum höchsten Wahnsinn … Betrachtungen über das Selbst – dem der Untergang droht – es ist etwas ungewöhnliches noch nicht erlebtes.«²³ Und ein ander Mal in höchster Erregung und fast unleserlich geschrieben: »Das Verderben schwebt über mir und ich kans nicht (vermeiden) –«²⁴

    Aus all der Not und Angst fallen zwei Tagebuchaufzeichnungen heraus; denn sie enthalten den genialen Funken einer Erkenntnis, die für ihn entscheidend wurde und ihm den Weg aus dem Untergang zu finden half. Im Januar 1812 schrieb er: »Es bleibt noch von der gestrigen höchst exotischen Stimmung viel zu bemerken – Ktch – Ktch – Ktch / O Satanas – Satanas – Ich glaube, daß irgend etwas hochpoetisches hinter diesem Daemon spukt, und in so fern wäre Ktch nur als Maske anzusehen – démasquez vous donc, mon petit Monsieur! –«²⁵ Und drei Monate später heißt es: »Erste Spur Rücksichts des Räthsels – die Sphinx hat mich beym Schopf gepackt und wirft mich Bergab Kopfüber in ein verfluchtes SchlammGrab wenn ich nicht rathe – Nach der Auflösung fällt ein Nebelvorhang herab und die Personen hinter demselben werden und wirken poetisch – o ch’aff anno o che smania!«²⁶

    Hoffmann erkannte, daß der Mensch Julia nur die Erscheinung einer ganz anderen Wirklichkeit war, die sich hinter ihr verbarg, und die er die poetische nannte. Das Urbild tauchte hinter der äußeren Realität auf. Damit war er vor das Sphinxrätsel des Menschen gestellt und mußte sich in der Art eines Helden auf die Quest begeben, um die Lösung zu suchen.

    In dieser Aufgewühltheit und mit der Ahnung einer hinter der Geliebten stehenden Wirklichkeit hatte Hoffmann zum ersten Mal den Gegensatz zweier Welten gespürt. Und dieser Gegensatz ist es, der später seinen Erzählungen und Märchen das charakteristische Gepräge gab: die modernen Alltagsmenschen sind bei ihm immer zugleich – oder in Wirklichkeit – auch etwas ganz anderes. Die Kinderfrau ist eigentlich eine Fee, die Apfelfrau vom Markt ist eine Hexe, und der alte Gelehrte ist ein Zauberer, Salamanderfürst und Riesenvogel. Beide Welten – die äußere Realität und die Welt der Bilder – vermischen und trennen sich in dauerndem Wechsel. Aus der Spannung dieser beiden Sphären gestaltet er auch die Beziehung zu Julia in immer neuen Fassungen, in immer neuen Romanen und Erzählungen. Alle seine Gestalten der Feen, Heiligen, Zauberinnen, Schlangen, jungen Mädchen, Sängerinnen usw. entstammen jenem einen Erlebnis. Ein erstes Zeugnis ist das Märchen »Der Goldne Topf«, das ein Jahr nach dem Abschied von Bamberg beendigt war. Es ist, wie sich noch zeigen wird, ein getreues Abbild seiner eigenen äußeren und inneren Erlebnisse. Der Held leidet, wie er, an dem Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit – er liebt ein Mädchen, das ihm in Gestalt eines wunderbaren Schlängleins erscheint – und ist, wie er, geneigt, sich aller Erdenschwere zu entziehen, um sich in der lichten Welt des Traumes zu verlieren. Eine damals an Julia gerichtete Skizze widmete Hoffmann einem körperlosen Hauch: er überschrieb sie »Ombra adorata«.

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