Neuköllner Wut: Kriminalroman
Von Bernd Hettlage
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Buchvorschau
Neuköllner Wut - Bernd Hettlage
Zum Buch
Bedrohtes Idyll Jan Keppler, Inhaber eines Trödelladens und Familienvater in Neukölln, findet in seinem Kleingarten einen Toten, den Baustadtrat Peter Lassner. Was zunächst wie ein Selbstmord aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Lassners Frau ist Kundin bei Keppler, sie bittet ihn, Nachforschungen anzustellen, weil sie der leitenden Kommissarin misstraut. Hat die doch einst ihren Mann wegen Korruption verfolgt. Mit seinem schwulen Freund und gelegentlichen Helfer, dem Journalisten Gerry, beginnt der Trödler zu ermitteln. Schnell gibt es Verdächtige. Es geht um lukrative Bauaufträge, die Umwandlung von Kleingärten in Bauland und um teils lang zurückliegende persönliche Fehden. Es gärt in der Stadt, im Bezirk und auch unter den Verdächtigen. Dann ist Gerry auf einmal verschwunden.
Bernd Hettlage wurde in Karlsruhe geboren und wuchs im Nordschwarzwald auf. Er hat zwei Töchter und lebt mit seiner Familie in Berlin. Hettlage betätigte sich als Antiquitätenhändler, Tennisplatzbauer, Theaterbeleuchter und über 15 Jahre lang als Journalist und Redakteur bei Tageszeitungen und Magazinen. Zahlreiche Reisen nach Asien, vor allem nach Indien, prägten ihn. Seit 2002 lebt er in der gleichen Wohnung im Berliner Bezirk Neukölln, der die Einwohnerzahl und Größe einer mittleren deutschen Großstadt hat. Dort erlebte er die gewaltigen Veränderungen, die dieser Stadtteil in den letzten zwei Jahrzehnten durchmachte, hautnah mit. Heute arbeitet Hettlage als Hörfilmautor und Schriftsteller.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Fiedels / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6292-4
Widmung
Für meine Familie
1.
Donnerstag, 8. März
Da lag ein Toter in unserem Garten. Links vom Tor stand Flieder, rechts breitete sich Gebüsch aus. Darunter ragten Beine hervor. Da lag ein Mensch, offensichtlich ein Mann. Kurzes, volles Haar, heller Trenchcoat, Anzughose, schwarze Halbschuhe.
Mehr war nicht zu erkennen.
Er lag auf dem Bauch und regte sich nicht.
Ich wollte eigentlich nur kurz nach dem Rechten schauen und dann weiter in den Laden. Mich vergewissern, dass weder unsere Hütte noch die Obstbäume beim Sturm vorgestern etwas abbekommen hatten. Der Winter war grau und feucht gewesen, geschneit hatte es dennoch kaum. Meist lag die Tagestemperatur über dem Nullpunkt, und gefühlt regnete es die Hälfte aller Tage. Frostnächte würde es wohl nur noch wenige geben. Jetzt wäre es Zeit, die Bäume zu beschneiden. Aber wir ließen es sein. Mit dem Garten würde es, wie mit der gesamten Anlage, sowieso bald vorbei sein.
Ich weiß nicht, wie lange ich den Mann reglos betrachtete.
Was macht der hier?
Ich war auf eine unbestimmte Art sauer.
Wieso ausgerechnet hier bei uns?
Dann ging ich ein paar Schritte in seine Richtung. Und da entdeckte ich noch etwas. Rechts neben dem Mann, etwa einen halben Meter neben seinem abgewinkelt nach oben zeigenden Arm, lag eine Waffe auf der Erde. Eine Pistole. Ein kleines, kantiges, schwarzes Ding, Typ Automatikpistole mit Magazin.
Dachte ich, der Laie, der so was nur aus Kino und Fernsehen kannte.
Im gleichen Moment bemerkte ich eine Bewegung in meinem Rücken. Nicht direkt in meinem Rücken, eher etwas entfernt. Hinter dem Gartenzaun. Seltsamerweise erschrak ich nicht, ich kam gar nicht darauf, dass mir irgendwie Gefahr drohen könnte. Im Gegenteil, als ich mich umdrehte, sah ich genau die Person, die ich am ehesten erwartet hätte: Frau Breitner.
Ich winkte ihr zu und rief: »Hallo, Frau Breitner.«
Sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
Ausgerechnet Frau Breitner. Aber es war ja klar, außer uns, unserem Nachbarn Miguel und seiner Familie und Frau Breitner kamen nur noch ein paar andere Unentwegte regelmäßig in die Anlage. Die Hälfte der Pächter war schon lange weg und wartete eigentlich nur noch auf die Abstandszahlung. Die anderen trauerten und kümmerten sich nicht mehr um ihre Parzellen. Nur der harte Kern wollte einfach nicht loslassen und sein Stück Grün genießen, solange es ging. Darunter ein paar alte Leute, für die es der letzte Garten ihres Lebens war.
Frau Breitner war um die 60, eine kleine, etwas verhuschte Frau, die nicht zu arbeiten schien. Details ihrer Kleidung, ein Indienschal, eine gelegentliche Pumphose, wiesen darauf hin, dass sie womöglich ein anderer Mensch war, als man im ersten Moment zu sehen meinte. Oder es wenigstens gewesen war. Denn jetzt, in der Gegenwart, raunzte sie unsere Kinder als Tierquäler an, wenn die auf den Wegen der Anlage Schneckenrennen veranstalteten, und nahm ihnen die Tiere weg.
Sonst war sie harmlos.
Ich eigentlich auch, aber jetzt starrte mich Frau Breitner mit schreckensgeweiteten Augen an. Was sagt man in so einem Moment, mit einem Mann, der im Gebüsch des eigenen Gartens liegt, reglos und mit dem Gesicht nach unten, neben sich eine Pistole. »Hab ich auch gerade erst entdeckt«, oder so was. Genau das stimmte ja auch, hörte sich aber komisch an. Wie sie mich so anstarrte, kroch mir auf einmal ein Schauer über den Rücken. Der Mann war wahrscheinlich tot. Er lag in meinem Garten. Und neben ihm befand sich eine Waffe.
»Ich sollte wohl die Polizei rufen«, sagte ich, räusperte mich und ging ein paar Schritte auf Frau Breitner zu. Panisch wandte sie sich ab und hastete davon, nicht in Richtung ihres Gartens, der sich in einer Sackgasse der Anlage befand, sondern zum Ausgang an der Weserstraße.
Wahrscheinlich hätte ich wirklich zuerst so was sagen sollen wie »Ich bin gerade erst gekommen, da lag der in meinem Garten«.
Ich zog mein Handy aus der Jackentasche und wählte mit zittrigen Fingern die 110.
Die Uniformierten kamen zu zweit, eine junge, burschikose Blonde mit Pferdeschwanz und ein älterer, zerknitterter Dunkelhaariger mit Bauchansatz. Zunächst einmal waren sie ganz entspannt. Ich war ja kein Verdächtiger. Ich war ein Zeuge, der einen Toten in seinem Garten gefunden hatte, neben dem eine Waffe lag. Der sogenannte gesunde Menschenverstand sagte, dass wahrscheinlich ein Selbstmord vorlag. Warum der Mann das ausgerechnet in meinem Garten getan hatte, war dann natürlich eine andere Frage. Ob ich ihn kannte, wusste ich nicht. Er lag ja auf dem Bauch, und ich war auch nicht besonders nah an ihn herangetreten.
Jetzt musste ich erst einmal meinen Garten verlassen. Die Blonde ging zum Streifenwagen, der Dunkelhaarige fragte mich nach meinem Ausweis. Zum Glück hatte ich den immer dabei, er steckte in meinem Portemonnaie. Ich hatte alle wichtigen Karten, EC-Karte, Krankenkasse, Kreditkarte, Führerschein, Ausweis und so weiter, immer dabei. Sie steckten in meinem schwarzen Ledergeldbeutel. Das war womöglich gar nicht so schlau, dachte ich manchmal, denn wenn ich den mal verlor oder ihn mir jemand klaute, war nicht nur mein Bargeld weg, sondern gleich alle Papiere. Manchmal, wenn ich abends wegging, ließ ich ihn deshalb zu Hause und steckte nur ein wenig Bargeld in einen kleinen, bunten Stoffbeutel, den ich vor 20 Jahren aus Nepal mitgebracht hatte. Ich kam mir selbst etwas komisch vor, wenn ich den in einem Neuköllner Späti oder einer Kreuzberger Kneipe aus der Tasche zog. Aber so oft geschah das auch nicht. So oft ging ich abends gar nicht mehr weg. Mit Mitte 40 und zwei kleinen Kindern macht man das nun mal eher selten.
Ich zog gerade meinen Ausweis hervor, der Dunkelhaarige hielt eine Kladde und einen Kugelschreiber in der Hand, da stürmte eine weitere Streifenwagenbesatzung auf das Gelände. Stürmen war der richtige Ausdruck. Während die ersten beiden gemächlich herbeigeschlendert waren, kamen die beiden vom anderen Eingang mit gezogenen Waffen angerannt. Als sie ihren Kollegen erkannten, blieben sie stehen, sahen mit den Pistolen in der Hand und einem energischen, grimmigen Gesichtsausdruck aber immer noch sehr martialisch aus.
Wahrscheinlich lernen sie so was in der Ausbildung.
»Uns ist ein Mord gemeldet worden. Der Verdächtige soll noch in der Anlage sein«, sagte ein Blonder mit rotem Kopf. Wild entschlossen blickte er sich um. Wir standen ja außerhalb meines Gartens, auf dem Weg davor, wahrscheinlich sah er den Toten deshalb nicht.
»Uns ist ein Toter gemeldet worden. Neben dem liegt eine Waffe. Der Garteninhaber hat ihn gefunden«, erwiderte ruhig der Dunkelhaarige.
Er zeigte auf mich.
Mir war sofort klar, wer den Mord gemeldet hatte. Frau Breitner. Und ich wusste auch, wen sie mit dem »Verdächtigen« gemeint hatte.
Sollte ich was sagen?
Wahrscheinlich musste ich es, sonst würden sie gleich durch die Anlage hetzen, auf der Suche nach einem Mörder. Bei so was konnte es ja schnell mal Kollateralschäden geben.
Oh je, das roch nach noch mehr Ärger. Warum musste Frau Breitner auch auftauchen, bevor ich den Toten gemeldet hatte und die Polizei eingetroffen war?
»Also«, hob ich an. Die drei Uniformierten musterten mich wachsam. Die Blonde war noch nicht wieder aufgetaucht.
Ich wusste nicht, ob ich noch Zeuge war oder schon so eine Art Verdächtiger. Aber wofür? Es lag doch wohl ein Selbstmord vor.
Die Kripo war inzwischen da. Mein Garten war mit einem rot-weißen Plastikband abgesperrt. Männer in weißen Ganzkörperanzügen bevölkerten ihn. Die Spurensicherung. Der Tote lag immer noch da, wie ich ihn gefunden hatte, soweit ich das beurteilen konnte. Die Chefin vor Ort war Hauptkommissarin Sylvia Neidel von der Mordkommission, eine kleine, schlanke Blonde in meinem Alter mit halblangem Haar und einem eigentlich hübschen Gesicht, das jedoch von zwei tiefen Furchen um den Mund und müden Augen mit dicken Tränensäcken beherrscht wurde. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Sie hatte sicher keinen angenehmen Job. Und hübsch waren wir alle mal mehr oder weniger gewesen. Aber mit Mitte 40 sieht man halt anders aus, wenn man sich nicht hegen und pflegen kann wie David Beckham oder Mick Jagger oder was weiß ich wer.
Meinen Pass überprüfte ihr Partner, auch ein Kommissar. Lars Kramer hieß er. Vielleicht zehn Jahre jünger als wir, groß, schlank, brauner Lockenkopf, ausgeprägtes Kinn. »Meine« beiden Streifenpolizisten waren auch noch da, die beiden anderen waren abgezogen. Sie standen in meiner Nähe, als würden sie aufpassen, dass ich nicht abhaute. Immerhin: Handschellen hatte mir noch keiner angelegt.
Kramer führte mich zu einem Kleinbus außerhalb der Anlage. Er telefonierte und gab wahrscheinlich meine Daten durch. Ich war nicht vorbestraft und hatte noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Außer mit 20 in Portugal, als ich mit meiner damaligen Freundin an der Algarve von einem Polizisten in Badehose einen Strafzettel wegen unerlaubten Nacktbadens verpasst bekam. Wir lagen nackt in einer Mulde etwa 200 Meter vom Wasser entfernt und fühlten uns relativ sicher, als dieser Schnurrbartträger in Badehose und Umhängetasche direkt auf uns zukam. Wir dachten an einen Spanner oder Schlimmeres, hätten aber niemals einen Polizisten erwartet. Sonst hätten wir uns natürlich was angezogen. Aber ein dummer Spanner konnte uns mal. Umgerechnet 30 Mark hatte uns der Spaß gekostet. Wenigstens hatte er uns nicht beim Kiffen oder Sex erwischt, was beides damals durchaus drin gewesen wäre.
Kramer kam gerade mit meinem Pass zurück, als Neidel aus der Anlage auf ihn zumarschierte. Sie flüsterte ihm etwas zu, das ihn zu überraschen schien. Er straffte sich. Die Uniformierten nahmen unwillkürlich Haltung an.
Neidel kam auf mich zu.
»Herr Keppler, wissen Sie, wer da in Ihrem Garten liegt?«
»Ne, keine Ahnung.«
Zur Bekräftigung zuckte ich mit den Achseln.
Sie sagte dann aber nicht gleich, wer es war. Das war bestimmt so ein Verhörtrick.
Stattdessen fragte sie mich nach unserer Anlage aus.
»Die Kolonie ›Gartenschön‹ ist doch gekündigt, oder? Sie sollen zur Jahresmitte alle raus. Ist das richtig?«
Ich nickte, gleich misstrauisch geworden. Was wollte sie?
»Und Sie haben dagegen geklagt, also Ihr Verein und auch der Bezirksverband der Kleingärtner?«
Sie formulierte es als Frage, aber es war klar, dass sie das alles wusste.
»Ja«, sagte ich, damit ich nicht immer nur nickte.
»Soll Bauland hier werden, nicht wahr?«
Ich zuckte wieder mit den Achseln. So wortkarg war ich sonst gar nicht, im Gegenteil, ich war ein guter Verkäufer, immer für einen lockeren Schwatz mit den Kunden zu haben. Aber ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
Ich war wachsam.
»Macht Sie das wütend?«
Ich schnaubte.
»Ich hab’ keine Ahnung, warum Sie das alles fragen, aber Sie werden es schon wissen. Ja, das macht mich wütend. Aber dagegen machen können wir ja sowieso nichts.«
Ich sah sie an. Ich hätte hinzufügen können, dass wir in allen Instanzen verloren hatten, aber bis zuletzt wenigstens um eine Duldung für die nächsten zwei Jahre gekämpft hatten, bis die Bautätigkeiten auf unserem Gelände wirklich losgehen würden. So was dauert in Berlin ja immer einige Zeit. Bevor unsere Anlage dann zwei Jahre brach lag, konnten wir doch genauso gut zwei Jahre länger bleiben. Und manchmal ging es am Ende gar nicht los und Projekte scheiterten, bevor sie begonnen wurden. Auch das war möglich. In Berlin sowieso.
Diese Duldung allerdings hatte uns das arrogante Arschloch von Neuköllner Baustadtrat verwehrt. Aus allen möglichen persönlichen, aber gewiss nicht ehrenwehrten Motiven. Er galt als Kleingartenhasser. Außerdem konnten er und der Vorsitzende unseres Bezirksverbands sich nicht ausstehen. Diplomaten waren sie wohl beide nicht.
Dies und noch mehr hätte ich Frau Neidel erzählen können. Zum Glück hielt ich den Mund.
»Und der Verantwortliche dafür, dass Sie rausmüssen, wer ist das?«
Ich zuckte noch mal mit den Achseln.
»Ach kommen Sie, Herr Keppler, wir wissen es beide, oder?«
Ich sah sie wieder an.
»Da stecken sicher vielfältige Interessen dahinter und wer genau das nun veranlasst hat, weiß ich nicht«, antwortete ich und meinte es genau so. Wer weiß, wer da alles sein Interessensüppchen kochte. Aber wer von Bezirksseite aus mit uns verhandelt hatte, war klar. Ich sagte es ihr: »Unser Ansprechpartner beim Bezirk war der Baustadtrat, Herr Lassner.«
»Und eben der liegt jetzt tot in Ihrem Garten«, sagte sie und fixierte mich.
Es würde länger dauern, das war schon mal klar.
Draußen an der Straße untersuchten sie mich in dem Kleinbus auf Schmauchspuren. Dazu klebten sie mir die Hände und Ärmel und alles Mögliche andere mit Folien ab.
Alles Routine, sagte Kramer zu mir und wiederholte auf Nachfrage, dass ich kein Verdächtiger, sondern nur ein Zeuge sei.
Wann ich denn dann gehen könne? Er schürzte die Lippen und sah mich scheinbar bedauernd an. Das könne er leider noch nicht sagen. Ich müsse aber auf jeden Fall eine Aussage machen. Ob ich das jetzt hier im Bus oder lieber morgen bei der Mordkommission machen wolle? Dazu müsse ich aber in die Keithstraße nach Tiergarten kommen. Er sagte dass in einem Tonfall und mit einer Mimik, als wisse er, dass das für jemand in Neukölln Ansässigen natürlich wie eine Reise auf einen unbekannten Kontinent war. Quasi unzumutbar.
Hatte er denn noch nicht mitbekommen, was hier im Kiez los war? Die Klientel hatte sich in den letzten Jahren komplett verändert. Nordneukölln wurde weltweit in allen Stadtmagazinen gehypt, ganz zu schweigen von den Bordmagazinen der Billigflieger. Und die Mietpreise hier waren wahrscheinlich längst höher als in Charlottenburg. Oder Prenzlauer Berg. Aber natürlich immer noch viel günstiger als in New York, San Francisco, London, Paris oder Rom. Weswegen von dort ja auch alle zu uns kamen.
Für das, was man dort für ein möbliertes Zimmer bezahlte, bekam man hier eine 70-Quadratmeter-Altbauwohnung mit Balkon. Noch. Vor fünf Jahren wären es 100 Quadratmeter gewesen. Und vor zehn Jahren hätte die Wohnung die Hälfte gekostet.
Ich selbst sah allerdings nicht wie ein kalifornischer oder spanischer Hipster aus. Ich hatte weder einen Vollbart noch ein kariertes Hütchen auf, wie sie früher im Fond eines Opels lagen, um Klopapierrollen zu verhüllen. Ich trug kein Karohemd, keine hautengen Hochwasserhosen und auch keine Jutetasche in der Hand, geschweige denn schwarze Scheiben in Mühlensteingröße in den Ohrläppchen.
Ich sah eher wie ein Neuköllner alter Schule aus: leicht schmuddelige Jeans, Kapuzenpulli, drüber eine Steppweste, dazu unrasiert und angegraut.
Aber ungelogen: Vor 20, 25 Jahren war ich auch ultracool gewesen, ganz vorne mit dabei. Meiner Meinung nach jedenfalls. Und der meiner damaligen Freunde. Heute klang das eher wie: »Opa erzählt vom Krieg.« Da musste ich mir nichts vormachen.
»Wenn das hier noch länger dauert, müsste ich mal telefonieren«, sagte ich zu Kramer. »Ich hab nämlich einen Laden, der normalerweise um 14 Uhr öffnet. Da muss ich meine Aushilfe anrufen, ob der das übernehmen kann.«
Es war schon halb zwei, ich musste mich sputen, wenn ich Gerry noch rechtzeitig erreichen wollte.
»Was denn für’n Laden?«, fragte Kramer, als ob er das gar nicht glauben könne.
»Antiquitäten«, sagte ich. Hätte ich Trödler gesagt, hätte er sich wahrscheinlich so einen Neuköllner Krimskrams-Laden vorgestellt. Mit so etwas hatte mein Laden allerdings nichts zu tun. Was konnte er schon davon wissen, dass ich europa-, teils sogar weltweite Kontakte zu Sammlern unterhielt? Trotz oder vielleicht sogar wegen des Wortes »Antiquitäten« hob er die Brauen, verkniff sich dann aber jeden Kommentar. Ich war schließlich ein Zeuge und kein Verdächtiger. Jedenfalls vorläufig.
Verdächtig für was überhaupt? Wegen Anstiftung zum Selbstmord? Denn darum drehte es sich hier ja wohl.
Oder?
Das fragte ich Kramer aber nicht. Ich glaube nämlich nicht, dass er mir das verraten hätte. Wahrscheinlich wussten sie es selbst noch gar nicht.
Und wieso hatte sich Lassner ausgerechnet in meinem Kleingarten ums Leben gebracht?
Hätte er das nicht bitte bei Frau Breitner tun können, dachte ich gehässig.
Zum Glück konnte mir keiner in den Kopf gucken.
Ob es so weit irgendwann mal kommen würde? Gedankenkontrolle und so weiter?
Vielleicht, wenn sie irgendwann Minicomputer unter die Haut einpflanzen. Und Kontaktlinsen mit Verbindung zu diesem Computer auf die Pupillen setzen statt so klobiger Virtual Reality Brillen. Und das Ganze übers Gehirn vernetzen.
Gruselige Vorstellung. Für mich jedenfalls.
Wer weiß, wie weit sie damit schon waren?
Ich holte mein Smartphone aus der Westentasche. Würde dann auch schon wieder überflüssig sein.
Gerry ging nach dem dritten Klingeln ran.
»Sag mal, kannst du gleich den Laden für mich aufmachen?«
»Was ist los?«
Ich sah Kramer an, der zwei Meter entfernt stand. Ich wusste gar nicht, was ich sagen durfte und was nicht. Na ja, fragen würde ich sie das nicht. Und wenn sie mir keine weiteren Anweisungen gaben, würde ich Gerry und Simone nachher alles erzählen, was ich wusste.
Jetzt aber, in Hörweite der Kripo, hielt ich mich zurück.
»Kann ich dir jetzt nicht sagen, aber ich kann nicht weg. Ich hab keine Ahnung, wie lange das dauert. Sorry, aber es wär echt super, wenn du das machen könntest.«
»Uihh, du machst es aber geheimnisvoll. Auf der Jagd, oder was?«
Damit meinte er die Jagd nach Sammlerstücken, nicht nach irgendwelchem Wild.
»Wie gesagt, ich kann jetzt nix sagen.«
»Na dann.« Er grinste hörbar. »Ausnahmsweise kein Problem. Ich sollte ja heute sowieso vorbeikommen. Wir wollen doch die Anrichte für Frau Lassner fertigmachen. Die soll doch nächste Woche endlich geliefert werden.«
Scheiße.
Das hatte ich ganz vergessen. Mir wurde augenblicklich heiß und kalt zugleich. Hoffentlich sah man mir das nicht an.
»Jaa«, sagte ich, »stimmt, du hast recht.«
»Dann mach ich mich da schon mal ran, oder?«
»Jaa.«
Er grinste hörbar, sagte, nein, flötete: »Na, dann, bis später«, und legte auf.
Ich atmete durch – nicht zu tief, damit es nicht auffiel – und sammelte mich.
Die Anrichte von Frau Lassner. Ja. Die schöne Art-Déco-Anrichte aus Brüssel. Die machte mich nervös. Aber die musste ich erst einmal ganz weit wegschieben.
2.
Donnerstag, 8. März, nachmittags
Es dauerte noch zwei Stunden, bis mich die Kripo endlich wegließ. Neidel und Kramer hatten mich in dem Kleinbus vernommen. Wir hatten uns zu dritt an eine Art Campingtisch gezwängt. So nah wollte ich den beiden körperlich eigentlich nicht kommen, aber da ließ sich nun nichts machen. Am nächsten Tag in die Keithstraße fahren zu müssen, darauf hatte ich nun gar keine Lust.
Sie wollten alles bis ins kleinste Detail geschildert bekommen. Wann ich wie wo warum in den Garten gekommen war, was ich dort wahrgenommen hatte, wann wie wo ich Lassner das erste und zum letzten Mal gesehen hatte, ob es darüber hinaus irgendwelche Kontakte zu ihm gegeben hatte, wann Frau Breitner aufgetaucht war, was ich zu der gesagt hatte und so weiter. Sie machten das gar nicht mal besonders interessiert, es klang eher routiniert. So gründlich gingen sie wahrscheinlich nur vor, weil es um einen offiziellen Würdenträger ging, da durften sie sich keine Nachlässigkeiten erlauben.
Ich linste zwischendrin immer mal wieder auf die Straße, ob irgendwelche Leute vorbeikamen, die mich kannten, womöglich gar Kunden, obwohl das eher unwahrscheinlich war. Zwar hatte ich durch die vielen neu Zugezogenen und auch durch die Touristen viel mehr Laufkundschaft als früher im Laden, das brachte mir auch tatsächlich etwas ein, aber die eigentlichen, existenzsichernden Geschäfte machte ich per Smartphone oder Notebook. Die Kunden kamen dann, so sie tatsächlich in Berlin wohnten oder zu Besuch waren oder eigens wegen des gewünschten Teils nach Berlin reisten, gezielt und nach Verabredung in meinen Laden. Den anderen schickte ich Pakete. Manchmal – besonders, wenn es um teure Objekte ging – traf man sich irgendwo in Deutschland oder sogar im benachbarten Ausland anlässlich einer großen Auktion oder eines großen Flohmarktes, eines Sammlertreffens oder auch ohne weiteren Grund als den Austausch der Ware. Natürlich gegen Bargeld. Alles, was nicht über mein Konto oder das meiner Geschäftspartner ging, war willkommen. Ich zahlte schon genug Steuern, fand ich. Meine Geschäftspartner fanden das auch. Ich meine, was ihre Steuern betraf, nicht meine. Und die privaten Kunden hatten meist genug Schwarzgeld, das sie auf diese Weise gut anlegen konnten.
Während des Verhörs ratterte auf einer zweiten Ebene die ganze Zeit mein Verstand. Musste ich ihnen was von meinen Geschäften mit Frau Lassner erzählen? War es nicht besser, gleich damit rauszurücken? Aber hatte das was mit dem Selbstmord zu tun? Und mit Lassner direkt hatte ich ja nie zu tun gehabt. Seine Frau war meine Kundin. Das Geld gab immer sie mir und zwar ebenfalls in bar. Wer weiß, was die an Schwarzgeld hatten und woher das kam? Korrupte Baustadträte hatte es in Berlin schon einige gegeben, wenn mich meine Erinnerung nicht trog. Und jetzt, wo in Berlin Grundstücke und Immobilien boomten und die Preise explodierten?
Ich hatte in den letzten fünf Jahren bestimmt ein halbes Dutzend Geschäfte mit Frau Lassner gemacht. Zweimal war ich dabei mit Gerry bei Lassners zu Hause gewesen, um etwas auszuliefern, und einmal war sogar der Baustadtrat selbst anwesend gewesen. Aber außer ein, zwei Floskeln hatten wir nichts miteinander geredet und er hatte mich auch nicht als einen der gekündigten Parzellenpächter identifiziert. Wie denn auch, ich hatte als Kleingärtner nie direkt etwas mit ihm zu tun gehabt, die Verhandlungen hatten immer unser Vorstand und der Bezirksverbandsvorsitzende geführt.
Ich hatte sowieso den Eindruck, dass Lassner selbst sich nicht groß für die Ankäufe seiner Frau interessierte. Dass er ihr das alles mehr oder weniger überließ. Sie erwähnte ihn eigentlich nie, wenn wir miteinander Kontakt hatten.
Das letzte Geschäft mit Frau Lassner war eben jene besagte Anrichte, die noch den letzten Schliff erhalten sollte und seit Wochen bei mir in der Werkstatt im Hinterzimmer des Ladens herumstand. Warum hatte ich das Ding nur nicht schon früher fertig gemacht? Jetzt wollte sie es bestimmt nicht mehr haben. Obwohl, die Hälfte war ja schon angezahlt, 900 von 1.800 Euro. Schlimmstenfalls wollte sie die Anzahlung zurückhaben. Das Geld würde sie auch bekommen, wenn sie es verlangte. Kundenkulanz war immer besser, als auf einem einmaligen Geschäft zu bestehen. So was sprach sich herum.
Sollte ich es nun den Polizisten erzählen oder lieber doch nicht?
Während ich hin und her überlegte, war die ganze Prozedur schließlich vorbei.
Es könne sein, dass man noch einmal auf mich zukäme, sagte Frau Neidel und sah mich streng an. Sie klang, als käme sie aus dem Rheinland. Ein eher weicher, geschmeidiger Tonfall, der ihre Worte aber auch nicht angenehmer machte.
»Wann können wir denn wieder in den Garten?«, fragte ich.
»Kann man noch nicht sagen«, antwortete Kramer.
»Ich meine, ein, zwei Tage oder eher eine Woche?«
Er zuckte die Achseln. Neidel sah aus, als wollte sie etwas dazu sagen, ließ es dann aber sein.
Und wie wollen sie verhindern, dass jemand den Garten betritt, dachte ich, fragte es aber nicht. Ich wollte erst einmal einfach nur weg und ihnen keinen Grund geben, sauer auf mich zu sein und mich noch länger festzuhalten.
Ich ging, bevor die Leiche abtransportiert war. Der tote Baustadtrat lag immer noch in meinem Garten.
Irgendwie hatte ich weiche Knie, als ich mich aufs Fahrrad setzte und zum Laden fuhr.
Na ja, war auch kein Wunder.
Mein Laden lag auch in der Weserstraße, nur ein paar Hundert Meter weiter in Richtung Hermannplatz, aber noch vor der Fuldastraße. Früher war das ein komplett totes Eck gewesen. Abends waren die Straßen leer und tagsüber zwar alle möglichen Leute hier, aber bestimmt keine Kunden eines Antiquitätenladens unterwegs. Aber ich lebte ja, wie schon gesagt, nicht unbedingt von Laufkundschaft.
Dafür war die Miete spottbillig und ich hatte mir viele Jahre lang keine Sorgen um eine Mieterhöhung machen müssen. Das hatte sich inzwischen geändert. Ich hatte zum Glück, kurz bevor der Neukölln-Hype so richtig losging, einen neuen Zehn-Jahres-Vertrag zu nur geringfügig erhöhter Miete unterschrieben. Inzwischen könnte man für den Laden das Doppelte an Miete erzielen. Wenn man eine Kneipe oder ein Restaurant daraus machte, wahrscheinlich sogar das Dreifache.
Was kam, wenn der Vertrag auslief? Keine Ahnung. Vielleicht musste ich mit dem Laden nach Spandau oder Reinickendorf umziehen. Oder